13. KAPITEL

“Stricken – meine fantastische Gnade.”

(Nancie M. Wiseman, Redakteurin beim Cast On Magazin, Autorin von Classic

Knitted Vests und The Knitter’s Book of Finishing Techniques)

Lydia Hoffman

Am Anfang der Woche rief meine Mutter mich an. Sie fragte, ob sie, Margaret und ich am Volkstrauertag zusammen zum Friedhof gehen könnten, um Daddys Grab zu besuchen. Es war erst ein paar Monate her, dass wir Vater beerdigt hatten. Für meine Mutter war es nach wie vor eine schwierige Phase. Sie musste sich erst damit abfinden, dass sie nun Witwe war.

Ich sagte sofort zu. Aber ich fragte mich gleichzeitig, wie Margaret reagieren würde. Sie hatte es am Muttertag erfolgreich geschafft, die Situation so zu drehen, dass wir uns nicht getroffen hatten. Bei allem, was die Familie betraf, reagierte Margaret gereizt und reserviert. Es schien, als wollte sie vergessen oder verdrängen, dass wir dieselben Eltern hatten. Mehr als einmal schoss mir durch den Kopf, dass Margaret vielleicht besser damit klargekommen wäre, wenn ich und nicht unser Vater gestorben wäre. Das war kein schöner Gedanke. Aber wenn ich ihre Einstellung betrachtete, glaubte ich, dass es stimmte. Trotzdem wollte ich nicht aufgeben. Irgendein verquerer Teil von mir weigerte sich, sie loszulassen.

Sie ist schließlich meine Schwester. Nach all dem, was ich erlebt habe, glaube ich, dass wir – auch wenn wir uns nicht mögen – einander doch brauchen.

Am frühen Montagnachmittag kam ich am Haus meiner Mutter an und fand sie auf der hinteren Veranda im Garten, wo sie Tee trank. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse, saß in ihrem Weidensessel und genoss den Sonnenschein.

Die Rosen waren beschnitten und trieben Knospen, und der süßliche Duft des Fliederbusches erfüllte die Luft. Mutter hielt ein Taschentuch in der Hand. Sie hatte offensichtlich geweint.

Ich ging zu ihr und legte ihr wortlos meine Hand auf die Schulter. Sie blickte auf und schenkte mir ein schwaches Lächeln. Dann legte sie ihre Hand auf meine und drückte sie sanft. “Ich vermisse ihn noch immer.”

“Ich auch”, flüsterte ich und merkte, dass meine Stimme zitterte.

“Dad hätte es bestimmt nicht gutgeheißen, dass wir so rührselig sind. Es ist ein so schöner Tag, und gleich werde ich mit meinen beiden Töchtern zusammen einen schönen Nachmittag haben. Wieso also sollte ich traurig sein?” Sie ergriff die Teekanne. Ich sah, dass sie auch für mich eine Tasse gedeckt hatte. Ohne mich groß zu fragen, schenkte sie mir Tee ein. Ich ließ mich dankbar in den Sessel neben ihr sinken.

Wir unterhielten uns ein bisschen. Meine Mutter stellte eine Menge Fragen über das A Good Yarn, über meinen Anfängerkurs und die drei Frauen, die daran teilnahmen. Ich hatte Jacqueline, Carol und Alix schon öfter erwähnt und erzählte ihr auch von meinen anderen Kunden. Langsam, aber stetig baute ich meinen Kundenstamm aus. Und ich schloss, was ebenso wichtig war, neue Freundschaften. Meine Welt wurde jeden Tag ein bisschen größer, und das machte mich glücklich. Whiskers war ebenfalls zufrieden. Er hatte sich angewöhnt, seine Zeit im Laden zu verbringen, wo er sich meistens im Schaufenster sonnte. Mein Kater war ein willkommener Gesprächseinstieg, und meine Kunden mochten ihn. Und er genoss die Aufmerksamkeit.

Ich freute mich über den Fortschritt, den jede einzelne meiner Schülerinnen gemacht hatte. Es war nur ein bisschen schwierig, Jacqueline beinahe jede Woche davon zu überzeugen, den Kurs nicht hinzuschmeißen. Eigentlich wollte sie bereits nach der zweiten Stunde den Unterricht aufgeben. Aber ich konnte sie überreden, weiterzumachen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie wollte, dass ich sie bat zu bleiben. Im Endeffekt war ich glücklich, dass ich es getan hatte. In der dritten Stunde hatte es noch einige riskante Momente gegeben; immer wenn Alix eine Masche verlor, fing sie an, so unflätig zu schimpfen, dass ich fürchtete, Jacqueline würde jeden Augenblick ins Koma fallen. Ich schlug Alix vor, einen anderen Weg zu finden, um ihren Frust auszudrücken. Zu meiner Überraschung entschuldigte sie sich – es war nicht das erste Mal, dass sie mich beeindruckte. Sie war gar nicht so schlimm, man musste sie nur erst mal etwas näher kennenlernen.

Carol war meine begabteste Schülerin. Sie hatte die Babydecke fast fertig und sah sich bereits nach neuen Projekten um. Sie kam mindestens zweimal die Woche in meinen Laden und unterhielt sich mit mir. Whiskers saß ein paarmal auf ihrem Schoß und zeigte mir damit, dass er meine neue Freundin durchaus guthieß.

Mom liebt es, Geschichten aus meinem Laden zu hören. Wir reden fast jeden Tag miteinander. Sie braucht es. Und um ehrlich zu sein, genieße ich es genauso. Ich mag vielleicht dreißig Jahre alt sein, aber eine Tochter legt ihr Gefühl der Verbundenheit und das Bedürfnis nach der Mutter wohl nie ganz ab.

“Margaret und die Kinder kommen gleich”, sagte Mom beiläufig, doch damit führte sie mich nicht hinters Licht. Mit ihren Worten warnte sie mich. Sie stellte ihre Porzellantasse ab und legte die Hände in den Schoß. Meine Mutter besitzt eine natürliche Grazie, um die ich sie beneide. Margaret kommt in der Hinsicht ganz nach ihr.

Mir ist es schon immer schwergefallen, meine Mutter treffend zu beschreiben. Man könnte meinen, sie sei so zerbrechlich, wie sie aussieht, aber das stimmt nicht. Sie besitzt eine Stärke, für die ich sie bewundere. Während meiner Krebserkrankung hat sie meine Interessen gegenüber den Ärzten und der Versicherung vertreten. Sie ist liebevoll und großzügig und versucht immer, ihren Lieben alles recht zu machen. Ihre einzige Schwäche ist ihre Unfähigkeit, mit Krankheit umzugehen. Sie kann es nicht ertragen, mich – oder irgendjemanden – leiden zu sehen, und zieht sich daher in solchen Fällen zurück. Zum Glück ist Dad immer für mich da gewesen.

“Bringt Margaret Julia und Hailey mit?”, fragte ich.

Meine beiden Nichten sind wie ein Wunder für mich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich eigene Kinder haben werde, geht gegen null, und so nehmen die Töchter meiner Schwester einen besonderen Platz in meinem Herzen ein. Es war sehr schade, dass Margaret Schwierigkeiten mit meinem guten Verhältnis zu den beiden zu haben schien. Sie behütete ihre Töchter voller Eifersucht.

Julia und Hailey jedoch erkennen meine Zuneigung und lieben mich – zu Margarets Überraschung – von ganzem Herzen. Die pure Freude der zwei bei jedem zufälligen Treffen schmerzte Margaret so sehr, dass sie alles tat, um mich von meinen Nichten fernzuhalten.

“Großmutter!” Die neunjährige Hailey rannte mit ausgebreiteten Armen in den Garten. Als sie mich erblickte, juchzte sie vor Freude auf. Sie sprang, nachdem sie meine Mutter begrüßt hatte, in meine Arme, wobei sie mich fast erwürgte.

Die vierzehnjährige Julia war etwas zurückhaltender. Doch auch in ihren Augen konnte ich ablesen, wie sehr es sie freute, mich zu sehen. Ich streckte meinen freien Arm nach ihr aus, und als sie zu mir kam, schüttelten wir uns die Hände. Ich drückte sanft ihre Finger. Wie groß Julia geworden war: beinahe schon eine Frau – und eine Schönheit. Mein Herz wollte bei ihrem Anblick vor Stolz beinahe zerbersten.

“Tante Lydia, bringst du mir das Stricken bei?”, fragte Hailey, ohne mich loszulassen.

Ich warf einen Blick über meine Schulter, gerade als Margaret und ihr Ehemann durch die Hintertür in den Garten traten. Am missbilligenden Stirnrunzeln meiner Schwester konnte ich erkennen, dass sie die Frage gehört hatte. “Ich würde es dir sehr gern beibringen. Aber die Entscheidung liegt bei deiner Mutter.”

“Wir werden später darüber reden”, sagte Margaret äußerst knapp. Hailey legte den Arm fest um meine Schultern. Offenbar war sie nicht bereit, mich in nächster Zeit noch mal loszulassen.

“Hallo, Matt”, sagte ich.

Mein Schwager grinste und winkte mir zu. Ich erinnerte mich daran, wie Matt und Margaret begannen, miteinander auszugehen. Da sie fünf Jahre älter war als ich, erschien mir der damals siebzehnjährige Matt sehr reif und erwachsen, ein Mann von Welt. Sie heirateten jung, was meinem Vater nicht unbedingt gefiel. Er war der Meinung, meine Schwester solle zuerst ihr Studium abschließen. Das tat sie auch, nutzte ihre Ausbildung jedoch nie. Dabei hatte Vater es sich so gewünscht. Margaret war in den letzten Jahren in einigen Jobs tätig, aber keiner hatte sie wirklich ausgefüllt. Im Augenblick arbeitete sie halbtags für eine Reiseagentur. Mit mir sprach sie jedoch nie über ihre Arbeit. Dass sie so oft wie möglich zu Hause sein wollte, um sich um die Kinder zu kümmern, fand ich gut. Das hatte ich ihr jedoch noch nie gesagt, weil ich nicht sicher war, wie sie es aufnehmen würde.

Nachdem wir uns begrüßt und anschließend ein bisschen geredet hatten, fuhren wir zum Friedhof. Meine Mutter hatte einen üppigen Strauß Flieder aus dem Garten mitgebracht, und Julia und Hailey stellten ihn in die Vase auf dem Grab meines Vaters.

Schon immer fand ich Friedhöfe interessant. Als Kind hegte ich eine fast schon makabre Leidenschaft für Grabsteine. Ich liebte es, die Inschriften auf den alten Steinen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zu lesen. Während Margaret und meine Eltern am Grab meiner Großeltern beteten, wanderte ich immer umher. Einmal brach ich mir sogar das Bein, als eine Muttergottesstatue auf mich fiel. Ich habe Mom und Dad nie erzählt, dass ich auf die Statue geklettert war, um einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen.

Als ich nun auf den neuen Grabstein meines Vaters blickte, drohte mich eine Welle der Trauer zu überrollen. Die marmorne Tafel erzählte nicht viel. Sein Name stand dort, James Howard Hoffman, und die Geburts- und Todesdaten: 20. Mai 1940 – 29. Dezember 2003.

Geburt und Tod – alles, was dazwischen passierte, war ein Gedankenstrich. Der stumme Strich sagte nichts aus über seinen Dienst in Vietnam oder seine immerwährende Liebe für seine Frau und seine Töchter. Dieser Gedankenstrich zeigte nicht, wie viele zahllose Stunden er an meinem Krankenbett verbracht, mich getröstet, mir etwas vorgelesen und sich bemüht hatte, mir zu helfen. Es gab keine Worte, die die tiefe Liebe meines Vaters beschreiben konnten.

Plötzlich überfiel mich wieder der bekannte Schmerz. Eine Folge des Tumors, mit der ich bis heute zu kämpfen habe, ist die Migräne. Mit den neu entwickelten Medikamenten bekomme ich die anfallartigen Kopfschmerzen zum Glück meist schnell in den Griff. Die Symptome waren eindeutig.

Doch dieser Schmerz kam völlig überraschend.

Ich griff in meine Tasche, um die Pillen herauszuholen, die ich ständig bei mir trug. Meine Mutter, die mitbekommen hatte, dass etwas nicht stimmte, kam zu mir und sah, dass ich schwankte. “Lydia, was ist los?”

Ich atmete langsam und tief. “Ich muss nach Hause”, flüsterte ich matt und schloss die Augen vor dem grellen Sonnenschein.

“Margaret, Matt”, rief Mom. Sie schlang den Arm um meine Taille. Wenige Minuten später saß ich im Wagen. Doch statt Matt zu bitten, mich in meine eigene Wohnung zu bringen, bestand Mutter darauf, dass ich zu ihr nach Hause gebracht wurde.

Kurz darauf lag ich in dem Zimmer, in dem ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte, auf dem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen. Mom legte einen kühlen Waschlappen auf meine Stirn und ging auf Zehenspitzen hinaus.

Ich wusste, dass ich für ein paar Stunden schlafen würde, wenn die Medikamente erst wirkten. Danach würde es mir besser gehen. Aber den Punkt zu erreichen – den Punkt, an dem die Schmerzen nachließen – war schwierig.

Bald nachdem meine Mutter das Zimmer verlassen und der pochende Schmerz seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde die Schlafzimmertür abermals geöffnet. Und obwohl ich die Augen geschlossen hielt, wusste ich, dass meine Schwester in das Zimmer getreten war.

“Du kannst es nicht lassen, stimmt’s?” In ihren Worten schwang Bitterkeit mit. “Du kannst nicht einen Tag verstreichen lassen, ohne dass sich alles um dich dreht, oder?”

Ich konnte nicht glauben, dass meine Schwester tatsächlich annahm, ich hätte die Migräne heraufbeschworen, nur um einige Minuten Aufmerksamkeit zu haben. Würde Margaret wissen, wie sehr man bei Migräne litt, hätte sie mir niemals so etwas unterstellt. Aber ich sah mich nicht in der Lage, mit ihr zu streiten. Also hielt ich den Mund.

“Eines Tages wird es nur noch dich und mich geben.”

Das war mir klar. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ein gutes, normales Verhältnis zu meiner Schwester zu haben. Wenn die Schmerzen nicht so stark gewesen wären, hätte ich ihr einiges erklären können. Zum Beispiel, dass ich mir wünschte, die Dinge zwischen uns lägen anders.

“Wenn du glaubst, dass ich den Part von Mom und Dad übernehme, hast du dich getäuscht.”

Beinahe hätte ich angefangen zu lächeln. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Margaret etwas in der Richtung tat.

“Ich weigere mich, dich zu verhätscheln und zu verwöhnen. Es ist an der Zeit, dass du erwachsen wirst, Lydia. Du musst Verantwortung für dein Leben übernehmen. Was mich angeht, kannst du woanders nach Zuneigung und Verständnis suchen.” Nachdem sie diese Worte gesagt hatte, verließ sie das Zimmer wieder.

Das Geräusch der zuschlagenden Tür hallte in meinem Kopf wider. Da der nasse Waschlappen auf meinem Gesicht lag, dauerte es einen Moment, dann merkte ich, dass Tränen über meine Wangen liefen.

Mehr als je zuvor war ich in diesem Augenblick davon überzeugt, dass eine gute Beziehung zu Margaret nicht möglich war.