15. KAPITEL

Carol Girard

Die ganze Woche über war Carol guter Laune. Sie und Doug hatten am Abend zuvor ein köstliches Thai-Dinner genossen. Danach hatte sie einige ermutigende Gespräche mit ihrer Online-Gruppe geführt. Und ihre Strickkünste verbesserten sich auch immer mehr! Sie freute sich auf die Unterrichtsstunde am folgenden Tag – die vierte Lektion. In den vergangenen drei Wochen hatte sie angefangen, das Stricken zu genießen. Sie nahm es mit derselben Begeisterung und Energie in Angriff wie auf einmal alles andere in ihrem Leben. Ihre erste Babydecke hatte leider einige kleine Fehler. Deshalb schenkte sie die Decke dem Linus-Projekt, kaufte sich neues Garn und begann eine zweite. Mittlerweile hatte sie das Stricken besser unter Kontrolle und war zufrieden, dass diese Babydecke so gut und regelmäßig aussah.

Carol holte die Post und legte sie auf den Tisch. Oben auf dem Stapel lag ein Umschlag, der an sie adressiert war. Sie erkannte den Namen einer Schulfreundin, die inzwischen geheiratet hatte und nach Kalifornien gezogen war. Sie riss den Umschlag auf und war gespannt, von Christine zu hören. Es dauerte nicht lang, bis sie feststellte, dass es kein einfacher Brief war. Der Briefumschlag enthielt eine Karte zur Geburt von Christines Baby.

Carols Laune sank augenblicklich. Sie holte Luft und setzte sich an den Küchentisch, als sie die Einzelheiten über Christines Kind las. Es hatte vor zwei Wochen, am 27. Mai, das Licht der Welt erblickt. Ein kleiner Junge.

Christine war jemand, der alles nach einem vorher festgelegten Plan machte. Das bedeutete, den richtigen Mann zu heiraten, dann schwanger zu werden und ein gesundes Kind zur Welt zu bringen.

Sie schluckte. Nur wenige Leute konnten verstehen, wie niedergeschlagen sie sich im Moment fühlte. Ihre Online-Gruppe wusste, was in ihr vorging.

Sie saß am Tisch und starrte an die Wand, während sie versuchte, das Gefühl von Unzulänglichkeit und Frustration zu überwinden. Sie freute sich für Christine und deren Mann Bill. Doch zugleich wollte sie sich die Haare raufen und schreien – und endlich wissen, warum sie es nicht war, die endlich schwanger wurde. Warum ihr Körper nicht so funktionierte, wie der aller anderen Frauen. Diese Fragen hatte sie sich und jedem Experten, den sie traf, schon unzählige Male gestellt. Doch trotzdem wusste sie keine Antwort darauf.

Irgendwann würde sie ihr Baby haben. Sie musste daran glauben. Aber es dauerte so viel länger, als sie gedacht hatte. Das Warten machte sie wahnsinnig. Sie musste warten, bis sie Termine bei den Spezialisten bekam. Dann musste sie warten, bis sie die Tests machen durfte, warten, bis die Therapie begann und schließlich warten auf weitere Behandlungsmöglichkeiten. Und es waren keine schönen Erfahrungen, die sie in dieser Zeit machte. Auf ihre Privatsphäre musste sie gänzlich verzichten.

Carols Periode war für sie mehr geworden als nur eine allmonatliche Belastung; es schien, als kreiste ihre ganze Welt nur noch um ihren Zyklus. Jedes Mal wenn sie ihre Regel bekam, brach ihr das Herz, und sie kämpfte wieder gegen die Enttäuschung an.

Sie wusste, dass viele ihrer Freunde sie für verrückt hielten. Sie war es. Aber sie hatte auch furchtbare Angst.

Das Liebesspiel mit Doug war zur Routine geworden. Sex nach einem festgelegten Plan. Und dann das quälende Warten, die häufigen Besuche im Bad, nur um nachzuschauen. Hatte ihre Periode eingesetzt? Und wenn es dann so weit war …

Dieser dritte Versuch der künstlichen Befruchtung musste klappen, er musste einfach funktionieren.

Wenn ihr doch nur jemand eine eindeutige Antwort geben könnte. Wenn Dr. Ford ihr und Doug doch nur sagen könnte, ob sie jemals die Chance auf ein eigenes Kind hätten. Auch mit einer negativen Antwort würden sie lernen, umzugehen. Sie würden sich arrangieren und andere Pläne machen.

Stattdessen schürte er ihre Hoffnung. Zweimal waren diese Hoffnungen enttäuscht worden. Doch sie und Doug hatten sich von dem Schlag erholt und wollten es noch einmal versuchen. Sie wollten alles tun, alles geben, alles opfern, um ein Baby zu bekommen.

Carol fuhr sich über die Augen und stand auf, um Teewasser aufzusetzen – natürlich für einen milden Tee ohne Tein. Sie hatte damit begonnen, viele Lebensmittel nicht mehr zu sich zu nehmen – aus der Angst heraus, sie könnten sich negativ auf die Empfängnisbereitschaft ihres Körpers auswirken. Ihre Einkaufsliste las sich mittlerweile wie das Angebot eines Naturkostladens. Einige Experten glaubten, die Ernährung sei wichtig. Andere dachten dagegen, sie habe keinen entscheidenden Einfluss auf die Fruchtbarkeit. Carol wollte überhaupt keine Risiken eingehen. Sie würde alles ausprobieren, um endlich schwanger zu werden – und zu bleiben.

Es fühlte sich an, als bewege sich ihr gesamtes Leben in einer Art Warteschleife. Sie hatte eine vielversprechende Karriere an den Nagel gehängt und war zu den besten Ärzten gegangen. Sie aß nur noch die “richtigen” Lebensmittel, hörte sich Kassetten an, die sie aufbauen und motivieren sollten, und wiederholte brav die Mantras, die sie gelernt hatte. Carol wollte daran glauben, dass ihr Geist ihren Körper kontrollieren konnte und dass die bloße Kraft ihrer Entschlossenheit ihr am Ende das bringen würde, was sie sich so sehr wünschte.

Sie setzte sich wieder hin und wartete darauf, dass das Wasser kochte. Eine kurze handgeschriebene Notiz von Christine weckte ihre Aufmerksamkeit. Carol hatte sie bisher auf der Geburtsanzeige übersehen. In Christines hübscher Handschrift stand dort: Ich habe so lange nichts mehr von dir gehört!

Es gab einen guten Grund dafür. Ihre Freundschaft zu Christine war nicht die einzige, die langsam aber sicher eingeschlafen war. Sie hatte viele ihrer guten Freunde vernachlässigt. Das lag vor allem daran, dass der Kampf, endlich schwanger zu werden, so viel Kraft forderte. Und die Freunde, die schon Kinder hatten, taten sich eher mit Pärchen zusammen, die ebenfalls Eltern waren.

Carol und Doug hatten immer weniger gemeinsam mit diesen Freunden, deren Leben sich nur noch um Kinder, Spielplätze und Geburtstagsfeiern zu drehen schien. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wurden oft langatmige Diskussionen geführt, die die beiden ausschlossen. In diesen Gesprächen ging es um Schulen oder Tagesmütter, um Wutanfälle der Kinder oder die Probleme, die auftraten, wenn die lieben Kleinen zahnten.

Und dann gab es noch Leute, die ihre Probleme, ihre Sehnsucht nach einem Kind nicht ernst nahmen. Eine Frau aus dem Büro hatte lachend vorgeschlagen, Carol könne gern eines von ihren vier Kindern großziehen. Andere wiederum wollten sie aufmuntern und erzählten, es würde nicht mehr lange dauern. Die moderne Medizin sei so fortgeschritten, dass Carol bestimmt schon im nächsten Jahr schwanger wäre. Doch sie war es nicht – und eine Angst, die lange in ihrem Innersten geschwelt hatte, wurde immer größer. Es war möglich, dass sie und Doug niemals ein Kind bekommen würden. Zwar konnte sie es kaum ertragen, aber sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen. Ewig konnte sie so nicht weitermachen.

Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Sie erhob sich langsam und goss das kochende Wasser in ihre Teetasse. Man durfte diese negativen Gedanken einfach nicht zulassen. Das machte alles nur noch schlimmer. Sie musste weiter an ihren Traum glauben! Eine Geburtsanzeige durfte sie nicht so aus der Bahn werfen. Gott hatte ihr ein Zeichen gegeben. Sie musste glauben, musste alle düsteren Gedanken beiseiteschieben. Sie hatte Hoffnung …

Die Tür wurde geöffnet, und Carol fuhr herum. So spät war es schon? “Doug! Hast du schon Feierabend?” Sie bemühte sich um einen lockeren Tonfall, spürte jedoch, dass ihr das gründlich misslungen war.

“Alles in Ordnung bei dir?”, fragte er und musterte sie.

“Natürlich.”

Er sah nicht eben überzeugt aus.

“Hattest du einen schönen Tag?”, fragte sie und widmete sich wieder dem Tee.

“Sicher.”

Doug entdeckte die Post. Er ging zum Tisch und sah Christines und Bills Karte. Carol beobachtete ihn, als er die Zeilen las. Sie wollte vor Schmerz schreien, als sie die Sehnsucht in seinem Blick bemerkte. Nach einer Weile legte er die Karte zur Seite, als wäre sie nicht so wichtig. Sie wusste, dass es nicht so war.

“Es ist ein kleiner Junge”, sagte sie und bemühte sich, möglichst beiläufig zu klingen.

“Ja, das habe ich gesehen.”

Das hätte ich sein müssen, wollte sie schreien. Sie hätten diejenigen sein sollen, die Karten zur Geburt verschickten. Sie waren gute Menschen. Sie führten eine vorbildliche Ehe. Und sie wären sicher wundervolle Eltern …

Die Unfruchtbarkeit bedeutete eine stetige Belastung für ihre Beziehung. Doug hatte in der ganzen Zeit ebenso viele Demütigungen hinnehmen müssen wie sie selbst. Die Samenspende im Badezimmer neben dem Wartezimmer in Dr. Fords Praxis, die postkoitalen Untersuchungen – all das war furchtbar für ihn.

Viele Leute versicherten ihr, dass sie eines Tages über all das lachen würden. Carol glaubte nicht, dass das möglich sein würde.

“Ich bin mit der zweiten Babydecke fast fertig. Morgen ist die nächste Unterrichtsstunde.”

Ihr Ehemann nickte, griff sich die Zeitung und ging zu seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer.

Sie wollte ihn anschreien. Er solle endlich etwas sagen! Doch stattdessen verkniff sie sich die Worte und begann, das Abendessen vorzubereiten – obwohl sie überhaupt keinen Appetit verspürte.