28. KAPITEL

Carol Girard

Carol kam als Erste zum Strickkurs am Freitagnachmittag. Sie war extra früh da, um in Lydias Buch mit Strickmustern nach einem neuen Projekt zu suchen.

“Ich dachte, du strickst einen Pullover für deinen Bruder”, sagte Lydia, als Carol die Seiten mit den Mustern für Männerpullis auffallend schnell durchblätterte.

“Damit habe ich angefangen. Aber im Moment bin ich einfach zu wütend auf ihn.” Seit einer Woche hatte Carol nicht mehr mit Rick gesprochen. Das war an sich noch keine Seltenheit. Doch sie hatte gehofft, er würde nach seiner Beichte mit ihr in Kontakt bleiben. Dieses Mal würde sein Charme allein nicht ausreichen, um ihn aus dem Schlamassel herauszuholen. Für dieses Problem gab es keine einfachen Antworten und Lösungen.

Das Glöckchen über der Tür erklang. Carol musste tatsächlich zweimal hinschauen – denn herein kam Alix, die eine Jeans und ein T-Shirt trug. Es war das erste Mal, dass Carol sie ohne ihren schwarzen Ledermantel, eine schwarze Hose oder einen lächerlich kurzen Rock sah. Und auch ihr Haar sah weniger … punkig aus. Carol wollte gerade etwas sagen, verkniff sich dann jedoch jeglichen Kommentar. Alix stand nicht gern im Mittelpunkt, auch wenn sie offenbar unbedingt anders sein wollte. Wenn das kein Widerspruch in sich selbst war, wusste Carol es auch nicht.

“Hi”, sagte Alix und schlenderte lässig zum Tisch. Sie wirkte selbstbewusst und blickte Lydia und Carol herausfordernd an. Doch die beiden schwiegen nur lächelnd. Alix setzte sich auf einen Stuhl und holte ihr Strickzeug aus einer Plastiktüte mit dem Logo des Videoladens.

“Hi”, grüßten nun auch Lydia und Carol.

“Wie läuft die Schwangerschaft?” Alix Stimme klang beiläufig – für sie schien es eine ganz normale Frage zu sein.

Carol bemerkte, wie Lydia vorsichtig zu ihr herübersah. Keine der Frauen hatte bis jetzt den Mut gehabt, sie nach ihrem Befinden zu fragen. “So weit, so gut”, antwortete Carol. “Ich pinkle immer noch blau.”

“Was?” Alix hob den Kopf.

“Der Test, den ich regelmäßig machen muss, färbt sich blau, wenn man schwanger ist”, erklärte Carol. Da ihr eine befruchtete Eizelle eingesetzt worden war, lag das Problem nicht darin, schwanger zu werden – sondern vielmehr darin, schwanger zu bleiben. Bereits zweimal hatte sie innerhalb der ersten beiden Wochen das Baby verloren. Dass sie nun schon so lange schwanger war, zeigte, dass es Hoffnung gab. Aber wirklich sicher war bei einer künstlichen Befruchtung nichts. Die ersten drei Monate waren die riskantesten. Von einer Frau aus der Online-Gruppe hatte sie vor Kurzem gehört, dass sie zweieinhalb Monate lang schwanger gewesen war, nur, um dann das Baby doch noch zu verlieren. Es hatte ihr das Herz gebrochen. Und jedes Mitglied der Gruppe konnte ihren Schmerz verstehen.

Die Tür ging wieder auf, und Jacqueline kam herein. Ihre Armreifen klimperten. Sie trug einen maßgeschneiderten Hosenanzug, den Carol ein bisschen zu schick für einen Strickkurs fand. Diese Frau genoss es offensichtlich, ihre Auftritte zu zelebrieren. Es schien, als sollte jeder bemerken, dass sie da war – und sich entsprechend verhalten. Doch das war Carol egal. Sie konnte damit umgehen, denn inzwischen hatte sie jede der Teilnehmerinnen des Strickkurses in ihr Herz geschlossen.

Sie und Jacqueline strickten mittlerweile schon an neuen Projekten. Die Einzige, die noch immer an der Babydecke arbeitete, war Alix. Carol vermutete, dass sie kein Geld hatte, um sich neues Garn zu kaufen.

“Ich fange einen neuen Pullover an”, erklärte Carol und blätterte die Strickmuster durch.

“Was ist mit dem anderen?”, fragte Alix erstaunt. Carol wusste, dass die graue Kaschmirwolle ihr besonders gut gefallen hatte.

“Ich habe keine Lust mehr, daran weiterzuarbeiten”, erklärte Carol und sah sie an. “Möchtest du die Wolle haben?”

Alix’ Augen begannen zu leuchten. “Willst du sie nicht mehr?”

“Nicht wirklich.”

“Und was ist mit dem Muster? Brauchst du das noch?”

“Nein.”

“Cool!” Alix stopfte ihr Strickzeug zurück in die Plastiktüte und rieb sich vor Freude beinahe die Hände. “Ich habe die Decke fast fertig und würde den Pullover gern für einen … Freund stricken.”

“Für wen?” Jacqueline blickte Alix erwartungsvoll an.

“Für einen Freund, wie ich schon sagte”, murmelte Alix.

“Sei nicht so gemein zu mir”, rief Jacqueline. “Ich war nur interessiert.”

Jacqueline war daran interessiert, was Alix machte? Einige Wochen zuvor wäre das noch unvorstellbar gewesen, dachte Carol. Das vollkommen neue Verhältnis zwischen den beiden hatte mit dem Überfall in der Seitenstraße begonnen. Zwar waren sie noch immer bissig zueinander, aber das wohl mehr aus einer Gewohnheit heraus als aus Überzeugung.

“Ich wusste gar nicht, dass du einen Freund hast”, sagte Lydia und lächelte Alix an.

“Hab ich auch nicht”, erwiderte Alix schnell – zu schnell, um wirklich überzeugend zu sein.

“Für wen ist dann der Pullover?”

“Wie ich schon sagte: für einen Freund.”

“Sicher”, murmelte Jacqueline und grinste. Sie blinzelte Alix zu, deren Wangen sofort von einer zarten Röte überzogen wurden.

“Wenn es so wichtig ist … Er ist ein Typ, den ich im Videoladen kennengelernt habe”, sagte Alix missmutig. Trotzdem wurde Carol das Gefühl nicht los, dass Alix es ihnen eigentlich erzählen wollte …

“Mag er dich?”, erkundigte sich Jacqueline.

Alix zuckte die Schultern. “Das hat er jedenfalls getan, als wir in der vierten Klasse waren – aber er wird Pfarrer, und ich sehe uns beide noch nicht gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten. Wenn ihr versteht, was ich meine.”

“Warum nicht?”, fragte Lydia. “Auch Seelsorger und Pfarrer haben ein Leben.”

Alix senkte den Kopf und konzentrierte sich auf ihr Strickzeug. “Er küsst gut”, sagte sie schließlich leise.

Natürlich erregten diese Worte das Interesse der gesamten Gruppe. Kurz darauf führten die Frauen eine lebhafte Diskussion.

“Reese war auch ein guter Küsser … damals”, erzählte Jacqueline. “Ich erinnere mich noch genau daran, als er mich zum ersten Mal küsste. Jede einzelne Zelle in meinem Körper schien nahezu zu explodieren.”

Carol musste schmunzeln, als sie den träumerischen Ausdruck auf Jacquelines Gesicht bemerkte. “Ich dachte, ich wäre gestorben und im Himmel, als Doug mich zum ersten Mal küsste.” Sie bemerkte, dass Lydia begonnen hatte, im Laden herumzulaufen und Wolle zu ordnen. “Was ist mit dir, Lydia?”, wollte Carol wissen.

Lydia fuhr herum. Sie wirkte, als sei sie nicht gerade begeistert, in das Gespräch einbezogen zu werden. “Ich glaube, ich habe dabei nie mehr gespürt als einen … Kuss. Es war zwar immer schön, aber es war nichts Weltbewegendes.”

“Eines Tages wird es das sein”, entgegnete Jacqueline.

“Denkt ihr nicht, dass ihr viel zu viel Wert auf einen einfachen Kuss legt?”, fragte Lydia. “Meine Güte, wir sind doch alle schon geküsst worden. Und obwohl es schön ist, halte ich es doch für keine so große Sache.”

Jacqueline deutete in Alix’ Richtung. “War es eine große Sache für dich, als dieser Junge dich geküsst hat?”

Carol konnte sehen, dass Alix diese Frage zu weit ging. Das Mädchen warf betont lässig den Kopf in den Nacken. “Ja, schon, aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht.” Sie sah in die Runde. Man konnte ihr ansehen, dass sie in Wirklichkeit an kaum etwas anderes denken konnte.

Einen Moment lang schwiegen alle, hingen ihren eigenen Gedanken nach und widmeten sich ihren Projekten. Carol war nicht sicher, woran Jacqueline im Augenblick arbeitete. Sie hatte begonnen, Schals aus einem unfassbar teuren Garn zu stricken. Carol vermutete, dass Jacqueline mittlerweile Lydias beste Kundin war.

“Kann es sein, dass ich dich letzten Freitag aus dem Pour House habe kommen sehen?”, wandte Alix sich an Lydia. “Mit diesem UPS-Mann?”

“Mich?”, stammelte Lydia und wurde rot. Sie legte eine Hand auf die Brust. “Ja … ich habe mich mit Brad Goetz auf ein Bier getroffen.”

Alix pfiff anerkennend. “Der Typ ist heiß.”

Lydia widmete ihre Aufmerksamkeit einigen Strickbüchern in ihrer Auslage. “Diese Woche wollen wir zusammen essen gehen.”

“Entwickelt sich da eine kleine Romanze?”, fragte Jacqueline freundlich.

“Das wäre doch schön”, sagte Carol. Es amüsierte sie, wie unsicher und verlegen Lydia reagierte, wenn es um Männer ging. Brad war der erste, den sie überhaupt erwähnte. Und dieser Freund von Alix … es berührte Carol, dass Alix Vertrauen zu ihnen gefasst und es ihnen erzählt hatte.

“Möchtest du vielleicht zu mir kommen, um dir die Wolle abzuholen?”, fragte Carol.

Alix nickte. “Und das macht dir nichts aus?”

“Überhaupt nicht. Wenn du es lieber möchtest, kann ich die Wolle natürlich auch mit zum Kurs bringen.”

“Nein, ich komme gern bei dir vorbei.”

Carol beschlich das Gefühl, dass Alix nicht oft solche Einladungen bekam. “Warum kommst du nicht am Montag zum Mittagessen? Würde dir das passen?”

“Ja, sicher.” Trotz der gleichgültig klingenden Antwort konnte Alix ihre Begeisterung nicht ganz verbergen.

Carol sah lächelnd in die Runde. Da war Alix, deren ablehnende Haltung sich langsam, aber sicher ins Gegenteil verkehrte. Und Jacqueline, die nicht länger versuchte, sie mit den Namen ihrer Bekannten zu beeindrucken. Lydia schien weniger zurückhaltend zu sein, und ihre Wärme und ihr Witz kamen von Woche zu Woche deutlicher zum Vorschein.

Seltsam, wie sich alles entwickelt, dachte Carol, während sie die Strickmuster durchblätterte. Eine Gruppe von vier Persönlichkeiten, vier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, war zusammengekommen. Und im Laufe einiger Monate waren aus Fremden Freundinnen geworden.