33. KAPITEL
Jacqueline Donovan
Am Freitagnachmittag kam Jacqueline wie üblich fünf Minuten zu spät zur Strickstunde ins A Good Yarn. Sich immer ein wenig zu verspäten war eine Angewohnheit, die sie schick fand und nicht so leicht ablegen konnte.
Sie war erstaunt, dass Carol fehlte. Alix hockte mit missmutiger Miene auf ihrem Stuhl.
“Wo ist Carol?”, fragte Jacqueline Lydia, die am anderen Ende des Tisches stand und Stricknadeln in der Hand hielt. Lydia hatte ihre Nadeln und ihre Wolle immer bei sich, und ihre Hände schienen nie untätig zu sein.
“Carol hat sich entschieden, heute Nachmittag zu Hause zu bleiben”, erklärte sie. “Ich fürchte, es gibt schlechte Neuigkeiten. Sie hat ihr Kind verloren.”
Jacqueline hatte das schon befürchtet. “Das tut mir leid.”
“Sie braucht ein paar Tage, um sich zu erholen. Aber ich hoffe, dass sie bald wieder bei uns sein wird.”
Jacqueline nickte. Carol tat ihr aufrichtig leid. Diese junge Frau hatte sich so sehr ein Kind gewünscht, sich fast schon verzweifelt danach gesehnt. Nun machte sich Jacqueline Sorgen um Carol und konnte nur hoffen, dass sie es schaffen würde, mit dem Verlust umzugehen. Sie erinnerte sich an ihre eigene Enttäuschung, als klar wurde, dass sie kein zweites Kind bekommen würde. Aber sie hatte Paul zur Welt gebracht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Doug und Carol ein Kind würden adoptieren können, war gering. Jacqueline seufzte. Das war unfassbar traurig. Und es gab nichts, was irgendjemand von ihnen hätte tun können.
“Ich befürchte, dass Carol früher oder später nicht mehr zu uns kommen wird”, sagte Lydia.
“Warum? Was meinst du?”, fragte Alix, und man konnte die Angst in ihrer Stimme hören.
“Sie hat nichts dergleichen gesagt, aber ich glaube, sie wird vielleicht wieder beginnen zu arbeiten. Der einzige Grund, warum sie gekündigt hat, war wegen des Babys. Und vor einigen Wochen hat sie mir verraten, dass die Immobilienfirma sie jederzeit wieder zurücknehmen würde.”
Alix sah – wenn das überhaupt möglich war – noch mutloser aus als vorher.
Jacqueline fragte sich, warum Alix diese Neuigkeit so mitnahm. Natürlich machte sie sich Sorgen um Carol, aber Jacqueline spürte, dass bei ihr noch mehr dahintersteckte.
“Wie geht es dir, Alix?”, fragte Jacqueline und griff in ihre Tasche, um das Strickzeug herauszuholen. Im Augenblick arbeitete sie an einem Schal für ihren Sohn. Sie benutzte hübsche Kammwolle in dem Braunton des Ponys, das Paul als Kind so geliebt hatte. Sie fragte sich, ob er sich überhaupt an das Tier erinnern und die Verbindung herstellen können würde.
“Okay”, murmelte Alix nur und hielt den Kopf gesenkt.
Jacqueline sah zu Lydia, die allerdings auch nur hilflos mit den Schultern zuckte – sie wusste offenbar genauso wenig, was mit Alix los war. Im Laden wurde es still. Das Schweigen wurde nur durch den Verkehrslärm unterbrochen, der durch die Fenster drang.
Alix sah auf. Jacqueline bemerkte, dass sie nicht länger an dem Männerpullover strickte, den sie von Carol übernommen hatte. Im Augenblick arbeitete sie an etwas komplett anderem.
“Was ist los?”, fragte Jacqueline unverblümt.
“Das geht dich nichts an”, erwiderte Alix. Ihre Augen blitzten, als warte sie nur darauf, zu einem Streit provoziert zu werden.
“Das sieht nach Ärger mit den Männern aus”, murmelte Jacqueline und sah Lydia an, die grinste und zustimmend nickte.
Alix presste die Lippen aufeinander. Sie reagierte aber nicht weiter, sondern schwieg.
“Ich denke ja, dass dieser junge Mann, mit dem du zusammen bist, der Grund für deine schlechte Laune ist.”
“Wir waren nicht zusammen – wir waren nur Freunde.”
“Waren?”, hakte Lydia nach. “Trefft ihr euch nicht mehr?”
“Hab ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Er hat mehr als nur eine Freundin, wenn ihr versteht, was ich meine.”
“Du hast ihn also mit einer anderen erwischt”, stellte Jacqueline fest.
Alix hatte den Kopf gesenkt und nickte schwach.
“Sie ist hübsch”, murmelte sie. “Und blond.” Das Mädchen aus der Kirche.
“Natürlich”, entgegnete Jacqueline sarkastisch. Auch sie ging aus irgendeinem Grund davon aus, dass die Geliebte von Reese blond sein musste. Und sie reagierte – ob sie nun wollte oder nicht – immer misstrauisch, wenn sich eine Blondine ihrem Ehemann näherte. Nicht dass es sie ernsthaft interessierte, sagte Jacqueline sich, aber ab und zu fragte sie sich schon, wie die andere wohl aussehen mochte. Doch gleichzeitig wollte sie es gar nicht wissen. Fakt war, dass sie es die meiste Zeit über vermied, an diese Frau zu denken.
Jacquelines Ehe war seit der Nacht, in der Reese einfach vom Esstisch aufgestanden und gegangen war, noch zerrütteter als vorher. Bis jetzt hatte Jacqueline ihm nicht verziehen – mehr noch, sie ging ihm regelrecht aus dem Weg.
Reese unternahm ebenfalls keine Anstrengungen, um den Graben, der zwischen ihnen klaffte, zu überwinden. Offensichtlich war die Tatsache, dass er am nächsten Morgen die herrlichen Rosen im Mülleimer gefunden hatte, unmissverständlich.
Die drei Frauen saßen schweigend beisammen und strickten. Lydia musste zweimal ihr Strickzeug beiseitelegen, um Kunden zu bedienen, und ließ Jacqueline und Alix allein.
“Ich schulde dir noch einen Gefallen”, sagte Jacqueline unvermittelt.
“Für was?”
Jacqueline war überrascht, dass Alix sich nicht mehr zu erinnern schien. “Mein liebes Kind, du hast mir das Leben gerettet.”
Ein Lächeln huschte über Alix’ Gesicht, das aber genauso schnell wieder verschwand, wie es erschienen war. Alix zuckte die Schultern, als sei es etwas vollkommen Normales, sich zwei Ganoven in den Weg zu stellen. Etwas Gewöhnliches, Alltägliches.
“Es ist an der Zeit, dass ich meine Schulden bei dir begleiche”, sagte Jacqueline entschieden.
Alix’ Neugier war geweckt. “Wie?”
“Ich denke”, begann Jacqueline, “wir sollten ein komplettes Umstyling machen. Natürlich auf meine Kosten.”
“Ein was?”
“Eine Schönheitsbehandlung.”
Alix runzelte die Stirn. “Und was soll das bringen?”
“Es könnte dir helfen, von einem gewissen jungen Mann endlich beachtet zu werden.”
“Was für eine Schönheitsbehandlung?” Alix bemühte sich, ihr Interesse zu verbergen – doch Jacqueline konnte sie damit nicht hinters Licht führen.
“Wir fangen mit deinen Haaren an.” Jacqueline betrachtete eingehend Alix’ lila gefärbte Haarspitzen und widerstand dem Drang, sich zu schütteln. Diese furchtbare Farbe musste selbstverständlich verschwinden. Sie machte einige Vorschläge und unterstrich ihre Worte mit entsprechenden Gesten. “Das Haar muss geschnitten und gestylt werden. Und vielleicht könnte man an der Farbe etwas machen.”
“Aber nur, wenn ich damit einverstanden bin”, sagte das Mädchen vorsichtig.
“Natürlich!”
“Jede Farbe, die ich möchte?”
“Solange es im Rahmen bleibt.”
Alix zuckte die Schultern. “Ich denke, das können wir machen.” Sie tat so, als würde sie Jacqueline damit einen Gefallen tun. Noch vor zwei Monaten wäre Jacqueline deswegen beleidigt gewesen. Aber mittlerweile wusste sie, dass es Alix’ Art war.
“Ich würde dich auch gern meinem Modeberater vorstellen und …”
Bevor Jacqueline ihren Satz beenden konnte, schüttelte Alix bereits heftig den Kopf. “Ich brauche keine Ratschläge, wann ich was anziehen soll.”
“Wie du willst, aber ich glaube trotzdem, dass wir dir zwei oder drei neue Outfits besorgen sollten.”
Noch immer zögerte Alix, aber schließlich nickte sie. “Auf deine Kosten?”
“Selbstverständlich.”
“Ich denke, das geht in Ordnung. Und wann soll die ganze Sache stattfinden?” Sie hörte sich an, als sei sie vollkommen im Stress und ihr Kalender mit Terminen nur so überfüllt.
“Bald.” Jacqueline legte ihr Strickzeug beiseite und holte ihr Handy hervor. “Ich rufe gleich mal bei Desiree an. Sie ist die beste Friseurin der Stadt. Und sie ist so beliebt, dass es manchmal Wochen dauert, bis man einen Termin ergattert.”
“Okay.” Mittlerweile konnte Alix ihre Freude und Aufregung nicht mehr verbergen. Sie versuchte es aber auch nicht länger. Ganz gerade saß sie am Tisch und kaute auf ihrer Unterlippe.
“Ich brauche einen Termin bei Desiree. Und zwar so schnell wie möglich”, sprach Jacqueline in ihr Handy. Sie hoffte, dass die Telefonistin des Hairstyling-Studios bemerkte, wie dringend die Angelegenheit war. Desiree war eine Topstylistin, und ihr Honorar war immens. Trotzdem war sie jeden Penny wert, denn sie vollbrachte wahre Wunder. Alle Frauen aus dem Countryclub waren Kunden von Desiree – und diejenigen, die es noch nicht waren, wollten es werden.
Ungeduldig harrte Jacqueline in der Warteschleife aus. Es schien ewig zu dauern, bis die Rezeptionistin sich endlich wieder meldete. “Desiree sagt, sie würde heute länger bleiben – wenn Sie also um halb fünf da sein könnten?”
“Halb fünf?”, wiederholte Jacqueline und warf Alix einen erwartungsvollen Blick zu. Als sie nickte, lächelte Jacqueline und sagte triumphierend: “Wir werden da sein.” Sie beendete die Verbindung und schob ihr Handy in ihre Tasche zurück. Sicherlich ahnte Alix nicht, was für ein Glück sie hatten. Jacqueline musste ihre Termine sonst Monate im Voraus buchen.
Lydia kam zurück. Und obwohl sie nicht viel von der Unterhaltung der beiden Frauen mitbekommen haben konnte, schien sie zu wissen, das etwas Positives und Gutes geschehen war. Sie nickte ihnen aufmunternd zu. Jetzt hatte Jacqueline eine Mission zu erfüllen. Und sie war sich sicher, dass sie mit einem ordentlichen Haarschnitt und gepflegter Kleidung aus Alix eine attraktive junge Dame machen konnte. Die Aufregung verursachte ihr sogar eine Gänsehaut. Das würde Spaß machen!
Sobald die Strickstunde vorüber war, fuhr Jacqueline mit Alix zu Nordstrom, um ihr ein neues Outfit zu besorgen. Sie selbst kaufte ihre Designer-Outfits auch in diesem Kaufhaus in Seattle. Es gab dort eine Angestellte, die sich seit Jahren um Jacquelines Kleidung kümmerte.
Victoria warf einen Blick auf Alix und machte sich sofort an die Arbeit. Jacqueline ging mit dem Mädchen in eine Umkleidekabine und war schockiert über die ausgewaschene und offenbar uralte Unterwäsche, die Alix trug. Sie bestand auf neuen BHs und Höschen – anständige Höschen wohlgemerkt und keine lächerlichen, unschicklichen Stringtangas.
Alix beschwerte sich – doch der Aufstand währte nicht lange. Aber auch wenn Jacqueline diese Schlacht gewann, war Alix die unangefochtene Siegerin des Krieges. Sie weigerte sich, den Designer-Hosenanzug oder sonst irgendetwas von dem, was Victoria brachte, anzuprobieren.
Da ihre Zeit an diesem Tag begrenzt war, musste Jacqueline sich fürs Erste damit zufriedengeben, Alix neue, qualitativ hochwertige Unterwäsche zu kaufen. Doch sie schwor sich, dass sie das Mädchen irgendwann in ein geschmackvolles Outfit stecken würde.
Unglücklicherweise verlief auch der Besuch beim Friseur etwas anders, als Jacqueline es sich vorgestellt hatte. Beim Anblick von Alix’ lila gefärbten Haarspitzen fing Desiree an zu keuchen und auf Französisch zu fluchen. Trotz jahrelangen Französischunterrichts an Schule und College konnte Jacqueline nicht verstehen, was die Frau sagte. Aber schon der Klang der Worte machte Jacqueline deren Inhalt deutlich.
Sie saß in der Wartezone und nippte an ihrem Kaffee, als plötzlich ein verbales Scharmützel ertönte. Zum Glück waren die meisten Kundinnen zu diesem Zeitpunkt bereits gegangen – sonst wären den Damen bei der lautstarken Auseinandersetzung zwischen Alix und Desiree wahrscheinlich die Ohren abgefallen.
Anderthalb Stunden nachdem sie angekommen waren, stürzte Alix wutschnaubend in Richtung Tür. Jacqueline erkannte sie kaum wieder. Vorbei war es mit den schwarz gefärbten Haaren, die an der Spitze in einem grellen Lila leuchteten. Stattdessen war Alix’ Haar in einem sanften Braunton gefärbt. Rote Highlights ließen die Frisur frisch und lebendig wirken. Die Farbe erinnerte Jacqueline an die Wolle, mit der sie den Schal für Paul strickte.
“Alix”, sagte sie und sprang auf. Wieder einmal hatte Desiree ein Wunder vollbracht. Sie hatte die Haare nicht nur gefärbt, sondern auch lockig gestylt.
“Ich hasse es”, rief Alix und fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durchs Haar. “Das bin nicht ich.”
“Nein, meine Liebe”, erwiderte Jacqueline geduldig. “Das ist dein neues Ich.”
Für einen Moment schien es, als würde Alix in Tränen ausbrechen. “Ich sehe aus wie … wie eine Streberin”, stöhnte sie.
“Du siehst bezaubernd aus.”
“Nein”, schrie sie. “Ich sehe aus wie eine, die in der Schule immer vorne sitzt und, wenn sie sich meldet, mit den Fingern schnipst.”
“Jetzt spinnst du”, sagte Jacqueline.
“Nein! Jeder wird mich auslachen!”
Das Mädchen reagierte in Jacquelines Augen absolut über. “Ich bin mir sicher, dass das nicht passieren wird!”
“Ich weiß, du hast es nur gut gemeint. Aber das hier bin nicht mehr ich … Das bin einfach nicht ich!”
Ohne ein Wort des Dankes stürmte Alix aus dem Salon und ließ eine sprachlose Jacqueline zurück.
“Wo haben Sie nur dieses Mädchen kennengelernt?”, fragte Desiree kopfschüttelnd.
“Das ist eine sehr lange Geschichte”, erwiderte Jacqueline und fühlte sich mit einem Mal furchtbar. Sie hatte Alix doch nur eine Freude machen und ihr ihre Wertschätzung beweisen wollen. Doch das war kräftig danebengegangen.
Als sie nach Hause kam, traf sie Reese in der Küche. Er nahm sich gerade ein Bier aus dem Kühlschrank.
“Ist alles in Ordnung mit dir?”, fragte er, als sie an ihm vorbeilief.
Jacqueline überraschte seine Frage. Seit Tagen hatten sie nur noch das Nötigste miteinander gesprochen. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie wahrscheinlich so getan, als würde sie ihn nicht hören. Aber im Augenblick war sie verletzt und verwirrt und nicht fähig, das zu verbergen.
Sie konnte sich nicht erklären, wie ihre guten Absichten gegenüber Alix so schieflaufen konnten. Erschöpft ließ sie sich am Küchentisch nieder und nahm dankbar das Glas Wein entgegen, das Reese ihr reichte. Dann begann sie, von ihrem Abenteuer mit Alix zu erzählen.
“Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe!”, schloss sie verzweifelt.
“Wie alt ist Alix?”, fragte Reese.
Jacqueline war sich nicht ganz sicher. “Anfang zwanzig, denke ich.”
“Du hast versucht, sie komplett zu verändern. Sie in einen anderen Menschen zu verwandeln, Jacquie.”
“Das habe ich mit Sicherheit nicht getan”, erwiderte sie wutschnaubend. Typisch, dass er die Schuld wieder einmal bei ihr suchte. Das hätte sie sich denken können.
Doch mit einem Mal wusste sie, dass er recht hatte. Sie hatte das Mädchen zu ihrem Modeberater und zu ihrem Friseur geschleift. Reeses und Jacquelines Blicke trafen sich. Und langsam nickte sie. “Vielleicht habe ich das tatsächlich versucht.”
“Frag doch das nächste Mal Tammie Lee, ob sie dir ein paar Tipps geben kann.”
“Tammie Lee”, wiederholte sie und schüttelte ganz automatisch den Kopf. “Sie hätte es auch nicht besser gemacht als ich.”
“Vielleicht nicht. Aber sie ist nicht viel älter als Alix und hat möglicherweise ein paar Ideen.”
“Ich könnte sie ja eventuell doch mal fragen”, entgegnete sie lahm. Wahrscheinlich machte es ihre Schwiegertochter nicht besser als sie selbst, aber mit Sicherheit auch nicht schlechter.