49. KAPITEL
Carol Girard
Cameron Douglas Girard, was machst du da?” Cameron, der auf dem Teppich saß und die Sockenschublade seines Vaters untersuchte, blickte unschuldig auf. Arglos sah der kleine Junge seine Mutter an, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte und sich nach Kräften bemühte, ernst zu bleiben. “Komm zu mir”, sagte sie und nahm den Kleinen auf den Arm. Sie hielt ihn hoch und gab ihm einen geräuschvollen Schmatzer auf den nackten Bauch. Er juchzte vor Vergnügen. Als sie ihn an sich drückte, legte er seinen Kopf an ihre Schulter, griff ihr ins Haar und gab ein paar gurgelnde Laute von sich.
In dem vergangenen Jahr hatte Carol ganz neue Facetten der Liebe kennengelernt – sie erfuhr, wie sehr ein Mensch einen anderen Menschen lieben konnte, und sie erlebte, wie sehr eine Mutter ihr Kind lieben konnte. Cameron war vielleicht nicht in ihr gewachsen, aber dennoch war er in jeder erdenklichen Hinsicht ihr Sohn.
“Es ist Zeit für einen Spaziergang”, sagte Carol.
Behutsam setzte sie ihren Sohn ab und räumte schnell Dougs Socken wieder in die unterste Schublade ihrer Kommode. Dann nahm sie Cam wieder hoch, trug ihn in sein Zimmer und zog ihm Jeans und einen handgestrickten Pullover an. Die Hosen waren ein Geschenk von ihrem Bruder, der die Jeans zusammen mit einer passenden Jacke geschickt hatte, kurz nachdem der Adoptionsvorgang erfolgreich beendet worden war. Fertig angezogen krabbelte Cameron schnell zum Kinderwagen. Als er ihn erreichte, zog er sich daran hoch, bis er stand. Er warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass seine Mutter auch bemerkte, was er schon konnte, und seine Geschicklichkeit auch gebührend würdigte. Der Kleine liebte ihre gemeinsamen Spaziergänge!
“Heute gehen wir beim Wollladen vorbei”, erklärte sie, während sie ihn in den Kinderwagen setzte. “Wir treffen uns mit Miss Lydia.”
Nachdem sie ihre Tasche über die Schulter gehängt hatte, verließ Carol die Wohnung. Sie schob den Kinderwagen den Flur entlang und in den Lift, der bereits wartete. Beinahe jeden Nachmittag nahmen die beiden denselben Weg. Zwei Blocks entfernt hielten sie beim Spielplatz, wo Cameron spielen und Carol sich mit anderen jungen Müttern austauschen konnte.
Seit sie nicht mehr arbeitete und der Junge in ihr Leben gekommen war, hatte sich Carols Freundeskreis um viele andere Frauen, die auch Mütter waren, erweitert. Sie hatten eine lockere Gruppe gegründet und trafen sich einmal in der Woche zum gemeinsamen Kaffeetrinken. Sie tauschten Ratschläge und Erfahrungen aus, gaben Elternratgeber und Magazine weiter und verschenkten Spielzeug und Kleidung, die ihre Kinder nicht mehr brauchten. Carol war die Älteste in der Gruppe, aber das machte ihr nichts aus.
Nachdem sie im Park gewesen waren, schob sie ihren Sohn zum Wollladen. “Carol”, rief Lydia erfreut. “Hallo.” Sie ging in die Hocke, um mit dem Kleinen auf Augenhöhe zu sein. “Hallo, Cameron.”
Das Kind griff nach einem Knäuel leuchtend lilafarbener Wolle, doch Carol war zu schnell und zog den Kinderwagen ein Stück zurück – fort von dem verführerischen Garn.
“Ich brauche noch einen Strang von der Paton-Kammwolle.”
“Von der olivgrünen, stimmt’s?” Lydia hatte die unheimliche Gabe, sich zu merken, welche Kundin welches Garn für welches Projekt gekauft hatte. Carol arbeitete mittlerweile an so vielen verschiedenen Projekten, dass sie selbst langsam Schwierigkeiten bekam, die Übersicht zu behalten. Lydia dagegen schien solche Probleme nicht zu kennen.
“Jacqueline war heute Mittag auch hier”, erzählte Lydia.
“Sie ist wieder zurück?”
“Ja, und sie ist unglaublich braun gebrannt und erholt. Sie wirkt so glücklich”, entgegnete Lydia mit einem zufriedenen Lächeln.
“Das ist großartig.”
“Sie wird Freitag auch kommen.”
“Und was ist mit Alix?” Das vierte Mitglied ihrer Strickgruppe hatte nicht jeden Freitag Zeit. Wegen ihrer Verpflichtungen in der Kochschule waren die freitäglichen Treffen mit ihr selten geworden.
Lydia schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht, ob sie es schaffen wird.”
Carol seufzte. “Ich vermisse sie jedes Mal, wenn sie nicht bei uns sein kann.”
“Ich auch”, gab Lydia zu. “Erinnerst du dich an unser erstes Treffen mit dem Strickkurs?”
“Ich war überzeugt davon, dass sich Jacqueline und Alix innerhalb der ersten fünf Minuten an die Gurgel gehen würden.” Carol lachte. “Sie haben sich unmöglich benommen und sich immerzu gezankt.”
“Ja, es war, als säße man wieder in der dritten Klasse.”
“Du sagst es.” Carol staunte einmal mehr darüber, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen geändert hatte.
“Jacqueline stand mehr als einmal kurz davor, den Kurs hinzuschmeißen”, erinnerte sich Lydia.
Carol nickte. “Ich habe verstanden, warum sie gehen wollte – aber ich bin wirklich glücklich, dass sie es nicht gemacht hat.”
“Ich auch. Und wenn Alix nicht geblieben wäre …”
Sie hatten nicht ahnen können, wie diese aufsässige, zornige junge Frau ihr aller Leben beeinflussen würde.
“Hast du etwas von Laurel gehört?”, fragte Lydia.
“Nein, nichts. Nicht seit dem Tag, an dem Cameron auf die Welt gekommen ist. Sie ist anschließend allein zum Gericht gegangen, hat die nötigen Papiere unterschrieben und ist ohne ein Wort wieder verschwunden.”
“Was ist mit Alix? Immerhin haben die beiden mal zusammengewohnt.”
“Wenn sie etwas von Laurel gehört haben sollte, hat sie es uns gegenüber jedenfalls nicht erwähnt.”
“Und Jordan?”
Carol seufzte. “Soweit ich weiß, hat er Laurel zu einem Berater begleitet und ihr eine Unterkunft gesucht, als das Haus verkauft wurde.” Der Wunsch, Cameron auf den Arm zu nehmen und ihn an sich zu drücken, war beinahe überwältigend. Doch sie riss sich zusammen. “Laurel war eine traurige, verwirrte junge Frau, die eine Menge Probleme hatte.”
“Ja, aber etwas hat sie in ihrem Leben doch richtig gemacht – nämlich als sie dir und Doug ihren Sohn gab.”
“Ich wünsche ihr alles Gute”, murmelte Carol und meinte es auch so.
Irgendwann, in einigen Jahren, würde Cameron wahrscheinlich wissen wollen, wer seine leiblichen Eltern waren. Vielleicht würde er sie sogar suchen. Das wäre dann seine Entscheidung. Doch bis dahin war er ihr Sohn. Ihre Liebe und ihre Werte würden ihn formen.
Lydia trug die Wolle zum Tresen und rechnete sie ab. Nachdem Carol bezahlt hatte, stopfte sie die Einkaufstüte in den Korb am Kinderwagen und ging in Richtung Tür. “Ich sehe dich dann am Freitagnachmittag.”
Lydia winkte ihr noch einmal zu, und Carol schob den Kinderwagen den Gehweg entlang, am Blumenladen und dem Café vorbei zum Hügel am Meer, wo auch ihre Wohnung war.
Sie war erst einige Minuten zu Hause, als Doug kam. Er küsste sie und nahm dann den Kleinen auf den Arm, um ihn zu drücken. Sie war immer tief bewegt, wenn sie Doug mit seinem Sohn sah. Camerons Miene hellte sich jedes Mal auf, wenn er seinen Daddy erblickte, und er quiekte und klatschte vor Vergnügen in die Hände.
Solche Augenblicke waren rührend – und real. Sie hatten so lange davon geträumt, vieles erlitten und so viel geopfert, aber nichts davon war mehr wichtig.
Endlich hatten sie ihren Sohn. Endlich hatten sie ihre Familie. Carol schloss die Augen, wollte diesen Moment auskosten und in sich aufnehmen.
Doug saß mit Cameron auf dem Boden. Die beiden spielten mit Bauklötzen, und während sie die beiden betrachtete, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie wusste, dass es in Zukunft wahrscheinlich nicht immer so perfekt sein würde wie an diesem Tag, doch das war egal. Sie fühlte sich zufrieden und glücklich. Die Leere, die sie beinahe zerstört hätte, war verschwunden.
Sie fühlte sich endlich komplett.