5. KAPITEL
“Wenn du linke und rechte Maschen stricken und Anweisungen befolgen kannst, kannst du alles schaffen.”
(Linda Johnson, Lindas Knit ’N’ Stitch,
Silverdale, Washington)
Lydia Hoffman
Ich hatte Angst, dass Margaret recht behalten und A Good Yarn untergehen könnte. Und das, bevor es überhaupt richtig losgegangen war. Bisher waren erst drei Frauen für den Strickkurs angemeldet. Und Alix, die letzte, die sich eingeschrieben hatte, sah aus wie eine Schwerverbrecherin. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, was Jacqueline und Carol zu einer Kursteilnehmerin sagen würden, die ein Hundehalsband trug und deren Haare in lila gefärbten Stacheln vom Kopf abstanden. Ich hatte Alix dazu ermutigt, teilzunehmen. Doch schon in dem Moment, als sie den Laden wieder verließ, fragte ich mich, ob ich das Richtige tat. Was hatte ich mir dabei gedacht?
Der Baulärm war mittlerweile nicht mehr ganz so störend, was eine ungemeine Erleichterung war. Trotzdem kamen nicht mehr Kunden in mein Geschäft. Das einzig Gute daran war, dass ich seit Langem einmal wieder Zeit und Ruhe fand, um ungestört zu stricken. Ich hätte dankbar für das sein sollen, was ich bereits erreicht hatte. Doch die fehlende Kundschaft bereitete mir echte Sorgen.
Jeder, mit dem ich mich über die Eröffnung des Ladens unterhielt, riet mir, genug Geld in der Hinterhand zu haben. Ich sollte für mindestens sechs Monate die Kosten decken können. Das hatte ich auch – trotzdem hoffte und betete ich, dass ich einen Teil meines Erbes unberührt lassen konnte. Und jetzt, da ich den Schritt gewagt hatte, überfielen mich immer häufiger tiefe Zweifel.
Margaret gelang es jedes Mal, mich völlig zu verunsichern. Ich wünschte, ich würde meine Schwester verstehen. Manchmal glaubte ich, sie hasste mich. Und ein Teil von mir erkannte das Problem: Mom und Dad hatten mir ihre gesamte Aufmerksamkeit geschenkt – aber ich hatte sie damals auch gebraucht. Ich weigerte mich zu glauben, dass meine Schwester ernsthaft dachte, ich wäre so hungrig nach Zuwendung gewesen, dass ich den Krebs heraufbeschworen hatte.
Ich hatte mich immer danach gesehnt, gesund und normal zu sein. Bis heute erschien mir mein Leben so, als würde ich unter einer Gewitterwolke stehen und ständig mit der Angst leben müssen, dass der Blitz wieder einschlägt. Konnte meine einzige Schwester mich nicht einfach verstehen und unterstützen?
Am Mittwochmorgen saß ich in meinem Schaukelstuhl und strickte ein Paar Socken für meine Auslage, als plötzlich das Glöckchen an der Ladentür bimmelte. Erwartungsvoll lächelnd sprang ich auf. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ein Kunde und möglicher Kursteilnehmer könne den Laden betreten.
“Hallo.” Ein UPS-Fahrer mit einem Handwagen, der einen Meter fünfzig hoch mit Kisten beladen war, kam ins Geschäft. “Ich beliefere regelmäßig die Nachbarschaft und dachte, ich stelle mich einmal persönlich vor.” Er stellte die Karre ab und streckte mir die Hand entgegen. “Brad Goetz.”
“Ich bin Lydia Hoffman.” Wir schüttelten uns die Hände.
Er reichte mir ein elektronisches Clipboard, damit ich die Sendung abzeichnen konnte. “Wie läuft es denn so?”
“Es ist erst meine zweite Woche”, antwortete ich ausweichend. Ich wollte nicht zugeben, wie schleppend das Geschäft bisher anlief.
“Die Bauarbeiten sind sicherlich bald abgeschlossen. Und dann werden die Kunden in Scharen zu Ihnen kommen.” Er lächelte. Ich fühlte mich mit einem Mal getröstet und – so überraschend es war – auch zu ihm hingezogen. Mir fehlten Ermutigung und Anerkennung so sehr, dass das ein wohl nur allzu normales Verhalten war. Dieses besondere Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr empfunden. Heimlich warf ich einen Blick auf seinen Ringfinger und konnte zu meiner Erleichterung keinen Ehering entdecken.
Es ist eine Schande, es zuzugeben, aber meine sexuellen Erfahrungen beschränken sich auf einige unbeholfene Versuche auf dem Rücksitz des Wagens meiner Collegeliebe. Roger war während der zweiten Gehirnoperation an meiner Seite. Aber seine Anrufe und Besuche wurden weniger, nachdem ich die Chemotherapie begonnen hatte und mir alle Haare ausgefallen waren. Glatzköpfige Frauen sind nicht besonders attraktiv, auch wenn Roger das Gegenteil behauptete. Ich denke, es hing damit zusammen, dass er die Beziehung mit mir als zum Scheitern verurteilt ansah. Ich war schließlich eine Frau, die jederzeit sterben konnte. Jemand, der seine emotionale Investition möglicherweise niemals zurückzahlen konnte. Roger war eben ein Student der Wirtschaftswissenschaften.
Mein Freund auf der Highschool hieß Brian. Er reagierte damals ganz ähnlich wie Roger. Eine gewisse Zeit hielt er es noch mit mir aus, dann irgendwann verschwand auch er … Ich mache keinem von beiden einen Vorwurf daraus.
Meine Trennung von Brian – und später von Roger – war unumgänglich. Nach Roger gab es noch ein paar kleinere Affären, aber die waren meist nicht der Rede wert.
Diese Erfahrungen hätten mich lehren müssen, dass die meisten Männer keine romantischen Gefühle für eine zweimalige Krebspatientin hegen. Ohne wie eine Märtyrerin klingen zu wollen … ich verstehe, wie sie sich fühlen mussten. Warum sollte man sich emotional an eine Frau binden, die wahrscheinlich sowieso sterben wird? Ich weiß nicht einmal, ob ich Kinder bekommen kann – oder überhaupt sollte. Darüber denke ich nicht gern nach.
“Meine Großmutter hat gestrickt”, sagte Brad. “Ich habe gehört, dass Stricken in den letzten Jahren wieder in Mode gekommen ist.”
Die Entwicklung hält schon länger an, dachte ich, korrigierte ihn aber nicht. Verdammt, er sah wirklich gut aus, besonders wenn er lächelte – und das schien er oft zu tun. Seine Augen waren dunkelblau. In ihnen lag ein intensiver Ausdruck. Er war nicht übermäßig groß, was mir ebenfalls gut gefiel. Ich bin gerade einmal eins dreiundsechzig. Und wenn ich neben jemandem stehe, der mich um einiges überragt, ist das schon ziemlich beängstigend. Brad war genau richtig – und genau das war das Problem. Ich wollte nicht sehen, wie jungenhaft zerzaust sein dunkles Haar über seine Stirn fiel oder wie die dunkelbraune Uniform seine breiten Schultern noch mehr zur Geltung brachte. Aber ich sah all diese Dinge … und noch mehr.
“Was stricken Sie?”, fragte er und deutete auf mein Strickzeug. Er wartete meine Antwort nicht ab. “Socken?”
“Das stimmt.”
“Aber Sie benutzen nur zwei Nadeln. Als Großmutter Socken strickte, hatte sie ungefähr ein halbes Dutzend davon in Gebrauch.”
“Dies sind Rundstricknadeln. Das ist eine etwas modernere Art zu stricken”, erklärte ich und hielt ihm meine halb fertige Arbeit entgegen.
Er berührte den Wollfaden und wirkte beeindruckt. “Stricken Sie schon lange?”
“Seit fast zehn Jahren.”
“Sie sehen so jung aus, als hätten Sie noch nicht einmal die Highschool abgeschlossen. Geschweige denn, als hätten Sie ein eigenes Geschäft.”
Das höre ich häufiger. Ich lächelte freundlich. Aber im Grunde ist das für mich kein Kompliment.
“Ich denke, ich mache mich mal wieder an die Arbeit”, sagte Brad, als er merkte, dass die Unterhaltung stockte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch ein paar Minuten lang mit ihm zu plaudern. Doch er musste sicher einen Zeitplan einhalten. Ich ja gewissermaßen auch. Außerdem war ich noch nie gut im Flirten.
“Bevor ich gehe … kann ich Ihnen die Kisten noch irgendwo hinräumen? Sie sind schwerer, als sie aussehen.”
“Das schaffe ich schon allein. Aber danke.” Ich war von Brads freundlichem Auftreten so verwirrt, dass ich erst jetzt wahrnahm, dass er mir neue Wolle geliefert hatte. Ein Vorteil meines eigenen Ladens lag darin, dass ich die Garne zum Einkaufspreis bekam. Da ich nicht sicher war, was meine Kundschaft bevorzugen würde, hatte ich einfach ganz unterschiedliche Garne bestellt. Meine erste Bestellung hatte aus hochwertiger Wolle in zwei Dutzend verschiedenen Farben bestanden. Wolle war ein Muss, besonders, weil das Filzen sich großer Beliebtheit erfreute. Beim Filzen strickt man ein überformatiges Muster. Das fertige Projekt wird anschließend in heißes Wasser gelegt, wobei es einläuft und am Ende die Konsistenz von Filz bekommt. Als Nächstes wollte ich die Baumwollgarne bestellen. Diese Garne gehörten zu meinen Lieblingsmaterialien. Der größte Teil meiner Lieferung war bereits vor der Eröffnung des Ladens gekommen, der Rest wurde nach und nach gebracht.
“Wohnen Sie auch hier in der Gegend?”, fragte Brad, schob das Clipboard unter seinen Arm und streckte die Hände nach der leeren Karre aus.
“Ich habe ein Apartment über dem Geschäft.”
“Das ist praktisch. Hier einen Parkplatz zu finden grenzt nämlich fast an ein Wunder.”
Als ob ich das nicht wüsste. Ich fragte mich, wo er seinen Lieferwagen abgestellt hatte – wahrscheinlich ein ganz schönes Stück von meinem Laden entfernt. Meine Kundschaft musste ebenfalls mit der Parksituation kämpfen. Viele Kunden würden gezwungen sein, ein bis zwei Blocks entfernt zu parken. Ich hatte Bedenken, ob sie bereit wären, diese Unannehmlichkeit auf sich zu nehmen. Zwar gab es hinter dem Laden eine kleine Seitenstraße, doch dort würde ich mich nicht allein aufhalten wollen – egal ob bei Tag oder bei Nacht.
“Danke, Brad”, sagte ich und hielt ihm die Tür auf.
Er winkte mir noch einmal zu, bevor er verschwand. Für einen Moment schien es, als habe sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Ich kannte das Gefühl: Es war Bedauern, das in Selbstmitleid umzuschlagen drohte. Aber das hier war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, schalt ich mich. Wenn ich mich selbst bemitleidete, musste ich eine Eric-Clapton-CD hören und ein oder zwei traurige Filme anschauen. Eiscreme konnte auch helfen – aber das nur in besonders schlimmen Fällen.
Es gab im Grunde nichts, das mich davon abhielt, eine neue Beziehung einzugehen. Nichts als meine eigenen Ängste. Du meine Güte, ich war dreißig! Okay, wenn ich ehrlich war, hatte ich Angst davor, mich zu verlieben. Ich wusste, dass die Beziehung scheitern würde. Ich habe es ja wirklich versucht, aber immer, wenn ich zugab, nicht nur ein-, sondern zweimal an Krebs erkrankt gewesen zu sein, konnte ich es in den Augen der Männer lesen.
Diesen Blick hasse ich am allermeisten – es ist eine Mischung aus Mitleid und Bedauern, aus Enttäuschung und Sympathie.
Oft kam die Veränderung schlagartig. Ich wusste dann, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Beziehung zerbrechen würde. Und mit ihr meine Hoffnungen auf das, wonach sich wohl jede Frau sehnt – Mann und Kinder. Eine eigene Familie.
Zugegeben, es hörte sich an, als würde ich in Selbstmitleid versinken. Und in der Tat, das Thema Männer oder Beziehungen war mein wunder Punkt. Ich tat mein Bestes, um nicht zu viel darüber nachzudenken. Schließlich gab es so vieles, für das ich dankbar war. Und um nicht vollends verrückt zu werden, konzentrierte ich mich eher darauf und vermied es, über mein Liebesleben nachzudenken.
Um es ganz einfach zu formulieren: Ich pflegte meine Freundschaften oder Beziehungen nicht besonders gut.
Bevor ich erkrankte, war das anders. Damals war ich beliebt und offen, hatte jede Menge Freunde. Mit der Krankheit verschwanden alle Jungs irgendwann aus meinem Leben. Und ich selbst stieß meine Freundinnen von mir weg, vertrieb sie. Das war dumm, das wusste ich. Doch ich konnte es nicht länger ertragen, zu hören, wie viel Spaß sie hatten. Zurückblickend weiß ich, dass ich neidisch war. Ich wollte so gern so sein wie sie, wollte lachen, die Nacht durchquatschen, jemandem meine Geheimnisse anvertrauen. Dates haben und das Leben entdecken. Aber stattdessen war mein Alltag bestimmt von Ärzten, Krankenhäusern und neuen Therapien.
Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie viel mir der Krebs genommen hatte. Fakt war, dass ich keine guten Freunde hatte. Ich befürchtete, die Gabe, Freunde zu gewinnen, möglicherweise verloren zu haben.
Die Gedanken an Brad Goetz vertrieb ich also aus meinem Kopf.
Gerade hatte ich damit begonnen, die Kisten auszuräumen und meine Wolle zu begutachten; da sah ich aus dem Augenwinkel einen Schatten an meinem Schaufenster vorbeihuschen. Brad. Und trotz meiner Entscheidung, mich nicht noch einmal auf eine Beziehung einzulassen, reckte ich den Hals, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Ein Lächeln überflog mein Gesicht, als er die Tür zu meinem Laden aufstieß.
“Lydia, haben Sie nach der Arbeit schon etwas vor?”
Zu meiner Überraschung fühlte sich mein Mund mit einem Mal ganz trocken an. “Etwas vor?”, wiederholte ich lahm.
“Ich weiß, es kommt etwas kurzfristig. Aber kann ich Sie vielleicht zum Essen einladen?”
Wieder zögerte ich, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sofort Ja zu rufen und dem Wissen, dass ich früher oder später mit nichts als Trauer und Reue zurückbleiben würde.
“Tut mir leid”, sagte ich und hoffte, den richtigen Tonfall getroffen zu haben. “Aber für heute Abend habe ich schon Pläne.” Dass ich vorhatte, die Ferse der Socke zu Ende zu stricken, verschwieg ich tunlichst. Das musste er nicht unbedingt wissen.
“Und was ist mit morgen? Mein Sohn ist die nächsten beiden Nächte bei meiner Exfrau, und ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen …”
Bevor ich der Versuchung nachgab, schüttelte ich den Kopf. “Tut mir leid, ich kann nicht.”
Brads Lächeln erstarb. Wahrscheinlich kam es nicht so oft vor, dass eine Frau ihm einen Korb gab. “Bis bald.”
“Ja”, erwiderte ich leise und umklammerte ein Knäuel hellgelber Wolle. “Bis bald.”