27. KAPITEL
Jacqueline Donovan
“Ist zwischen Reese und dir alles in Ordnung?”, fragte Tammie Lee, während sie begann, den Tisch abzuräumen. Jacqueline seufzte und tat so, als hätte sie die Frage gar nicht gehört. Sie hatte gehofft, niemand würde an diesem Abend die Spannungen bemerken, die zwischen Reese und ihr herrschten. Der Bürgermeister und zwei Stadträte hatten mit ihren Gattinnen ebenfalls an diesem Abendessen teilgenommen. Außerdem waren noch drei weitere Paare zu Gast.
In letzter Minute und ohne es mit Jacqueline abzusprechen, hatte ihr Mann Paul und Tammie Lee zu der Gesellschaft dazugebeten. Dass ihr Sohn kam, war natürlich sehr erfreulich. Aber Jacqueline war bei dem Gedanken daran, dass ihre Schwiegertochter Mitgliedern des Stadtrates einige ihrer primitiven Witze erzählen könnte, unwillkürlich zusammengezuckt. Doch es war zu spät – sie konnte nichts mehr an der Situation ändern. Reese hatte über ihren Kopf hinweg entschieden.
Zum Glück verlief der Abend ohne größere Zwischenfälle. Nur einmal musste Jacqueline kurz die Luft anhalten. Der Bürgermeister hatte Tammie Lee nach ihrer Meinung zum Countryclub gefragt. Minutenlang redete Tammie Lee darüber, dass sich im Countryclub alles um Tennis und Bridge, ums Essen und vor allem ums Jammern und Lamentieren drehe. Eine Sekunde lang herrschte peinliches Schweigen. Jacqueline wünschte sich, im Erdboden zu versinken. Doch dann fing der Bürgermeister an, laut zu lachen. Er sagte, dass sei die wohl ehrlichste Antwort, die er je bekommen habe. Jacqueline war sich dennoch nicht sicher, ob er das wirklich meinte oder ob er nur ein guter Gast sein wollte.
Reese schaute sie über den Tisch hinweg an, als ob er sagen wollte, wie falsch sie mit ihrem harten Urteil über Tammie Lee lag.
Die Einladung war aber nicht der eigentliche Grund ihres Streites. Eigentlich stritten sie sich selten. Es gab einfach keinen Anlass dazu. Aber Reese war beinahe explodiert, als er erfahren hatte, dass sie von zwei Typen angepöbelt und fast ausgeraubt worden war. Zum Glück waren die beiden mittlerweile verhaftet und angeklagt worden. Trotzdem schrie ihr Mann sie volle zehn Minuten lang an, ohne ihr auch nur einen Moment zuzuhören – und all das nur, weil sie in der Seitenstraße geparkt hatte. Er besaß sogar die Frechheit, zu vermuten, dass sie ausgeraubt werden wollte. Und schließlich hatte er sie “dumm” genannt.
Jacqueline war immer noch wütend. Wie konnte er es wagen, sich ihr gegenüber so zu verhalten – und das, obwohl sie ihm einen Gefallen getan hatte. Seinetwegen war ihr ganzer Tag ruiniert gewesen. Sie musste ihren Termin im Nagelstudio komplett absagen, kam zu spät zum Mittagessen und war so durcheinander, dass sie während ihrer Shoppingorgie nichts fand, dass sie kaufen wollte.
In den letzten fünf Tagen hatten sie nur miteinander gesprochen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie hätten auch heute nicht miteinander geredet, wenn nicht diese Dinnerparty gewesen wäre. Die seit Wochen geplante Feier wegen ihrer Auseinandersetzung in letzter Minute abzusagen kam nicht infrage. Also stellten sie ihren Streit hintan und setzten eine fröhliche Miene auf. Jacqueline war erstaunt, dass gerade Tammie Lee die Spannungen gespürt hatte.
“Hast du mich gehört?”, fragte Tammie Lee nach und folgte ihrer Schwiegermutter mit einem Stapel Geschirr in die Küche.
Jeder andere hätte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden – nicht jedoch Tammie Lee.
“Du kannst die Teller auf die Anrichte stellen”, wies Jacqueline sie an. “Aber du musst wirklich nicht helfen. Martha wird morgen früh alles Weitere erledigen.” Die Haushälterin lebte in dem kleinen Gästehaus im Garten. Da sie schon etwas älter war, hatte sie nicht mehr die Kraft, nach Feierabend noch auf Dinnerpartys zu servieren. Eigentlich wollte sie in den Ruhestand treten, doch Jacqueline vertraute ihr und verließ sich auf sie. Und so hatte Martha beschlossen, noch zu bleiben.
“Du willst doch die benutzten Teller nicht über Nacht hier stehen lassen, oder?”, beharrte Tammie Lee. Natürlich hatte sie recht. Sobald alle weg waren, würde Jacqueline die Teller in die Spülmaschine räumen. Das war eine Aufgabe, die sie am liebsten selbst erledigte.
“Es war eine richtig schöne Party”, sagte ihre Schwiegertochter.
“Danke.” Jacqueline verkniff sich die Bemerkung, dass Tammie Lee eines Tages selbst solche Dinnerpartys würde ausrichten müssen. Sie konnte nur hoffen, dass das Mädchen bis dahin das eine oder andere von ihr gelernt haben würde. Aber irgendwie zweifelte sie daran.
“Du bist eine wundervolle Gastgeberin”, fuhr Tammie Lee fort, als sie mit dem nächsten Stapel Geschirr in die Küche kam.
“Danke.” Jacqueline verkniff sich den Kommentar, dass jeder einzelne dieser Porzellanteller mehr kostete als Tammie Lees gesamte Sommergarderobe. “Wo sind Reese und Paul?”, fragte sie stattdessen. Sie war müde. Die Party hatte sie viel Kraft gekostet, und sie wünschte sich, ins Bett gehen zu können. Dazu mussten Paul und Tammie Lee nur endlich gehen, damit sie den Rest aufräumen konnte.
“Sie sind im Arbeitszimmer und unterhalten sich”, erwiderte ihre Schwiegertochter. Offenbar war im Wohnzimmer kein Geschirr mehr, denn sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und legte die Beine hoch. Sanft streichelte sie mit ihren Händen über ihren runden Bauch. Es wurde immer deutlicher, dass sie schwanger war. Jacqueline konnte ihrem Sohn noch immer nicht verzeihen, dass er ihnen sechs Monate lang überhaupt nichts von der Schwangerschaft erzählt hatte.
Sie fragte sich, worüber Vater und Sohn denn so lange sprachen. Versonnen kratzte sie die Speisereste von den Tellern und stellte das Porzellan anschließend in die Spülmaschine.
“Ich hoffe, es war dir recht, dass ich dem Bürgermeister die Decke gezeigt habe, die du für unser Kind strickst”, sagte Tammie Lee. “Ich finde es einfach wunderbar, dass du das für dein erstes Enkelkind tust.”
Jacquelines Blick verfinsterte sich, aber sie hielt den Kopf gesenkt, damit Tammie Lee ihre Reaktion nicht sehen konnte. “Das war schon in Ordnung.”
Als sie mit dem Geschirr fertig war, setzte sie sich auch auf einen Stuhl und schenkte sich ein Glas Wein ein. Wenn sie schon mit ihrer Schwiegertochter in der Küche “eingesperrt” war, brauchte sie wenigstens eine Stärkung.
Tammie Lee blickte sie an. “Hab ich dir eigentlich erzählt, wie meine Mama mit dem Traktor meines Daddys den Briefkasten umgefahren hat?”
Jacqueline schluckte ein Seufzen hinunter. “Ich denke, die Geschichte kenne ich noch nicht”, sagte sie und schwenkte den Wein in ihrem Glas.
Wenn Tammie Lee den Sarkasmus in ihrer Stimme gehört hatte, so entschied sie sich, so zu tun, als hätte sie den Misston nicht wahrgenommen. “Es ist das einzige Mal, dass mein Vater meine Mama angeschrien hat. Meine Mama lief tränenüberströmt ins Haus. Und auch ich rannte hinein, wütend, dass mein Daddy so mit ihr geschimpft hatte.”
“Männer neigen dazu, offen ihre Meinung zu sagen”, entgegnete Jacqueline. Sie nippte an ihrem Wein und ließ den Schluck langsam über ihre Zunge perlen. Bei fünfzig Dollar pro Flasche nahm sie sich die Zeit, die Qualitäten dieses Merlots auszukosten.
“Später erzählte Mama mir, dass er nur so gebrüllt hat, weil der Traktor hätte umstürzen und Mama verletzen können. Der Briefkasten war ihm total egal. Daddy hat meine Mutter geliebt und einfach Angst um sie gehabt. Sie war mit dem Traktor so nah an den Bewässerungsgraben gefahren, dass sie leicht mit dem ganzen Fahrzeug hätte umkippen können. Daddys Gebrüll war also nur ein Zeichen dafür, wie sehr er sie eigentlich liebte.”
Jacqueline wusste nicht genau, was ihre Schwiegertochter ihr mit dieser Geschichte sagen wollte. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein.
“Ich hoffe, ich habe vorhin nichts Falsches gesagt”, stieß Tammie Lee plötzlich hervor und sah Jacqueline mit großen Augen an.
Gleichgültig zuckte Jacqueline die Schultern. “Ich glaube, der Bürgermeister hat sich … amüsiert.”
“Nicht wegen des Bürgermeisters”, erwiderte Tammie Lee. “Ich meinte, als ich gefragt habe, ob zwischen Reese und dir alles in Ordnung ist.”
“Alles ist völlig in Ordnung”, entgegnete Jacqueline steif. Sie spülte den Rest des Merlots hinunter – zur Hölle mit der Qualität – und stellte das Glas auf den Tisch.
“Gut”, sagte Tammie Lee, “denn Paul und ich lieben euch sehr. Unser Baby braucht eine Großmutter und einen Großvater.”
Irgendwie brachte Jacqueline ein Lächeln zustande. “Also hat deine Mutter tatsächlich mit dem Traktor den Briefkasten kaputt gefahren?”, murmelte sie.
“Zweimal.”
“Zweimal?” Vielleicht lag es am Wein, aber Jacqueline brach in Lachen aus.
“Daddy war beim zweiten Mal auch nicht gerade begeistert darüber.”
Jacqueline verstand das.
“Aber mein Daddy liebt Mama. Genauso, wie Reese dich liebt.”
Schlagartig hörte Jacqueline auf zu lachen. Ihr Mann liebte sie seit Jahren nicht mehr. Ihre Ehe bestand nur noch, weil es bequem war und beide daraus ihren Nutzen ziehen konnten. Sie beklagte sich nicht über seine Verabredungen am Dienstag, und er regte sich nicht über ihre Shoppingtouren auf. Sie waren sich einig. Doch von der Liebe, die sie zu Beginn ihrer Ehe füreinander empfunden hatten, war nicht mehr viel übrig.
“Tammie Lee?” Pauls Stimme erklang von nebenan aus dem Esszimmer.
“Hier in der Küche mit deiner Mutter”, antwortete sie fröhlich.
Vater und Sohn kamen in die Küche.
“Du musst erschöpft sein”, sagte Paul und lächelte seine Frau so liebevoll an, dass es Jacqueline wehtat, zuzuschauen. “Wollen wir nach Hause fahren?”
Sie nickte, und Paul half ihr beim Aufstehen. Dann, zu Jacquelines Entsetzen, beugte sie sich vor und schlang ihrer Schwiegermutter die Arme um den Nacken.
“Danke”, flüsterte Tammie Lee und umarmte sie voller Wärme.
Jacqueline wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Also legte sie vorsichtig ihre Arme um ihre Schwiegertochter und drückte sie. Es war so lange her, dass jemand sie einfach so und mit so viel Zuneigung umarmt hatte, dass sie spürte, wie Tränen in ihre Augen traten.
“Du bist eine wundervolle Schwiegermutter”, sagte Tammie Lee leise. “Ich glaube, ich bin die glücklichste Frau der Welt.”
Über Tammie Lees Schulter hinweg warf Jacqueline ihrem Mann einen Blick zu. Und plötzlich hatte sie den Eindruck, dass etwas Starkes, ein tiefes Gefühl in seinen Augen aufblitzte. Fühlte er möglicherweise immer noch etwas für sie? War das der Grund, weshalb er so wütend geworden war, als er erfuhr, dass sie in der Nebenstraße geparkt hatte? Konnte es sein, dass Tammie Lee das mit ihrer Geschichte sagen wollte?
Der Gedanke daran war beinahe unfassbar.