2. KAPITEL

Jacqueline Donovan

Die Auseinandersetzung mit ihrem verheirateten Sohn hatte Jacqueline Donovan zugesetzt. Sie hatte wirklich versucht, die Abneigung, die sie ihrer Schwiegertochter gegenüber empfand, zu verbergen. Aber als Paul anrief, um zu erzählen, dass Tammie Lee bereits im sechsten Monat schwanger war, hatte Jacqueline die Nerven verloren. Sie hatte einige unschöne Dinge gesagt, die sie besser für sich behalten hätte. Paul hatte mitten im Gespräch einfach aufgelegt.

Und als sei das nicht schon schlimm genug, hatte kurz darauf ihr Mann angerufen, um sie zu bitten, ihm einige Skizzen auf die Baustelle in der Blossom Street zu bringen. Weil der Streit mit Paul sie so belastete, erzählte sie ihrem Mann davon – und nun war Reese ebenfalls wütend auf sie. Aber wenn sie ehrlich sein sollte, war es ihr relativ egal, was er dachte. Doch Paul, ihr einziges Kind … das war etwas anderes.

Sie fühlte sich unruhig und deprimiert, als sie zum Arbeitsplatz ihres Mannes fuhr. Es dauerte zwanzig Minuten, einen Parkplatz zu finden. Und natürlich lag der, den sie schließlich ergatterte, ein gutes Stück entfernt, gegenüber einem schäbig aussehenden Videoladen. Die Skizzen fest umklammert, machte sie sich auf den Weg durch das Chaos der Baustelle. Währenddessen schimpfte sie unentwegt vor sich hin. Reese schaffte es doch immer wieder, ihr den Tag zu vermasseln!

“Hast du die Zeichnungen dabei?” Der Mann, mit dem sie seit dreiunddreißig Jahren verheiratet war, kletterte aus einem Baucontainer. Sie stieg vorsichtig über Stahlrohre und versuchte, sich nicht schmutzig zu machen oder ihre Ferragamo-Pumps zu ruinieren. Das Architekturbüro ihres Mannes, Donovan & Gray, war für dieses Sanierungsprojekt verantwortlich. Gekleidet in einen Designeranzug und mit einem Schutzhelm auf dem Kopf, war Reese mit seinen neunundfünfzig Jahren noch immer ein gut aussehender Mann.

Jacqueline übergab ihm die zusammengerollten Papiere. Es war unüblich, dass Reese sie um etwas bat. Das kam ihr entgegen.

“Ich mache mir Sorgen um Paul”, begann sie und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Reese zuckte nur müde die Schultern. Er arbeitete wirklich hart und machte viele Überstunden. Jacqueline tat so, als glaubte sie, dass er all die Stunden, die er außer Haus verbrachte, auch tatsächlich im Büro oder auf einer Baustelle beschäftigt war. Und das, obwohl sie es besser wusste. Wenn er müde und erschöpft war, würde sie deshalb ganz sicher kein Mitleid mit ihm haben.

Jacqueline und Reese hatten es geschafft, die Fassade aufrechtzuerhalten. In Wirklichkeit aber war ihre Ehe seit Jahren zerrüttet. Reese lebte sein Leben, und sie lebte ihres. Sie hatten nicht mehr miteinander geschlafen, seit Paul ausgezogen war, um zum College zu gehen – was ungefähr zwölf Jahre her war. Bis auf die Liebe zu ihrem Sohn gab es kaum noch etwas, das die beiden miteinander verband.

“Weil Tammie Lee ein Kind erwartet?”, fragte ihr Mann und ignorierte ihre Besorgnis.

Sie nickte. “Offensichtlich ist Tammie Lee ausgesprochen fruchtbar, genau wie ich es befürchtet hatte – die reinste Gebärmaschine.”

Reese runzelte die Stirn. Ihm missfiel die “natürliche Vorsicht”, die seine Frau Pauls Ehefrau gegenüber hegte. Allerdings war es richtig, dass sie nichts über die Familie dieser Frau wussten. Das bisschen, das Jacqueline aus Tammie Lees Geschichten von Tanten, Onkeln und Gott weiß wie vielen Cousinen und Cousins herausgehört hatte, war gelinde gesagt entmutigend.

Das Geräusch eines Krans, der über ihre Köpfe hinwegglitt, lenkte Reese einen Moment lang ab. Als er sich wieder seiner Frau zuwandte, runzelte er abermals die Stirn. “Du scheinst dich nicht darüber zu freuen.”

“Komm schon, Reese! Wie sollte ich mich denn fühlen?”

“Wie eine Frau, die zum ersten Mal Großmutter wird.”

Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. “Ich für meinen Teil bin nicht gerade begeistert.” Einige ihrer besten und liebsten Freundinnen genossen es, Großmutter zu sein. Aber Jacqueline bezweifelte, dass ihr die Anpassung an die neue Situation ebenso reibungslos gelingen würde.

“Jacquie, es geht um unser Enkelkind.”

“Warum überrascht mich deine Reaktion nicht?”, stieß Jacqueline wütend hervor. Diese Diskussion führten sie seit Langem. Sie hätte gar nicht von dem Thema angefangen, wenn es nicht diesen Streit mit Paul gegeben hätte. Sie fühlte sich ihrem Sohn auf eine besonders innige Weise verbunden. Er war der Grund, weshalb sie überhaupt an dieser “Gemeinschaft”, die sich Ehe nannte, festgehalten hatte. Paul war genau so, wie sie sich ihren Sohn immer gewünscht hatte: Er sah gut aus, war klug, erfolgreich und so vieles mehr. Nach einer Banklehre war er schnell die Karriereleiter hinaufgeklettert. Bis er vor einem Jahr etwas völlig Untypisches getan hatte – er hatte die falsche Frau geheiratet.

“Du hast Tammie Lee nie eine Chance gegeben”, beharrte Reese.

“Das ist nicht fair”, erwiderte Jacqueline und bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass ihre Stimme zitterte. Sie bemühte sich wahrlich, die unschöne Verbindung mit Tammie Lee zu akzeptieren. Aber nie im Leben würde sie verstehen, warum ihr sonst so vernünftiger Sohn diese Fremde heiraten musste … dieses Mädchen vom Lande. Dabei hatten so viele Töchter ihrer Freundinnen Interesse an Paul gezeigt. Er nannte Tammie Lee seine Südstaatenschönheit. Doch alles, was Jacqueline sah, war eine Hinterwäldlerin. “Ich hatte sie zum Mittagessen in den Klub eingeladen. Doch während des Essens habe ich mich so geschämt wie noch nie in meinem ganzen Leben. Ich habe sie Mary James vorgestellt, und das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass Tammie Lee über eingelegte Schweinefüße redete – mit der Präsidentin der Frauenvereinigung!” Es hatte Wochen gedauert, bis Jacqueline den Mut fand, ihrer Freundin wieder unter die Augen zu treten.

“Betreut Mary nicht die Gestaltung des Kochbuchs?”, fragte Reese. “Dann ist es doch absolut sinnvoll, wenn die beiden sich über …”

“Das Letzte, was ich brauche, ist, dass du mich auch noch kritisierst”, unterbrach Jacqueline ihren Mann. Es war absurd, ihm irgendetwas erklären zu wollen. Sie konnten sich nicht einmal mehr normal unterhalten. Außerdem ruinierte der Staub auf der Baustelle ihr Make-up, und der Wind zerstörte ihre mühevoll hochgesteckten Haare. Das war Reese natürlich egal. Er hatte keine Ahnung, was sie alles auf sich nahm, um so auszusehen. Und selbstverständlich konnte er sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit in ihrem Haarstyling oder ihrem Make-up steckte. Sie war mittlerweile Mitte fünfzig, und es brauchte geschickte Hände und einige Kunstgriffe, um ihr wahres Alter zu verstecken.

Er erhob seine Stimme: “Was genau hast du denn zu Paul gesagt?”

Jacqueline straffte die Schultern, um Haltung zu bewahren. “Nur dass ich mir gewünscht hätte, dass er noch eine Weile gewartet hätte, bevor er eine Familie gründet.”

Ihr Ehemann reichte ihr die Hand, um ihr in den Baucontainer zu helfen. “Komm rein.”

Sie ignorierte seine Hand und folgte ihm. Dies war das erste Mal, dass sie einen dieser Baucontainer von innen sah. Sie blickte sich um, entdeckte einen Stapel Baupläne, einige leere Kaffeetassen und eine Menge Unordnung. Der Raum glich einem Schweinestall.

“Du erzählst mir besser alles”, sagte Reese, während er Kaffee einschenkte und ihr schweigend eine Tasse reichte. Sie lehnte mit einem Kopfschütteln ab – schließlich wusste sie nicht, wann diese Tasse zum letzten Mal gespült worden war.

“Warum glaubst du, dass ich noch mehr gesagt habe? Reicht nicht die Tatsache, dass ich enttäuscht bin?”, fragte sie.

“Ich glaube es, weil ich dich kenne.”

“Na, vielen Dank.” Sie spürte einen Kloß im Hals, aber sie riss sich zusammen. Er sollte unter keinen Umständen merken, wie sehr seine Worte sie getroffen hatten. “Um die Angelegenheit noch zu verschlimmern: Tammie Lee ist bereits im sechsten Monat. Und natürlich hatte Paul eine passende Erklärung, warum er uns so lange nicht informiert hat. Er hat gesagt, sie wollten warten, bis die Schwangerschaft sicher ist.”

“Und du glaubst ihm nicht?” Reese verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Türrahmen.

“Natürlich nicht. Normalerweise wartet man drei Monate, bis man seinen Lieben die frohe Botschaft mitteilt”, sagte sie, und der sarkastische Tonfall in ihrer Stimme war nicht zu überhören. “Aber sechs? Wir beide wissen, dass er es auf die lange Bank geschoben hat, weil er genau weiß, wie ich mich dabei fühle. Ich habe es von Anfang an gesagt, und ich sage es wieder: Diese Ehe ist ein großer Fehler.”

“Aber Jacquie …”

“Was soll ich denn denken? Paul geht auf Geschäftsreise nach New Orleans und trifft in einer Bar dieses Mädchen.”

“Sie waren beide zu Gast bei derselben Tagung und haben sich am Abend noch auf einen Drink getroffen.”

Warum ritt ihr Mann auf solch unnützen Details herum? Das war typisch – er war auf Pauls Seite. Ihr blieb die Rolle der bösen Schwiegermutter. Nun gut. “Sie waren ganze drei Tage zusammen. Und dann erklärte er uns, dass er ein Mädchen geheiratet hat, das niemand von uns je zu Gesicht bekommen hat”, fuhr sie fort.

“In dem Punkt gebe ich dir recht”, lenkte er ein. “Ich hätte mir gewünscht, dass Paul uns von der Hochzeit erzählt. Aber das ist doch nun schon über ein Jahr her.”

Es schmerzte Jacqueline immer noch, dass ihr Sohn seine Trauung nicht kirchlich gefeiert hatte. So wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Sie glaubte, Paul habe ein Recht darauf gehabt – sie habe ein Recht darauf gehabt. Doch sie waren nicht einmal zur Hochzeit eingeladen worden.

Darüber mochte sie eigentlich nicht mehr nachdenken. Die einzige Entschuldigung ihres Sohnes besagte, dass er verliebt war. Dass er mit Tammie Lee den Rest seines Lebens verbringen wollte und dass er es nicht aushalten konnte, länger als unbedingt nötig von ihr getrennt zu sein. Das war der Grund, den Paul seinen Eltern nannte – aber Jacqueline hatte ihre Zweifel. Paul musste gewusst haben, dass sie nicht erfreut gewesen wäre. Und dass seine angeheirateten Verwandten ganz und gar nicht ihrer Vorstellung entsprachen. Sie konnte sich denken, wie die Hochzeit, die Tammie Lees Familie ausrichten würde, aussähe: Auf dem Empfang würden bestimmt Eintopf und Grütze gereicht. Es gäbe sicher frittierte Biskuitküchlein statt einer Hochzeitstorte.

“Tammie Lee ist kein halbes Jahr nach der Hochzeit schwanger geworden.” Sie machte sich nicht die Mühe, die Verachtung in ihrer Stimme zu verbergen.

“Paul ist über dreißig, Jacqueline”, erwiderte Reese und hatte wieder diesen missbilligenden Ausdruck in den Augen, den sie so sehr hasste.

“Und alt genug, um über Verhütung Bescheid zu wissen”, konterte sie. Ihr Sohn hatte ihr die Nachricht von der Schwangerschaft ebenso mitgeteilt wie damals die Nachricht von der Hochzeit: am Telefon und ohne Vorwarnung.

“Er hat mir erzählt, dass er sich eine Familie wünscht”, murmelte Reese.

“Aber nicht so früh, denke ich”, entgegnete sie. Mit ihrem Mann zu sprechen war einfach unmöglich. Ihm schien es vollkommen egal zu sein, dass Paul ein Mädchen unter seinem Stand geheiratet hatte. Sie versuchte ernsthaft, ihre Schwiegertochter in der Familie willkommen zu heißen. Doch sie konnte es einfach nicht aushalten, mehr als ein paar Minuten in ihrer Nähe zu sein. Tammie Lees oberflächliche Anmut und ihr unaufrichtiger Südstaatencharme waren unerträglich, fand Jacqueline.

“Paul freut sich auf das Baby, stimmt’s?”

Jacqueline lehnte sich gegen den Tisch und nickte. “Er ist total begeistert”, antwortete sie. “Jedenfalls sagt er das …”

“Also, wo ist dann das Problem?”

“Er … er glaubt nicht, dass ich eine besonders gute Großmutter abgeben werde.”

Reese kniff die Augen zusammen. “Was hast du zu ihm gesagt?”

“Oh Reese”, sagte sie und fühlte sich schrecklich. “Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe ihm vorgeworfen, dass diese Ehe ein schrecklicher Fehler ist und dass die Schwangerschaft alles nur noch viel schlimmer macht.” Sie hatte angenommen, dass Paul in ein oder zwei Jahren seinen Fehler selbst einsehen und der Ehe ein anständiges Ende bereiten würde. Aber ein Kind veränderte die Situation natürlich grundlegend.

“Das hast du nicht wirklich zu Paul gesagt, oder?” Er klang wütend, und das drängte sie nur noch weiter in die Defensive.

“Ich weiß, dass ich besser den Mund gehalten hätte. Aber kannst du mir einen Vorwurf daraus machen? Ich versuche mich gerade an den Gedanken zu gewöhnen, dass unser einziger Sohn mit einer Fremden auf und davon ist. Und im nächsten Moment überfällt er mich mit der Mitteilung, dass sie schwanger ist.”

“Es sollte eine freudige Nachricht sein.”

“Ist es aber nicht.”

“Für unseren Sohn und Tammie Lee schon.”

“Das ist auch so eine Sache”, rief sie aufgebracht. “Warum haben alle Mädchen aus dem Süden zwei Namen? Warum können wir sie nicht einfach Tammie nennen, ohne Lee?”

“So ist eben ihr Name.”

“Das ist lächerlich.”

Er sah sie an, als würde er sie in diesem Augenblick zum ersten Mal richtig wahrnehmen. “Warum bist du überhaupt so wütend?”

“Weil ich Angst habe, meinen Sohn zu verlieren.” Paul und ihre enge Beziehung zu ihm waren ihr einziger Trost in einem Leben, das ihr ansonsten wenig Anlass zur Freude bot. Und nun hatte sie etwas Dummes getan und ihren Sohn verletzt.

“Ruf ihn an und entschuldige dich.”

“Das will ich ja”, sagte sie.

“Du könntest Tammie Lee auch einen Blumenstrauß schicken.”

“Werde ich.” Trotzdem wäre es eine Geste Paul zuliebe, nicht seiner Frau.

“Warum gehst du nicht in den Blumenladen hier in der Blossom Street?”

Sie nickte. “Ich will aber noch mehr tun.” Sie hoffte, mit ihrem Vorhaben ein Zeichen zu setzen. Vielleicht würde ihr Sohn dann erkennen, dass sie sich alle Mühe gab, seine Ehefrau wirklich zu akzeptieren.

“Was?”

“Ich habe im Schaufenster des Wollladens einen Aushang entdeckt. Ich werde mich für einen Strickkurs anmelden. Auf dem Aushang steht, dass das erste Projekt eine Babydecke sein wird.”

Reese zeigte selten, dass er etwas, was sie tat, guthieß. Die Wärme des Lächelns, das in diesem Moment über sein Gesicht huschte, ging ihr durch und durch.

“Ich mag vielleicht Tammie Lee nicht sonderlich. Aber ich werde alles tun, um eine gute Großmutter zu sein.” Jemand musste schließlich für den richtigen Einfluss auf Pauls Kind sorgen. Sonst würde ihr Enkelkind am Ende mit eingelegten Gurken groß werden … oder womöglich auch mit diesem komischen Akzent durchs Leben gehen.