44. KAPITEL
“Stricken bietet eine Zuflucht, einen sicheren Platz, an dem man die Geschichte spüren, mit der Kunst tanzen und ein friedvolles Leben kreieren kann.”
(Nancy Bush, Autorin des Buches Folk Socks)
Lydia Hoffman
Zuerst war ich wütend, als ich nichts von Brad hörte. Nach all seinen Beteuerungen, dass er den langen Weg mit mir gemeinsam gehen würde, war er wie jeder andere Mann in meinem Leben – ausgenommen Dad – einfach verschwunden. Unzählige Male wünschte ich mir, ich hätte Brads Brief gelesen. Und schließlich hielt ich es nicht länger aus – ich musste es wissen.
Ich wandte mich Hilfe suchend an meine Schwester. Mehr und mehr vertraute ich ihr, besonders in Fragen zu Beziehungen und Gefühlen. Und so rief ich sie am Montag an.
“Wo bist du?”, fragte Margaret, nachdem ich sie begrüßt hatte.
“Im Laden.”
“Es ist Montag. Ich dachte, der Laden ist montags geschlossen.”
“Ja, das stimmt. Aber es gibt immer eine Menge Dinge zu tun. Und außerdem fühle ich mich hier einfach wohl.”
Mit all der Wolle um mich herum kommen mir die besten Ideen. Ich habe die Wollknäuel immer als unerfüllte Versprechen angesehen – so wie Autoren oder Künstler vielleicht ein leeres Blatt Papier betrachten. Das Potenzial ist da, und es liegt an einem selbst, etwas aus dem Garn zu gestalten oder Worte zu Papier zu bringen. Es sind die Möglichkeiten, die ich so spannend finde.
Meine Beziehung zu Brad hatte so vielversprechend begonnen, und ich ließ ihn aus lauter Angst gehen. Ich hatte nichts aus meinen Möglichkeiten gemacht.
“Du rufst wegen Brad an, stimmt’s?”
Manchmal schien Margaret meine Gedanken lesen zu können. “Ja … hast du von ihm gehört?”
“Ich? Warum, glaubst du, sollte er sich bei mir melden?”
“Möglicherweise war der Wunsch Vater des Gedankens.” Obwohl wir nur miteinander telefonierten, war ich mir sicher, dass meine Schwester meine Frage amüsant fand.
“Wirst du ihn anrufen?”
Der Gedanke schwirrte schon seit einer Woche in meinem Kopf herum. “Vielleicht.”
“Warum rufst du mich an?” Der barsche Ton, den ich von ihr kannte, war wieder da.
“Ich weiß nicht”, gab ich zu. “Vielleicht habe ich gehofft, dass du mir sagst, was ich tun soll – nur, damit ich keine komplette Idiotin aus mir mache.”
Sie zögerte einen Moment lang. “Wenn ich du wäre, würde ich die Gelegenheit ergreifen.”
“Würdest du?” Ein Funke Hoffnung glimmte auf.
“Ruf mich noch mal an, wenn du es getan hast, ja?”
“Okay.” Ich hielt einen Moment inne und konnte kaum glauben, dass die Wärme in ihrer Stimme wirklich mir galt. “Margaret …” Ich brach ab und wusste nun nicht, wie ich fortfahren sollte.
“Ja, was denn?”
“Ich wollte dir nur Danke sagen, weil du in den letzten Monaten so wunderbar zu mir warst.”
Meine Dankbarkeit überraschte sie offenbar, denn für ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Die Zeit schien stillzustehen, bis ich glaubte, ein leises Seufzen zu hören.
“Es ist toll, eine Schwester zu haben”, flüsterte sie.
Ich empfand es genauso.
Als ich mich entschieden hatte, dass der einzig richtige Weg ein Anruf bei Brad war, fühlte ich mich, als hätte ich eine Mission zu erfüllen. Ich probte einige Male, was ich sagen wollte, bevor ich mir ein Herz fasste und seine Nummer wählte.
Sein Sohn meldete sich beim zweiten Klingeln. “Hallo Cody”, sagte ich.
“Hi.” Er klang unsicher, so als würde er meine Stimme nicht erkennen.
“Hier ist Lydia. Erinnerst du dich an mich? Es ist schon eine Weile her, dass wir uns getroffen haben.”
“Ja, ich weiß! Du bist die Tante mit dem Wollladen. Du hast versprochen, mir einen coolen Pullover mit einem grün-gelben Dinosaurier darauf zu stricken.”
Ich lächelte. “Ich habe schon damit angefangen.” Als ich ins Krankenhaus musste, hatte ich das Projekt beiseitegelegt. Aber mit ein bisschen Anstrengung würde ich es vielleicht bis zum Ende der Woche fertigstellen. “Ist dein Dad zu Hause?”
“Einen Moment. Ich hole ihn.”
Ich starb tausend Tode, bis Brad endlich den Hörer in die Hand nahm. Wahrscheinlich hatte es nicht einmal eine Minute gedauert, doch mir kam es vor, als sei eine Stunde vergangen.
“Hallo.”
“Hi.” Mein Mund war so trocken, dass meine Zunge ihren Dienst verweigerte. “Ich bin es, Lydia.” Sein Schweigen war unglaublich schmerzlich, aber ich ließ mich nicht beirren – wobei ich Margaret gleichzeitig dankte und sie verfluchte, weil sie mich zu diesem Schritt ermutigt hatte.
“Was kann ich für dich tun?”, fragte er schließlich.
“Könnten wir uns treffen und reden?”, entgegnete ich.
“Wann?”
“Wann immer es dir passt.” Ich wollte schreien: “Je früher, desto besser!”, doch ich verkniff es mir. Es musste in seinen Zeitplan passen, nicht in meinen.
“Also gut. Ich lasse dich wissen, wann ich es einrichten kann.”
Ich wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Aber als er weiter schwieg, blieb mir nichts anderes übrig, als die Unterhaltung zu beenden. “Dann warte ich auf deinen Anruf.”
“Bis bald.”
“Bis bald.” Die Verbindung war unterbrochen. Da stand ich mit dem Hörer in der Hand und dem Freizeichen im Ohr.
Das Telefonat war schlimmer als befürchtet. Insgeheim hatte ich gehofft, dass Brad beim Klang meiner Stimme so erfreut sein würde, dass, was immer ich ihm angetan hatte, sich in nichts auflösen würde. Wie dumm von mir, seine Gefühle so wenig ernst zu nehmen.
Margaret hatte mir in den letzten Jahren so oft vorgeworfen, egozentrisch zu sein. Ich wusste, dass sie nicht damit klarkam, dass Mom und Dad damals ihre Aufmerksamkeit auf mich fokussierten, um mir durch die schlimme Zeit der Krankheit zu helfen. Eigentlich war ich mir immer sicher, ihre Vorwürfe seien haltlos, geboren aus ihrer Eifersucht und ihrer Unsicherheit. Doch mittlerweile begann ich, die Dinge anders zu sehen.
Wie betrogen musste sie sich gefühlt haben. Betrogen und vernachlässigt. Zum ersten Mal ließ ich den Gedanken zu, dass sie vielleicht recht hatte. Zwar lag es nicht in meiner Macht, etwas gegen den Krebs zu tun, aber meine Reaktion darauf hätte anders sein können. Ich hatte die Opferrolle zur Perfektion getrieben.
Noch immer stand ich in der Küche und spielte gerade mit dem Gedanken, Margaret anzurufen. Plötzlich klingelte das Telefon, und ich erschrak. Ich ergriff den Hörer. “Hallo?”
“Wir könnten uns in einer halben Stunde im Pour House treffen”, erklang Brads Stimme.
“Heute?”
“Ja”, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
“Okay.” Ich hörte, wie das Telefon klickte, als er auflegte.
In fünf Minuten hatte ich mein Haar gekämmt und ein wohlduftendes französisches Parfum auf meine Handgelenke gesprüht. Mein Dad hatte es mir vor Jahren geschenkt – ich benutzte es nur für wirklich wichtige Anlässe. Auf meinem Weg nach draußen ergriff ich noch einen leichten Pullover, dann eilte ich los.
Ich fand gleich einen Tisch und hatte bereits einen Krug Bier bezahlt, als Brad hereinkam. Aufmerksam blickte er sich um, entdeckte mich und kam zu mir. Er setzte sich auf die Bank mir gegenüber.
Obwohl ich mich bemühte, etwas zu sagen, konnte ich nicht anders, als Brad einfach nur anzuschauen. Und plötzlich füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich glaubte, vor Scham sterben zu müssen, wenn er es bemerken würde. So senkte ich meinen Kopf und starrte angestrengt in mein Glas Bier.
Doch natürlich merkte er es.
“Lydia, weinst du?”
Ich nickte und kramte, auf der Suche nach einem Taschentuch, hektisch in meiner Handtasche. “Es tut mir so leid”, schluchzte ich und versuchte die Tränen zurückzuhalten.
“Dass du weinst?”
Ich nickte und ließ meinen Kopf ein bisschen mehr hängen, als nötig gewesen wäre. “Alles tut mir leid. Ich habe dich furchtbar behandelt.”
“Ja, das stimmt.”
“Ich hatte solche Angst und …”
“Du hast meinen Brief nicht gelesen.”
“Ich weiß.” Ich hielt inne und putzte mir die Nase. “Ich konnte es nicht – wenn ich es getan hätte, dann hätte ich dich nicht einfach so aus meinem Leben gehen lassen können. Doch ich musste dich gehen lassen – um deinet- und um meinetwillen.”
Brad nahm den Krug und füllte mein Glas. “Ich treffe meine Entscheidungen lieber selbst.”
“Ich weiß, aber …” All meine Entschuldigungen würden hohl und unehrlich klingen. “Margaret denkt, ich bin egozentrisch, und ich glaube, sie hat leider recht. Es tut mir wirklich leid, Brad … alles.”
“Das ist es, was du mir sagen wolltest? Darum hast du mich angerufen und gebeten, mich mit dir zu treffen?”
Wieder nickte ich. Das hatte ich ihm sagen wollen. Doch es gab natürlich noch mehr, worüber ich mit ihm sprechen musste. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und das Schweigen zwischen uns war kaum zu ertragen.
“Da ist noch mehr.”
Brad sah erwartungsvoll von seinem Bier auf. Er machte es mir nicht eben leicht, doch das hatte ich wohl nicht anders verdient.
“Seit ich dich zum ersten Mal getroffen habe, bin ich … glücklich.”
Er zuckte die Schultern. “Du kannst mir viel erzählen.”
“Ich weiß. Ich schätze, ich habe Schwierigkeiten mit dem Leben, wenn alles so glattgeht. Ich bin es einfach nicht gewohnt, glücklich zu sein, und kann damit nicht umgehen. Also tue ich etwas Dummes und zerstöre alles.”
“Bist du von allein darauf gekommen?”
Ich schüttelte den Kopf. “Margaret hat mir geholfen.” Zwar nicht auf besonders einfühlsame Weise, aber das musste er nicht erfahren. Die Beziehung zu meiner Schwester war noch immer kompliziert, doch mittlerweile wusste ich immerhin, dass sie sich um mich sorgte.
“Ach ja, Margaret. Die kleine Miss Ehestifterin.”
“Sie ist in Ordnung.” Es überraschte mich, dass ich sie ganz automatisch in Schutz nahm.
“Ja, das ist sie – und du bist es auch.”
Unter Tränen musste ich lächeln. “Danke.”
Er nahm einen großen Schluck Bier. “Okay. Jetzt, da wir die Entschuldigungen hinter uns haben … was nun?”
Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. “Wohin soll unsere Beziehung denn deiner Meinung nach führen?” Mein Herz hämmerte so laut, dass ich kaum meine eigenen Gedanken verstehen konnte.
“In dieselbe Richtung, die wir eingeschlagen hatten, bevor du ins Krankenhaus gegangen bist”, sagte er. Brad sah mich eindringlich an, während er nach meiner Hand griff. “Und was denkst du, Lydia? Was wünschst du dir?”
“Ich möchte den ganzen letzten Monat einfach aus meinem Gedächtnis streichen, und ich will, dass es wieder so wird wie vorher … und ich wünsche mir, dass wir wieder zusammen sind.” Dann fügte ich hinzu, weil er sich dessen bewusst sein sollte: “Ich möchte, dass du verstehst, dass es keine Garantien gibt.”
“Deine Schwester hat mir alles erzählt.”
“Alles?” Dann kannte er die Wahrheit. “Und du willst immer noch …”
“Ich möchte es mehr als je zuvor, Lydia. Aber ich will nicht, dass du mich aus deinem Leben ausschließt, weil du glaubst, ich könnte nicht mit deiner Krankheit umgehen. Lass mich diese Entscheidungen bitte allein treffen.”
Es war nicht einfach, ihm dieses Versprechen zu geben. Doch ich wusste, dass er recht hatte. Er bat mich damit um mehr, als er ahnte.
“Ich kann dir auch keine Garantien geben”, fuhr er fort, “aber ich kann dir sagen, dass du mir sehr am Herzen liegst.”
“Du mir auch.”
“Das ist doch schon mal ein Anfang – wohin uns der Weg schließlich führen wird, kann niemand sagen.” Er lächelte mich mit seinen unfassbar blauen Augen an. Ich erkannte, dass Brad Goetz nicht bei dem ersten Anzeichen eines Problems die Beine unter die Arme nehmen und davonlaufen würde. Er war ein Mann, dem ich vertrauen konnte. Ein Mann, an den ich mich anlehnen durfte. Ein Mann, der meinem geliebten Vater in jeder Hinsicht glich.