40. KAPITEL

“Ob ich für mich oder für jemand anderen stricke, meine Leidenschaft fürs Stricken eröffnet mir die Möglichkeit, meine Kreativität auszuleben und schenkt mir das Gefühl, etwas vollbracht zu haben.”

(Rita E. Greenfeder, Redakteurin beim Knit’
’N’ Style Magazine)

Lydia Hoffman

Margaret hatte mir offenbar mein Verhalten im Krankenhaus verziehen, denn sie wollte mich zu Dr. Wilson begleiten. Mittlerweile lagen ihm alle Testergebnisse vor. Doch es schien immer noch einige Unklarheiten zu geben.

Wortkarg, wie er nun einmal war, hatte er mir bei meiner Entlassung aus der Klinik nur wenig gesagt. Er wollte einen Kollegen bitten, die Biopsie noch einmal zu prüfen. Diese Neuigkeit sollte mich offenbar ermutigen, doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass der Tumor bösartig war.

“Sei nicht so pessimistisch”, murmelte Margaret, als wir im Wartezimmer saßen. Mir war der letzte Termin des Tages gegeben worden – für mich ein weiteres sicheres Zeichen, dass Dr. Wilson schlechte Nachrichten für mich hatte. Meiner Schwester gegenüber schwieg ich jedoch.

Stattdessen lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Ich wollte für einen Moment die Welt um mich herum nicht mehr sehen. Für Margaret war es einfach, Optimismus zu verlangen. Dies war nicht ihr Leben, nicht ihre Krankheit, nicht ihr bevorstehender Tod. Was hätte sie gesagt, wenn sie in meiner Situation gewesen wäre? Ich unterdrückte den Drang, sie daran zu erinnern, dass sie vor nicht allzu langer Zeit mit denselben Ängsten zu mir gekommen war. Nur mit größter Mühe konnte ich mich zusammenreißen – denn eigentlich wollte ich vor Wut um mich schlagen, die Welt und alle Menschen um mich herum dafür verantwortlich machen, dass ich todkrank war. Der einzige Mensch jedoch, der meinen ganzen Zorn zu spüren bekommen hatte, war Brad. Und er verdiente es am allerwenigsten, so behandelt zu werden. Doch ich wollte nicht länger über ihn nachgrübeln – oder über die Reue, die in mir hochkam, wann immer ich an ihn denken musste. Ich hatte getan, was ich tun musste, und das war für ihn sicherlich das Beste. Er würde niemals erfahren, wie schwer es für mich gewesen war, ihn fortzuschicken. Doch ich würde diesen Schmerz mit mir herumtragen. Für den Rest meines Lebens, wie kurz es auch sein mochte.

Meine Mutter war ebenfalls ein Mensch, den ich schützen wollte. Margaret sah das genauso. Bis jetzt wusste meine Mutter nichts über den Grund meines Klinikaufenthaltes. Margaret und ich hatten uns gemeinsam eine Geschichte ausgedacht und Mom weisgemacht, ich sei wegen einer Routineuntersuchung im Krankenhaus. Sie nahm diese Lüge nur allzu gern an.

Lange bevor ich bereit war, das Unausweichliche zu akzeptieren, betrat Peggy das Wartezimmer. “Dr. Wilson ist fertig. Sie können nun zu ihm”, verkündete sie.

Ich sah ihr nicht in die Augen, obwohl ihre Stimme hoffnungsvoll und ermutigend klang.

Peggy begegnet allen Patienten mit derselben Freundlichkeit. Ich ahne, dass es auch für sie nicht leicht ist. Zu häufig hat sie neben Dr. Wilson stehen und wortlos und ohnmächtig mit ansehen müssen, wie Patienten ihren Kampf gegen den Krebs verloren. Ich beneide sie nicht um ihren Beruf.

Margaret stand bereits in der Tür, während ich noch mein Magazin zur Seite legte und meine Tasche an mich nahm. Ich hatte keine Eile zu hören, wie sich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten.

Peggy führte uns in Dr. Wilsons Büro. Seine gerahmten Zeugnisse schmückten die Wände. Einige Familienfotos standen auf einer Anrichte. Der Schreibtisch aus Mahagoni glänzte und war aufgeräumt – nur meine Akte lag dort. Schon zweimal war ich in diesem Büro gewesen, und jedes Mal hatte Dr. Wilson vernichtende Nachrichten für mich gehabt. Und dieses Mal erwartete ich nichts anderes.

Nachdem meine Schwester sich vorgestellt hatte, schüttelte sie seine Hand.

Dr. Wilson zog seinen großen Ledersessel mit der hohen Lehne zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Dann griff er nach meiner Akte, die er in die Mitte des Tisches legte. Er hielt inne und …

“Der Krebs ist wieder da.” Das war keine Frage von mir, sondern eine Feststellung. Der Tumor war entfernt worden, aber es gab bestimmt Metastasen, die sich nicht so leicht behandeln ließen wie der Haupttumor.

“Stimmt das?”, fragte Margaret. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass ihre Stimme leicht zitterte.

So oft in der Vergangenheit hatte ich versucht, Margaret zu übertrumpfen – ich wollte ihr immer wieder beweisen, dass ich im Recht war und sie nicht. Die normale Rivalität zwischen Geschwistern. Doch dieses eine Mal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass ich falsch lag.

Wie gesagt, es gab keinen Grund, optimistisch zu sein. Die Krankheit schien sich zu weigern, meinen Körper zu verlassen. Schon öffnete ich meinen Mund, um zu sagen, dass ich mich gegen eine Behandlung entschieden hatte. Ich besaß weder den Willen noch die Kraft, diesen dritten Kampf zu kämpfen. Nicht ohne meinen Vater.

“Aufgrund Ihrer Krankengeschichte”, begann Dr. Wilson, “ist es wichtig, ganz sicherzugehen, bevor ich eine Diagnose stellen kann. Deshalb habe ich die Probe an eine Krebsspezialistin geschickt.”

Ich hielt den Atem an.

“Was hat sie gesagt?”, fragte Margaret und rutschte auf ihrem Stuhl ganz nach vorn.

“Die Ärztin – wie gesagt, Spezialistin auf dem Gebiet der Krebsforschung – war einer Meinung mit mir. Der Tumor ist gutartig.”

“Gutartig”, wiederholte ich. Hatte ich Dr. Wilson richtig verstanden? Der Tumor war gutartig?

“Ja”, bestätigte er und lächelte mich an. Doch ich stand zu sehr unter Schock, um überhaupt reagieren zu können. “Dieses Mal wird alles gut, Lydia. Sie haben keinen Krebs.” Er stand auf und ging hinüber zu dem Schaukasten für Röntgenaufnahmen. Dann zog er zwei Röntgenaufnahmen aus einem Umschlag und hängte sie vor das erleuchtete Glas. Er nahm einen Kuli in die Hand und deutete auf die Bilder. “Dies ist die erste Aufnahme, die wir gemacht haben, und dies die zweite, die nach der Operation erfolgte.”

“Wollen Sie damit sagen, dass ich keine Bestrahlung oder Chemotherapie brauche?”

Er schüttelte den Kopf. “Es besteht kein Anlass dazu.”

Ich straffte die Schultern.

“Das sind tolle Neuigkeiten, finden Sie nicht?”

In diesem Moment war ich wie gelähmt. Ich konnte ihm nicht zustimmen, ja nicht einmal nicken. Seine Stimme wurde scheinbar immer leiser, während die Nachricht langsam zu mir durchdrang. Mir war mein Leben zurückgegeben worden!

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich erhoben hatte. Aber plötzlich stand ich vor Dr. Wilsons Schreibtisch. Ich schlug die Hand vor den Mund und fürchtete, in Tränen auszubrechen. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich in dem Moment, dass Margaret weinte. Sie stand ebenfalls auf, umarmte mich und schluchzte.

“Du wirst wieder ganz gesund”, wiederholte sie. “Oh Lydia, du wirst wieder ganz gesund.”

Dr. Wilson erklärte, dass es ein neues, vielversprechendes Medikament gab, das er mir verschreiben würde. Doch nichts von dem, was er sagte, erreichte mich. Ich war einfach zu glücklich.

Margaret und ich hatten aufgehört zu weinen und lachten mittlerweile – unsere Reaktionen verliefen vollkommen synchron. Unser Gelächter muss hysterisch geklungen haben. Meine Schwester legte irgendwann ihre Finger an die Lippen und sah mich nicht mehr an. Sie versuchte ernsthaft, sich auf die Worte des Arztes zu konzentrieren. Doch mich interessierte nichts von alledem. Ich hatte mein Leben zurückbekommen! Mein schönes, wundervolles Leben gehörte wieder mir!

Erst als wir das Büro verließen, dachte ich an Brad. “Margaret”, sagte ich und ergriff die Schultern meiner Schwester. Plötzlich wich alle Erleichterung und Freude von mir. Wir standen vor dem Aufzug. Sie bemerkte offenbar den ernsten Tonfall meiner Stimme, denn ihr Lächeln erstarb.

“Was ist?”

“Brad … Ich habe ihn so schlecht behandelt, obwohl er mir nur helfen wollte.”

Ganz offensichtlich musste sie sich zusammenreißen, um nicht herauszuplatzen: “Habe ich es dir nicht gesagt!” – doch alles, was sie erwiderte, war: “Sprich mit ihm.”

Ich hatte Brad ganz furchtbar vermisst und oft kurz davor gestanden, ihn anzurufen. Aber ich schaffte es einfach nicht. Er hatte noch zweimal versucht, mich im Krankenhaus zu besuchen. Doch ich lehnte es ab, ihn zu sehen. Schließlich gab er der Krankenschwester eine Nachricht für mich. Ich wusste, dass dieser Brief mich umstimmen würde. So bat ich die Schwester, ihn ungelesen wieder mitzunehmen.

Später erzählte mir die Schwester, dass Brad auf eine Antwort gewartet hatte. Sie musste ihm sagen, dass ich den Brief nicht lesen wollte. Vielleicht klingt es melodramatisch, doch ich fürchtete nun, die vielversprechendste Beziehung meines Lebens zerstört zu haben.

“Ich kann versuchen, mit Brad zu sprechen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir überhaupt zuhören wird.” Ich würde es verstehen, wenn er sagte, dass er mich nie wieder sehen wolle. Meine einzige Hoffnung bestand darin, ihn bei seinen Lieferungen zu treffen – er konnte schließlich nicht seinen Job vernachlässigen.

Am Dienstagmorgen stand ich wieder in meinem Laden. Mir fehlen die Worte für das Gefühl, das mich durchflutete, als ich das Schild umdrehte. “Geöffnet”.

Die Realität hielt wieder Einzug in mein Leben, als ich eine Liste mit Instruktionen von Dr. Wilson bekam. Ich war anscheinend genau die richtige Kandidatin für das neue Medikament. Es sollte verhindern, dass zukünftig Tumore wucherten.

Den gesamten Vormittag über hatte ich viel zu tun. Die Kunden wollten wissen, warum ich beinahe eine Woche lang nicht im Geschäft gewesen war. Offensichtlich benachrichtigte eine Kundin die nächste über meine Rückkehr, und so konnte sich die Neuigkeit verbreiten. Der Empfang war überwältigend. Es war unglaublich schön, das mitzuerleben. Margaret hatte ihr Bestes getan und den Laden am Laufen gehalten, aber die Kunden waren einfach daran gewohnt, mit mir zu sprechen.

Margaret schien die Zeit in meinem Laden ehrlich genossen zu haben. Vor drei Monaten noch hätte ich nicht geglaubt, jemals eine solche Verbundenheit zu meiner älteren Schwester zu empfinden. Ich war ihr wirklich dankbar für alles, was sie für mich getan hatte.

Gegen Mittag, als ich die erste Pause des Tages machte, sah ich unruhig aus dem Schaufenster. Als der große braune Lieferwagen schließlich vorbeifuhr und vor dem Blumenladen hielt, rannte ich aus dem Geschäft. Aber der UPS-Mann, der aus dem Wagen kletterte, war nicht Brad.

“Wo ist Brad?”, platzte ich heraus.

Der Ersatzmann blickte über seine Schulter und war von meiner Frage offenbar überrascht. “Brad fährt diese Tour nicht länger.”

“Was meinen Sie damit, dass er diese Tour nicht länger fährt?”, fragte ich. Plötzlich fühlte es sich an, als würde der Boden unter meinen Füßen ins Wanken geraten. Ich konnte nicht glauben, dass Brad etwas derart Drastisches tun würde.

“Brad liefert jetzt in der Innenstadt aus.”

Ich wusste, was geschehen war. “Er hat um seine Versetzung gebeten, stimmt’s?”

Der UPS-Fahrer zuckte die Schultern. “Darüber weiß ich nichts. Tut mir leid.”

“Sehen Sie ihn ab und zu?”, fragte ich und hoffte, dieser Mann könne Brad eine Nachricht übermitteln.

“Eher selten”, erwiderte er. Er hatte einen Zeitplan, den er einhalten musste, und ich störte ihn nur. Also bedankte ich mich und ging in meinen Laden zurück.

Ich wusste, dass ich mit Brad nicht fair umgegangen war. Den Menschen, der mir immer und immer wieder bewiesen hatte, wie wichtig ich ihm war, hatte ich tief verletzt. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass es noch nicht zu spät war. Ich wollte meine Fehler unbedingt wiedergutmachen.