3. KAPITEL
Carol Girard
Carol Girard hätte es nie für möglich gehalten, dass schwanger zu werden so schwierig sein könnte. Ihre Mutter hatte diesbezüglich offensichtlich keine Probleme gehabt – Carol und ihr Bruder Rick wurden im Abstand von zwei Jahren geboren.
Vor ihrer Hochzeit hatten Doug und Carol bereits davon gesprochen, eines Tages eine eigene Familie haben zu wollen. Wegen Carols anspruchsvollem und forderndem Job in einer angesehenen Immobilienfirma wollte Doug sichergehen, dass sie sich ebenso sehr nach einer Familie sehnte wie er. Er hatte sie gefragt, ob sie bereit wäre, ihre Karriere für einige Jahre zurückzustellen, um sich um die Kinder zu kümmern. Ihre Antwort war ein uneingeschränktes Ja. Babys hatten für sie immer dazugehört. Sie sah sich in ihren Träumen von der Zukunft stets als Mutter, und sie erachtete Kinder als einen wichtigen Teil ihres Lebens. Doug würde ein toller Vater sein, und sie liebte ihren Mann über alles. Sie wollte die Mutter seiner Kinder sein.
Während sie ihr Mittagessen in der Mikrowelle erhitzte, betrachtete sie versonnen die Küche ihrer Eigentumswohnung im sechzehnten Stock eines Hochhauses. Von hier aus hatte man einen einmaligen Blick auf die Bucht.
Carol hatte ihre Stelle vor nunmehr einem Monat gekündigt – und schon jetzt fühlte sie sich rastlos und ungeduldig. Sie hatte die Immobilienfirma verlassen, um ihrem Körper Ruhe zu gönnen. Er sollte sich von der täglichen Routine und dem Stress erholen. Doug hatte sie davon überzeugt, dass die Anspannung in ihrem Job der Grund war, warum sie bisher noch nicht schwanger geworden war. Ihr Gynäkologe hatte diese Möglichkeit bestätigt. Unzählige erniedrigende Tests, die Doug und sie über sich ergehen lassen mussten, hatten dann aber ergeben, dass neben ihrem fortgeschrittenen Alter von siebenunddreißig Jahren bei ihr eine körperliche Störung vorlag. Sie bildete Antikörper gegen das Sperma ihres Mannes.
Das Telefon klingelte. Bevor es zum zweiten Mal läutete, war sie bereits aufgesprungen und hatte sich schnell den Hörer geschnappt.
“Hallo”, sagte sie fröhlich und freute sich, endlich mit jemandem sprechen zu können – selbst wenn es nur ein Vertreter sein sollte.
“Hallo, Liebling! Ich habe mich gefragt, ob du wohl noch zu Hause bist.”
Sie erstarrte. “Sollte ich irgendwo anders sein?”
Doug lachte leise. “Ich dachte, du wolltest heute Nachmittag einen Spaziergang machen.”
Das war etwas, das von einem der zahllosen Bücher vorgeschlagen wurde, die sie lasen. Carol hatte daraufhin entschieden, dass sie sich körperlich mehr betätigen musste. Und da sie ja nun zu Hause war, hatte sie genügend Zeit, sich draußen an der frischen Luft zu bewegen. Das gehörte alles zu der Abmachung, die sie diskutiert und getroffen hatten, bevor sie ihren Job aufgab.
“Richtig. Ich wollte mich gerade fertig machen und losgehen.” Sie warf einen Blick auf die Mikrowelle und drehte ihrem wartenden Essen den Rücken zu.
“Carol? Ist alles in Ordnung mit dir?”
Ihr Ehemann bemerkte ihre Stimmung, ihre Niedergeschlagenheit und Sorge. Doug hatte recht, als er ihr vorschlug, die Arbeit zu kündigen. Sie beide hatten Angst, denn es bestand die Möglichkeit, dass Carol niemals eine Schwangerschaft zu Ende bringen würde. Es half auch nicht, dass es noch die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung gab. Die Versicherung zahlte nur für drei Versuche – die ersten zwei waren bereits gescheitert. Künstliche Befruchtung oder IVF, In-vitro-Fertilisation, waren für sie der letzte Ausweg. Die letzte Hoffnung der beiden, doch noch ein leibliches Kind zu bekommen. Im Juli würde ihr letzter Versuch stattfinden. Danach mussten sie für die Kosten selbst aufkommen. Als sie darüber nachdachten, die Chance der künstlichen Befruchtung zu nutzen, hatten sie sich darauf geeinigt, nur diese drei Versuche zu wagen. Falls sie dann noch nicht schwanger wäre, würden sie mit dem Adoptionsverfahren beginnen. Und die emotionale Belastung der ersten fehlgeschlagenen Befruchtungen zeigte deutlich, dass sie beide diesen Druck nicht lange würden aushalten können. Zweimal war eine befruchtete Eizelle eingesetzt worden, und zweimal hatte Carol eine Fehlgeburt erlitten. Kein Paar dieser Welt konnte dieses Leid noch häufiger ertragen.
Carol und Doug redeten nicht darüber, dass diese künstliche Befruchtung ihre letzte Chance war. Aber der Gedanke daran beherrschte beide tief in ihrem Inneren. Es war so wichtig, dass sie schwanger wurde – und schwanger blieb.
Sie war bereit, alles dafür zu tun, was in ihrer Macht stand. Sie war bereit, ihren geliebten Job aufzugeben, bereit, während der unzähligen Tests malträtiert und erniedrigt zu werden. Sie war bereit, ihre Zweifel zu besiegen, alle emotionalen Höhen und Tiefen zu meistern – alles für das Baby. Dougs Baby.
“Ich liebe dich, mein Herz.”
“Ich weiß.” Obwohl sie es scheinbar gedankenlos dahersagte, wusste sie es. Doug liebte sie. Er stand ihr während der gesamten schmerzhaften und langwierigen Prozedur zur Seite, ging mit ihr zu unterschiedlichen Ärzten, unterzog sich Tests, weinte mit ihr und ertrug gemeinsam mit ihr die Rückschläge, die Wut und die Trauer. “Eines Tages wirst du dein eigenes Kind in den Armen halten, und dann wissen wir beide, dass es all das wert war.” Sie hatten sich sogar schon Namen für das Kind überlegt. Wenn es ein Junge wäre, sollte er Cameron heißen, und falls sie ein Mädchen bekämen, würden sie es Colleen nennen. Carol hatte manchmal das Gefühl, ihr Kind schon anschauen und spüren zu können. Sie wusste genau, wie es sich anfühlen würde, die Freude und den Stolz im Blick ihres Mannes zu sehen.
Diese Vorstellung ließ sie die schwierigen, belastenden Phasen der IVF leichter ertragen.
“Wann wirst du zu Hause sein?” Früher hatte sie diese Frage nicht sonderlich interessiert, doch nun bestimmten seine Arbeitszeiten ihren Tagesablauf. Jeden Nachmittag warf sie sehnsüchtige Blicke auf die Uhr. Sie fragte sich, wie viele Stunden, Minuten noch vergehen würden, bis Doug endlich heimkam.
“So wie immer”, versprach er.
Ihr Ehemann, mit dem sie seit sieben Jahren verheiratet war, arbeitete als Antragsprüfer für eine Versicherung. Sie hatte in ihrem Job mehr verdient als er. Mit ihrem Gehalt konnten sie eine beträchtliche Anzahlung auf die Eigentumswohnung leisten, in der sie jetzt lebten. Als sie heirateten, hatte ihr kluger und bescheidener Mann darauf bestanden, ihren Lebensstandard so auszurichten, dass sie allein von seinem Gehalt leben konnten. Er befürchtete, dass sie sonst auf Carols Einkommen angewiesen sein würden. Der Plan, eine eigene Familie zu gründen, hätte sonst daran scheitern können. Nach ihrer Hochzeit warteten sie noch drei Jahre, um sich ein finanzielles Polster zu schaffen. Das sollte sich als eine gute Entscheidung entpuppen. Denn selbst mit der Unterstützung durch die Versicherung waren die Kosten für eine künstliche Befruchtung horrend.
“Habe ich schon mal erwähnt, wie furchtbar das Fernsehprogramm tagsüber ist?”, fragte sie.
“Dann schalte doch den Apparat aus und mach einen Spaziergang.”
“Jawohl, Sir”, erwiderte sie in einem gespielt unterwürfigen Ton.
Er lachte. “Bin ich wirklich so schlimm?”
“Nein. Es ist nur – nicht mehr zu arbeiten habe ich mir irgendwie ganz anders vorgestellt.” Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Leben zu Hause endlose Stunden Langeweile bedeutete. Oder den verzweifelten Versuch, sich abzulenken, bis ihr Mann endlich wieder da war. Bisher hatte sie ständig an irgendwelchen Meetings teilgenommen oder schwerwiegende Entscheidungen getroffen. Sie war es gewohnt, immer unter Strom zu stehen. Allein zu Hause zu sein war eine völlig neue Erfahrung für sie – und keine, die sie genoss.
“Soll ich vielleicht später mit dir zusammen rausgehen?”
“Nein, alles okay. Du hast recht. Ich sollte kurz an die frische Luft. Es ist so ein wundervoller Nachmittag.” Kein Fleckchen auf der Erde war schöner als Seattle, wenn die Sonne schien. Es war ein perfekter Maitag, und sie betrachtete versonnen die schneebedeckten Olympic Mountains in der Ferne und das blaugrüne Wasser der Puget-Sound-Bucht zu ihren Füßen.
“Ich sehe dich dann gegen halb sechs”, sagte er.
“Ich werde da sein.” Bevor sie die Immobilienfirma verlassen hatte, war Doug immer als Erster zu Hause gewesen. Er hatte das Essen gekocht. Und er hatte den Fernseher angeschaltet, um die Lokalnachrichten zu verfolgen. Carol hatte keine Mühe gehabt, diese Rolle zu übernehmen. Nun war diese tägliche Routine einer der interessanteren Parts in ihrem Leben.
Sie stellte ihr Essen in den Kühlschrank und schnappte sich auf ihrem Weg nach draußen einen Apfel.
Carol nahm den Aufzug und fuhr runter ins Foyer des Gebäudes. Sie ging durch die Glastür und trat nach draußen auf den Bürgersteig. Während sie ihren Apfel aß, lief sie in Richtung Wasser.
Alle Kollegen im Büro hatten Carol gewarnt. Sie erzählten ihr, dass Frauen, die nicht arbeiteten – vor allem Mütter –, ständig mit ihrem Gewicht zu kämpfen hätten. Viel in der Küche und stets mit Essen konfrontiert zu sein machte es unmöglich, schlank zu bleiben – das sagten jedenfalls ihre ehemaligen Mitarbeiter. Aber das war kein Problem für Carol. Nie zuvor hatte sie gesünder gegessen als im Moment. Die Ernährung war ein wichtiger Teil ihres Lebens, und sie schaffte es mühelos, ihre Kleidergröße zu halten.
Eine kühle Brise wehte vom Wasser herüber, als sie den vertrauten Weg entlangspazierte. Aus einer Laune heraus änderte sie die Richtung und stieg Pill Hill hinauf, wo sich das Virginia Mason Hospital und das Swedish Medical Center befanden. Sie war völlig außer Atem, als sie den steilen Anstieg hinaufgeklettert war. Langsam ging sie weiter und sah sich in der Gegend um, bis sie irgendwann in die Blossom Street einbog.
Einige der Häuser wurden gerade saniert. Die Straße war abgesperrt, aber den Bürgersteig konnte man benutzen. Auf der einen Seite der Blossom Street schienen die Bauarbeiten abgeschlossen zu sein: Die Fronten der Läden waren frisch gestrichen, und eine grün-weiß gestreifte Markise spendete einem Blumenladen Schatten. Tulpen und Lilien waren in großen Gefäßen vor der Eingangstür des Ladens arrangiert.
Trotz des Baustellenlärms schlenderte Carol die Straße entlang. Ein Videoladen und ein altes Apartmentgebäude bildeten das Ende des Blocks. Gegenüber entdeckte sie ein Bistro, Annies Café. Der Unterschied zwischen den bereits modernisierten Abschnitten der Straße und den alten Gebäuden war erstaunlich. Der ursprüngliche Teil erinnerte an eine malerische kleine Stadt mit freundlichen Händlern. So wie man sie aus Fernsehserien der 60er-Jahre kannte. Sicher, einige der Gebäude waren heruntergekommen, doch trotzdem wirkten sie einladend. Es war kaum zu glauben, dass die Blossom Street weniger als eine Meile vom Stadtzentrum Seattles mit seinen Hochhäusern und den überfüllten Straßen entfernt war.
Neben dem Blumenladen entdeckte Carol eine weitere Überraschung: einen Wollladen. Das Geschäft war neu. Ein Schild kündete von der “großen Eröffnung”. Eine Frau – sie schien in Carols Alter zu sein – saß in einem Schaukelstuhl und strickte. Ein Knäuel limonengrünes Garn lag in ihrem Schoß.
Weil sie nichts Besseres zu tun hatte, stieß Carol die Tür auf und betrat das Geschäft. Ein hübsches Glöckchen ertönte. “Hallo”, sagte sie und bemühte sich, fröhlich und neugierig zu klingen. Sie war sich nicht sicher, was sie dazu bewogen hatte, den Laden überhaupt zu betreten. Zumal sie nicht stricken konnte und an Kunsthandwerk noch nie sonderlich interessiert gewesen war.
Die zierliche Frau begrüßte sie mit einem schüchternen Lächeln. “Hallo und willkommen im A Good Yarn.”
“Sie sind neu hier, habe ich recht?”
Die Besitzerin nickte. “Gestern war die Eröffnung, und Sie sind heute Nachmittag meine erste Kundin.” Sie lachte leise. “Eigentlich überhaupt die erste Kundin heute”, gab sie zu.
“Was stricken Sie da?”, fragte Carol und fühlte sich seltsam beschämt, weil sie im Grunde genommen keine wirkliche Kundin war.
“Einen Pullover für meine Nichte.” Sie griff nach ihrem Strickzeug und hielt es Carol entgegen.
Die Farben – Limonengrün, Orange und Türkis – zauberten ein Lächeln auf Carols Gesicht. “Das gefällt mir.”
“Stricken Sie?”
Die Frage musste kommen. “Nein, aber ich würde es irgendwann gern einmal lernen.”
“Dann sind Sie bei mir genau richtig. Am nächsten Freitag beginnt ein Anfängerkurs. Wenn Sie sich dafür einschreiben, erhalten Sie einen Nachlass von zwanzig Prozent auf die Wolle.”
“Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich bin völlig unbegabt fürs Stricken.” Carol spürte ehrliches Bedauern. Doch sie war nun einmal nicht der Mensch, der gern etwas mit seinen eigenen Händen herstellte. Zinseszinsen oder Jahreszinsen, Einlagen und Anlagefonds berechnen – dort lagen ihre Fähigkeiten und ihr Talent.
“Sie werden es nie wissen, wenn Sie es nicht ausprobieren. Ich bin übrigens Lydia.”
“Carol.” Sie reichte ihr die Hand. Lydia legte ihr Strickzeug beiseite, um Carols Händedruck zu erwidern. Die junge Frau war klein und zierlich, ihr dunkles Haar trug sie kurz. Ihre klugen braunen Augen funkelten vergnügt, und Carol mochte sie auf Anhieb.
“Im Anfängerkurs beginne ich mit einem einfachen Projekt”, erklärte Lydia.
“Es müsste aber wirklich sehr leicht sein, wenn ich mit dem Stricken anfangen sollte.”
“Ich habe mir überlegt, dass jeder der Schüler eine Babydecke stricken sollte.”
Carol erstarrte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie senkte den Kopf, bevor Lydia es bemerkte. Normalerweise war sie kein Mensch, der besonders empfindlich war. Aber durch den Aufruhr ihrer Hormone schienen ihre Emotionen hin und wieder außer Kontrolle zu geraten. Die ganze Situation war so seltsam, und doch schien es Schicksal zu sein.
“Vielleicht werde ich mich doch für den Kurs anmelden”, sagte sie und strich über ein Knäuel hellgelber Wolle.
“Das wäre wundervoll.” Lydia ging zum Tresen hinüber und kehrte mit einem Klemmbrett zurück.
Im Augenblick suchte Carol überall nach Zeichen und Omen. Oft hielt sie Zwiesprache mit Gott. Ohne den geringsten Zweifel glaubte sie, dass sie zu diesem Lädchen geführt worden war. Es war Sein Weg, ihr zu zeigen, dass Er ihre Wünsche und Gebete bald erhören würde. Wenn sie sich diesem dritten und letzten IVF-Zyklus unterzog, würde es klappen. In naher Zukunft würde sie die Babydecke für ihr eigenes Kind benötigen.