4. KAPITEL
Alix Townsend
Mit dem Absatz ihres kniehohen schwarzen Stiefels zertrat Alix Townsend den Zigarettenstummel, den sie soeben auf den rissigen Bürgersteig aus Beton geworfen hatte. Der Manager des Videoladens in der Blossom Street sah es nicht gern, wenn die Mitarbeiter im Pausenraum rauchten. Um sich seine Bemerkungen zu ersparen, zog sie es vor, draußen ihre Zigarettenpause zu machen. Der Kerl war ein Idiot, der andauernd und ununterbrochen über seine Angestellten, die Wirtschaftslage und das Leben im Allgemeinen nörgelte.
Ihr Chef hatte allerdings in einem Punkt recht: Die Bauarbeiten ruinierten langsam, aber sicher sein Geschäft. Alix glaubte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Kündigung wegen Personalabbaus erhalten würde. Und gleich anschließend die Benachrichtigung, dass ihr Apartmenthaus verkauft worden sei und dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen müsse. Mit all den Sanierungsmaßnahmen, die in der Gegend stattfanden, war das praktisch unumgänglich. Entweder das – oder sie würde eine gewaltige Mieterhöhung erwarten können. Vielen Dank, Herr Bürgermeister.
Sie vergrub die Hände in den Taschen ihres schwarzen Ledermantels und blickte die Straße entlang auf den Staub und den Bauschutt. Sie trug ihren Ledermantel ständig – egal ob es regnete oder die Sonne schien, im Sommer wie im Winter. Dieser Mantel hatte sie eine Menge gekostet, und sie würde ihn ganz sicher nicht ausziehen, damit irgendjemand ihn ihr stehlen und damit abhauen könnte. Jemand wie ihre Mitbewohnerin zum Beispiel, die übergewichtige Laurel – obwohl Alix bezweifelte, dass ihre Klamotten Laurel passten. Lässig an die Mauer gelehnt, ein Knie angezogen und den Fuß gegen die Mauer gestützt, konzentrierte Alix sich auf die andere Straßenseite.
Sämtliche Ladenfronten waren frisch gestrichen. Der neue Blumenladen hatte, genau wie der Kosmetiksalon, bereits eröffnet. Diese Läden waren echt ein Segen für die Nachbarschaft – als ob sie jemals etwas in dem einen oder anderen Geschäft kaufen würde. Sie schnaubte verächtlich. Was in dem Laden, der sich zwischen den beiden anderen befand, angeboten wurde, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. A Good Yarn. Sie sah sich das Geschäft genauer an und entschied, dass es sich um einen Wollladen handeln musste. Die Menschen hier wirkten nicht so, als würden sie beim Anblick eines Wollknäuels in Begeisterungsstürme ausbrechen.
Ein Strickgeschäft eröffnete jedoch noch eine andere Möglichkeit … Da sie noch fünf Minuten Pause hatte, überquerte sie die Straße. Sie blinzelte durch das Fenster und entdeckte ein handgeschriebenes Schild, auf dem ein Strickkurs angekündigt wurde. Wenn sie anfinge zu stricken, würden die Behörden und das Gericht sie vielleicht endlich in Ruhe lassen – denn möglicherweise könnte sie auf diese Weise die gemeinnützigen Stunden abarbeiten, die der Richter ihr aufgebrummt hatte.
“Hi”, sagte sie laut, als sie durch die Eingangstür trat. Sie liebte große Auftritte.
“Hallo.”
Die Besitzerin war eine anmutige, zerbrechlich wirkende Frau mit ausdrucksstarken braunen Augen und einem offenen Lächeln.
“Gehört Ihnen der Laden?”, fragte Alix und musterte die andere Frau abschätzig. Sie konnte nicht viel älter sein als sie selbst.
“Das ist mein Geschäft.” Sie erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl. “Wie kann ich Ihnen helfen?”
“Ich würde gern mehr über den Strickkurs erfahren.” Ihr Sozialarbeiter hatte irgendwann einmal vorgeschlagen, Aggressionen mit einer Tätigkeit wie Stricken abzubauen. Vielleicht würde das tatsächlich funktionieren. Und wenn sie damit ihre gemeinnützigen Stunden ableisten konnte …
“Was soll ich Ihnen erzählen?”
Langsam schlenderte Alix durch den Laden, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Sie sah sich um. Wetten, dass die Stricklady nicht besonders viele Kunden hatte? Vor einiger Zeit hatte ein Aushang im Gericht Alix’ Aufmerksamkeit erregt – in dem Schreiben ging es um handgearbeitete Steppdecken und Wolldecken für Kinder, die zu Hause misshandelt worden waren. “Haben Sie schon einmal vom Linus-Projekt gehört?”, fragte sie, obwohl sie sich beinahe sicher war, dass diese Frau noch nie einen Fuß in ein Gerichtsgebäude gesetzt hatte.
“Natürlich.” Die Frau faltete die Hände und folgte ihr durch den Laden. Es schien, als habe sie Angst, Alix könne versuchen, das ein oder andere Wollknäuel mitgehen zu lassen. “Das ist ein Projekt, das von der Polizei initiiert wurde. Es hat unter anderem zum Ziel, Decken für Kinder herzustellen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind.”
“Genau.”
“Ich bin übrigens Lydia.”
“Alix. A-L-I-X.” Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Frau ihren Vornamen nennen würde. Aber gut.
“Hallo, Alix, und willkommen im A Good Yarn. Sind Sie daran interessiert, am Linus-Projekt teilzunehmen?”
“Also …” Sie hatte noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht. “Könnte ich machen, wenn ich wüsste, wie man strickt”, sagte sie schließlich leise.
“Aber dafür gebe ich den Kurs doch.”
Alix stieß ein kurzes bitteres Lachen aus. “Ich bin mir sicher, dass ich zum Stricken nicht tauge.”
“Würden Sie es denn gern lernen? Es ist wirklich nicht schwierig.”
Alix schnaubte verächtlich. Die Wahrheit sah so aus: Sie hatte keine Ahnung, warum sie überhaupt hier war. Vielleicht hatte irgendein Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit – ein Gefühl, ein Moment – sie hier in diesen kleinen Laden geführt. Die frühen Jahre ihres Lebens waren aus ihrem Gedächtnis gestrichen, verbannt, einfach nicht mehr da. Die vom Gericht berufenen Ärzte hatten festgestellt, dass sie an frühkindlicher Amnesie litt. Wie auch immer. Ab und zu stahl sich eine Erinnerung in ihr Gedächtnis. Meist konnte sie jedoch nicht unterscheiden, ob etwas tatsächlich geschehen war oder nicht. Was sie allerdings noch genau wusste, war, dass ihre Eltern sich fast ständig gestritten hatten. Immer wenn es zu Auseinandersetzungen kam, versteckte Alix sich in einem Schlafzimmerschrank. Und wenn sie dann die Tür schloss und die Augen zumachte, war es beinahe so, als gäbe es kein Geschrei und keine Gewalt. In diesem Schrank existierte eine andere Familie. Eine Familie, die sie sich ausgedacht hatte. Die aus einer wunderbaren Welt stammte, in der Mütter und Väter sich liebten, nicht anschrien oder schlugen. In Alix’ Welt gab es ein richtiges Zuhause, in dem nicht der halbe Kühlschrank mit Bier gefüllt war. Dort warteten nach der Schule Milch und Kekse auf sie. Sie konnte sich daran erinnern, dass im Laufe der Jahre die Fantasiewelt für sie immer wichtiger geworden war. Ein Detail war, dass diese Fantasiemutter, die sie so liebte, gern strickte.
Alix war als kleines Kind ziemlich oft in den Schrank geflüchtet …
“Nächsten Freitagnachmittag startet ein Anfängerkurs – wenn Sie mögen?”
Die Worte rissen Alix aus ihren Träumereien. Sie grinste. “Und Sie glauben ernsthaft, dass Sie jemandem wie mir das Stricken beibringen können?”
“Aber selbstverständlich kann ich das”, erwiderte Lydia, ohne zu zögern. “Ich habe es bereits vielen Menschen gezeigt. Außerdem haben sich bisher erst zwei Frauen für den Kurs angemeldet. Also kann ich Ihnen genügend Aufmerksamkeit schenken.”
“Ich bin Linkshänderin.”
“Das ist kein Problem.”
Die Lady musste wirklich verzweifelt auf der Suche nach Kunden sein. Ausflüchte gab es genügend, und letzten Endes würde Lydia sie nicht zwingen können. Außerdem hatte Alix gar kein Geld für die Wolle, die sie benötigte, um stricken zu lernen.
“Was halten Sie davon, eine Decke für das Linus-Projekt zu stricken?”, fragte Lydia plötzlich.
Damit konnte sie sich Alix’ Aufmerksamkeit sicher sein.
Und Lydia ließ nicht locker. “Ich habe selbst einige Decken für das Projekt angefertigt”, erzählte sie.
“Tatsächlich?” Diese junge Frau schien ein großes Herz zu haben.
Lydia nickte. “Und es gibt so viele Menschen, die es verdient haben, dass man im Zuge dieses Projektes für sie strickt.”
Menschen, die es verdient haben, dass man für sie strickt … Die Mutter in ihrer Fantasiewelt hatte gestrickt, ihr Lieder vorgesungen und nach Lavendel und anderen Blumen geduftet. Alix hatte sich immer gewünscht, eines Tages so wie diese Mutter zu werden. Der Weg, den ihr Leben dann aber nahm, hatte sie in eine andere Richtung geführt. Vielleicht war dieser Strickkurs etwas, das sie tun konnte – tun sollte.
“Ich denke, ich könnte es versuchen”, sagte sie und zuckte die Schultern. Sie würde bestimmt jede Menge Spott über sich ergehen lassen müssen, wenn Laurel, die auch im Videoladen arbeitete, das herausfand. Aber das war ihr egal. Ihr ganzes Leben hindurch war sie Zielscheibe von Spott und Häme gewesen.
Lydia schenkte ihr ein freundliches Lächeln. “Das ist wunderbar.”
“Wenn die Decke für das Linus-Projekt nicht so toll wird, macht das auch nichts. Es ist ja nicht so, dass irgendjemand wüsste, dass ich sie gestrickt habe.”
Lydias Lächeln erstarb. “Sie wissen es, Alix. Und das ist das Wichtigste.”
“Ja, aber … also, ich denke, wenn ich den Kurs mache, dann erfüllt das gleich einen doppelten Zweck.” Das klingt gut, dachte Alix und war mit sich selbst zufrieden. “Ich könnte lernen, wie man strickt. Und die Zeit, die ich dafür benötige, wird mir auf die Strafe angerechnet, die ich noch ableisten muss.”
“Von was für einer Strafe reden Sie?”
“Richter Roper hat mir hundert Stunden gemeinnütziger Arbeit aufgebrummt – wegen einer Drogengeschichte. Ich war es aber nicht! Ich bin nicht blöd, und er weiß das.” Ihre Hände verkrampften sich. Sie war immer noch wütend über die Anschuldigungen, denn das Marihuana hatte Laurel gehört. “Drogen nehmen ist dumm.” Sie zögerte, dann stieß sie hervor: “Mein Bruder starb an einer Überdosis. Und ich bin nicht bereit, mein Leben jetzt schon wegzuwerfen.”
Lydia straffte die Schultern. “Lassen Sie mich das alles mal zusammenfassen, damit ich Sie richtig verstehe. Sie möchten sich für den Strickkurs einschreiben und die Decke dem Linus-Projekt spenden?”
“Richtig.”
“Und die Zeit, die Sie für die Fertigstellung brauchen …”, sie zögerte kurz, “… möchten Sie gegen die gemeinnützigen Stunden, die Sie vom Gericht als Strafe erhalten haben, aufrechnen?”
Alix glaubte zu spüren, dass Lydia gewisse Vorbehalte hegte. Sie klang schon deutlich reservierter. Aber diese Art von Reaktion auf ihre Person kannte Alix bereits. “Haben Sie ein Problem damit?”, fragte sie kühl.
Wieder zögerte Lydia kurz. “Eigentlich nicht, solange Sie respektvoll mit mir und den anderen Kursteilnehmern umgehen.”
“Klar, kein Problem.” Alix blickte auf ihre Uhr. “Ich muss wieder an die Arbeit. Wenn Sie mich brauchen, ich bin fast immer im Videoladen.”
“Okay.” Plötzlich klang Lydia nicht mehr so selbstsicher, wie sie zu Beginn der Unterhaltung gewirkt hatte.
Der Videoladen war voll, als Alix zurückkehrte. Sie huschte schnell hinter den Tresen.
“Wo hast du so lange gesteckt?”, fragte Laurel. “Der Chef hat schon nach dir gefragt, und ich hab erzählt, du wärst auf dem Klo verschwunden.”
“Entschuldige. Ich war draußen, um zu rauchen.” Laut Arbeitsrecht hatte Alix Anspruch auf eine fünfzehnminütige Pause.
“Hast du einen von den Bauarbeitern getroffen?”
Alix schüttelte den Kopf, während sie zur Kasse ging. “Keinen einzigen. Vier Uhr nachmittags, und die Typen sind schneller weg als ’ne Rakete.”
“Wir sollten auch eine Gewerkschaft haben”, flüsterte Laurel ihr zu.
“Und anständige Sozialleistungen erhalten”, sagte Alix.
Eines Tages würde sie einen Job finden, in dem sie nicht nur den Mindestlohn erhielt. Es wäre schön, wenn sie eine Wohnung für sich allein hätte – eine Wohnung, die sie nicht mit Laurel teilen musste. Ihre Mitbewohnerin lebte am Rande des Abgrunds und war ständig in Gefahr, abzustürzen. Und Alix’ größte Angst war es, dass Laurel sie bei diesem Absturz mit sich reißen würde.