12. KAPITEL
Alix Townsend
Am Dienstagabend kam Jordan Turner in die Videothek. Als Alix sah, dass er den Laden jedoch jeden Moment wieder verlassen würde, ging sie nach draußen und gab vor, eine Pause zu machen. Ihre Hand zitterte, als sie sich eine Zigarette anzündete. Lässig lehnte sie sich an die Hauswand und nahm einen tiefen Zug in der Hoffnung, das Nikotin würde sie beruhigen.
Als die Tür aufging und Jordan herauskam, rief sie: “Hi!”
Er blickte über seine Schulter. “Wie geht’s?”, fragte er.
“Ganz gut. Hab dich gar nicht kommen sehen”, log sie. “Ich habe dir eine Kopie von The Matrix zurückgelegt, wenn du immer noch interessiert bist.”
“Ja, klar. Danke.”
“Gern geschehen.” Sie zog ihre Zigaretten aus der Tasche und bot ihm eine an.
“Nein, danke.”
Sie hätte sich denken können, dass er Nichtraucher war. Versonnen starrte sie auf ihren Glimmstängel und sagte: “Ich versuche gerade, es mir abzugewöhnen. Das sind schon Light-Zigaretten, aber ich schwöre, ich werde mir noch eine Zerrung holen bei dem Versuch, aus diesen Dingern Geschmack zu saugen.”
Er lachte, obwohl ihr Witz nicht besonders gut war. Ein warmes, glückliches Gefühl breitete sich in ihr aus.
“Ich habe dich schon öfter in der Gegend gesehen”, sagte Jordan.
“Alix Townsend. A-L-I-X geschrieben.” Sie streckte ihre Hand aus, und er schüttelte sie. “Du bist Jordan Turner”, fuhr sie fort, bevor er die Chance hatte, sich vorzustellen. “Eine Kopie deines Führerscheins ist in unseren Akten. Du wohnst in der Nähe der Fifth Avenue, stimmt’s?” Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie an ihm interessiert war. Sie musste wieder an den Jungen aus der Grundschule denken, der genauso hieß wie der junge Mann. Damals hatte sie sich in den netten Jungen verknallt. Doch all das war schon so lange her, dass es beinahe nicht mehr wahr schien.
“Ja, das stimmt.”
Konnte es sein, dass er der Jordan Turner war? Sie betrachtete ihn und fragte sich, wie wahrscheinlich ein solcher Zufall wäre. Dann nahm sie noch einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, um ihre Nerven zu beruhigen.
Nein, dies konnte nicht derselbe Jordan Turner sein. Allerdings konnte sie sich nicht ganz genau erinnern … Gerade hatte sie genug Mut gefasst, um ihn einfach zu fragen, als er die Unterhaltung fortsetzte.
“Ich arbeite nicht weit von hier.”
Also kam er auf seinem Weg von der Arbeit nach Hause im Videoladen vorbei. Viele Leute machten das so.
“Man kann viel über einen Menschen sagen, wenn man weiß, was für Filme er ausleiht”, behauptete sie. Sie warf die Zigarette auf den Gehsteig und trat sie mit dem Absatz ihres Stiefels aus.
“Das will ich gern glauben.”
“Möchtest du wissen, was ich über dich erfahren habe?” Das war in Unterhaltungen einer ihrer Lieblingstricks – Charakteranalysen anhand der Filmauswahl. Jedoch hatte sie nicht oft die Gelegenheit, ihn anzuwenden.
Er schmunzelte. Ihr fiel mit einem Mal auf, wie süß er aussah, wenn er lächelte. Laurel konnte nicht nachvollziehen, was sie an einem Typen fand, der so durchschnittlich und normal war wie Jordan. Und Alix konnte es ihr nicht erklären. Jemand, der in einen Mann verknallt war, der perverse Sexfilme auslieh, würde das sowieso nicht verstehen.
Jordan lehnte sich neben sie an die Wand. “Fang an und erzähl mir, was du rausgefunden hast.”
Aufgeregt und verwirrt, wie sie im Moment war, wusste sie nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Sie geriet ins Schleudern und rang nach Worten – und zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung fiel ihr einfach nichts Sinnvolles ein. In einem letzten Versuch machte sie eine undefinierbare Handbewegung und sagte: “Sie sind cool.”
“Cool?”, wiederholte er. “Du meinst, die Filme, die ich ausleihe, sind cool?”
“Ja.” Sie wollte im Boden versinken.
“Danke.”
Sie spürte, dass sie rot wurde. “Ich muss wieder an die Arbeit”, murmelte sie, und ohne ein weiteres Wort lief sie zurück in den Laden.
Und um alles noch schlimmer zu machen, wartete Laurel schon neugierig auf sie. “Wie ist es gelaufen?”, fragte sie ihre Mitbewohnerin.
Stumm starrte Alix sie an.
Laurel rang die Hände. “Doch so schlimm?”
Plötzlich merkte Alix, wie sich Übelkeit in ihr ausbreitete. Es war die gleiche Übelkeit, die sie von früher kannte, wenn ihre Eltern wieder einmal miteinander stritten. Der Schmerz darüber hatte ihren Magen angegriffen – als ob sie schuld an allem Übel sei. Jordan war möglicherweise derselbe Jordan Turner, mit dem sie zusammen in der Grundschule gewesen war. Doch sie hatte keine Zeit gehabt, ihn zu fragen. Und nun, da sie einfach weggerannt war, würde sie bestimmt keine Chance mehr dazu bekommen.
“Alles in Ordnung?”, fragte Laurel und musterte sie.
Alix machte eine wegwerfende Handbewegung und ging zum Badezimmer im hinteren Teil des Ladens. Die Toilette war widerlich. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wann sie zum letzten Mal gereinigt worden war. Der blaue Zusatz zum Spülwasser konnte nicht mehr verdecken, dass sich in der Schüssel langsam Verfärbungen zeigten. Seltsam, dass ihr das in diesem Moment auffiel.
Sie stand am Waschbecken und starrte in den Spiegel. Die Stimmen in ihrem Kopf kannte sie nur zu gut. Es waren hässliche, negative Stimmen, die ihr Worte entgegenschrien, die sie nicht hören wollte. Sie lachten sie aus und riefen, sie sei eine Versagerin. Egal, was sie anfasste oder wie sehr sie sich bemühte, sie würde niemals etwas erreichen. Ihr Leben war verdammt. Dies war ihr Schicksal. Niemals würde sie mehr verdienen als das Minimalgehalt, niemals würde sie geliebt werden, niemals würde sie ein eigenes Heim besitzen. All die Sachen, die für normale Menschen so selbstverständlich waren wie ein Telefon oder eine Spülmaschine.
Sie schlug die Hände vors Gesicht, schloss die Augen und fühlte, wie sich tiefe Trauer in ihr ausbreitete. Sie konnte spüren, wie sich ein Gewicht auf ihre Schultern senkte, wie es sie niederdrückte. Vergeblich versuchte sie, die Depression zu vertreiben.
Sie hörte die widerwärtigen Namen, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. Sie nahm die Schelte der Lehrer und die schmerzlichen, herablassenden Kommentare ihrer Mitschüler wahr. Die Demütigung war genauso deutlich zu spüren wie vor zwölf Jahren. Alix wollte die verletzenden Worte begraben, loswerden, nie wieder hören. Doch stattdessen hallten sie mit solcher Macht in ihrem Kopf, dass sie das Gefühl hatte, ihre Knie würden unter ihrem Gewicht nachgeben.
Es klopfte an der Tür. Überrascht wandte sie den Kopf.
“Alix, bist du da drin?”
Laurel. Verdammt. “Was ist?”, stieß sie missmutig hervor.
“Er ist wieder da.”
“Wer?”
“Der Typ, mit dem du dich vorhin unterhalten hast. Ich weiß nicht, wie er heißt.”
Alix biss sich auf die Unterlippe. “Du kannst ihm doch weiterhelfen.”
“Er hat aber nach dir gefragt.”
“Warum?”, fragte sie und runzelte die Stirn.
“Keine Ahnung”, entgegnete Laurel genervt. “Soll ich auch noch Gedanken lesen können?”
“Ich komme in einer Minute, okay?” Alix straffte die Schultern, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und versuchte, mit dieser Situation zurechtzukommen. Sie fragte sich, warum Jordan sie sehen wollte.
Weil ihr Gesicht ganz rot war, ließ sie kaltes Wasser über ihre Hände laufen und presste sie gegen ihre Wangen.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie endlich den Mut gefasst hatte, rauszugehen und Jordan gegenüberzutreten.
Er stand am Tresen und wartete. Als sie näher kam, lächelte er.
“Du hast nach mit gefragt?”, begrüßte sie ihn, als hätte er sie bei irgendetwas gestört. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als freue sie sich darüber, ihn zu sehen – und in Wahrheit tat sie das auch nicht. Nachdem sie sich einmal vor ihm blamiert hatte, verspürte sie nicht das Bedürfnis, diese Erfahrung zu wiederholen. Nicht jetzt zumindest.
“Du hast gesagt, du hast mir The Matrix zurückgelegt?”
Ihre Erleichterung kannte keine Grenzen. “Ja, das hätte ich beinahe vergessen. Er ist da vorne”, sagte sie und ging an ihm vorbei zu dem Regal, in das sie den Film gelegt hatte.
“Danke, dass du das für mich getan hast.”
“Kein Problem”, erwiderte sie und starrte angestrengt auf den Computermonitor hinter dem Tresen. Nachdem er die Leihgebühr bezahlt hatte, legte Alix das Video in die Hülle, verstaute alles in einer Tüte und reichte sie ihm über den Tresen. “Wir haben diese Woche Mikrowellen-Popcorn im Angebot, falls du Lust hast.”
“Nein, danke. Ich habe gerade einen Rieseneimer davon gekauft. Ich denke, ich habe für die nächsten zehn Jahre genügend Popcorn.”
Sie stützte die Ellbogen auf den Tresen. Die Situation war ihr peinlich. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen, was sie fragen sollte. Wenn sie jetzt den Jordan Turner aus der vierten Klasse erwähnen würde, musste sich das wie eine lahme Anmache anhören. “Äh, gibt es denn noch andere Filme, die ich für dich beiseitelegen soll?” Das war nicht gerade eine brillante Frage, aber wenigstens ergab sie einen Sinn.
Er zuckte die Schultern. “Ich wüsste im Augenblick nicht, welchen. Aber wenn mir etwas einfällt, sage ich es dir.”
“Okay.”
Mit einem Kopfnicken ging er. Die Glastür schloss sich hinter ihm, und wie durch ein Wunder erschien just in diesem Moment Laurel. “Was wollte er?”
“Einen Film, was sonst?”
“Und wieso hat er nach dir gefragt?”
Alix verspürte nicht das geringste Bedürfnis, Laurel alle Details zu erzählen. “Woher soll ich das wissen?”
“Es gibt keinen Grund, so zickig zu werden.”
Die Tür ging auf. Zu Alix’ grenzenloser Überraschung schob Jordan seinen Kopf durch den Spalt. “Alix, um wie viel Uhr hast du Feierabend?”
Sie war zu geschockt, um direkt zu antworten. “Um elf. Drei Nächte die Woche schließe ich den Laden ab.”
“Und wie sieht es morgen aus? Schließt du da ab?”
“Nein. Mittwochs arbeite ich bis um neun.”
“Möchtest du dann mit mir einen Kaffee trinken gehen? Nach der Arbeit?”
“Äh …” Sie fand es beinahe unglaublich, dass er sie bat, mit ihm auszugehen. Oder jedenfalls fast. “Ja, warum nicht”, sagte sie, als wäre es etwas ganz Normales.
“Gut, dann sehen wir uns morgen.” Er winkte ihr zu und verschwand.
Ein Glücksgefühl stieg langsam in ihr auf. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht vor Freude in die Luft zu springen.