8. KAPITEL
Alix Townsend
Alix bereute mittlerweile, sich für den Strickkurs angemeldet zu haben. Doch es war zu spät. Als sie ihren wöchentlichen Gehaltsscheck in den Händen gehalten hatte, war sie zu A Good Yarn gegangen, um für den Kurs zu bezahlen. Wieder einmal hatte sie gehandelt, ohne vorher zu überlegen. Eigentlich war es einfach töricht, so viel Geld für einen Strickkurs zu verschleudern. Je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Auf sich selbst. Sie war auf ihren Kindheitstraum von einer perfekten Mutter hereingefallen. Dabei hatte sie eine Mutter – die war allerdings alles andere als perfekt.
“John ist da”, flüsterte Laurel, die zu Alix hinter den Tresen gekommen war. Seit sechs Monaten traf sich Alix’ Mitbewohnerin mit einem Stammkunden aus dem Videoladen. Alix hielt den Typen allerdings für Abschaum. Er sah vielleicht gut aus und trug stets einen Anzug, aber sie wusste, was für Filme er auslieh. Sie waren alles andere als jugendfrei. Zu seinen Lieblingsfilmen gehörten einige der perversesten Streifen, die die Videothek im Angebot hatte.
Bevor John mit Laurel zusammenkam, hatte er Alix angemacht. Doch sie hatte ihn abblitzen lassen. Laurel hingegen fand ihn von Anfang an toll und glaubte, die ganze Welt drehe sich ab jetzt nur noch um den Gebrauchtwagenhändler John Murray. Alix jedoch hatte ihn durchschaut und wollte ihre Mitbewohnerin davon überzeugen, dass sie etwas Besseres verdiente. Das Problem, glaubte sie, war Laurels Gewicht. Weil sie mehr als zweihundert Pfund wog, schien Laurel zu denken, kein normaler Mann würde mit ihr ausgehen wollen. Dass sie ihr dünnes und strähniges blondes Haar lang trug und selten wusch, machte die Sache nicht gerade besser. Ihre gesamte Garderobe bestand aus Jeans und T-Shirts, wobei die meisten von den Shirts auch noch mit wenig geistreichen Sprüchen bedruckt waren. Alix’ Bemühungen, sie auch mal in Leder und schwarze Hosen zu stecken, waren kläglich gescheitert. Trotzdem, egal wie viel Laurel wog oder wie geschmacklos sie sich kleidete – sie verdiente es, respektvoller behandelt zu werden, als John es tat.
Selbst wenn John anders gewesen wäre, hätte Alix kein Interesse an ihm gehabt. Sie hatte ein Auge auf einen anderen geworfen. Als er vor einiger Zeit hereingekommen war, stand sie gerade an der Kasse. Sein Name war Jordan Turner. Rein äußerlich gesehen war er nichts Besonderes. Nur ein ganz normaler junger Mann, anständig und freundlich, aber mit einem netten Lächeln und warmherzigen braunen Augen. Die Liste seiner ausgeliehenen Videos verriet ihr, dass ihn der perverse Kram nicht interessierte. Außerdem sah er sich keine gewaltverherrlichenden Filme an. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich True Lies und Dumm und dümmer ausgeliehen – ziemlich harmlos im Vergleich zu den Filmen, die sich Mister Lover Boy ansah. Alix hatte in der vierten Klasse mal einen Jungen gekannt, der auch Jordan Turner hieß. Und sie hatte ihn wirklich gemocht. Sein Vater war Pastor. Sie ging damals sogar ein paarmal in die Kirche, weil Jordan sie darum bat. Also hatte ihr erstes Date, wenn man so wollte, in einer Kirche stattgefunden. Wirklich komisch, wie sie fand.
“Vertritt mich bitte kurz”, wisperte Laurel, die hinter ihr stand.
“Laurel”, protestierte Alix, verkniff sich jedoch eine Warnung. Sie hasste diese Situationen. Wusste sie doch genau, was geschah, wenn Laurel und John im Hinterzimmer verschwanden und die Tür hinter sich abschlossen.
John sah sich seine perversen Sexfilme an, kam dann auf der Suche nach Erleichterung in den Videoladen und widmete Laurel zehn Minuten seiner Zeit. Danach haute er ab, nicht ohne ihr zu versprechen, sie mal auszuführen. Das hatte er tatsächlich ab und an getan, wobei er ihr damit allerdings gerade genug Aufmerksamkeit schenkte, um sie bei der Stange zu halten. Der Typ war ein Verlierer. Aber solange Laurel das nicht selbst einsah, würde Alix nichts tun können, um sie von ihm abzubringen.
“Dauert nicht lange”, versprach ihre Freundin und kicherte, als sie mit John an der Hand in den hinteren Teil der Videothek huschte.
Wenigstens war der Laden nicht voll. Um neun Uhr abends hatten die Leute, die einen Film ausleihen wollten, das schon erledigt. Es waren nur noch vier oder fünf Kunden da, die sich umsahen.
Völlig in Gedanken versunken, war Alix überrascht, als sie aufblickte und genau den Typ vor sich sah, um den ihre Gedanken gekreist waren. Jordan Turner stand am Tresen.
“Entschuldige bitte”, sagte er. “Ich wollte dich nicht erschrecken.”
Verdutzt blickte sie Jordan an und brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln. Sie zuckte die Achseln und fragte in einem betont beiläufigen Ton: “Kann ich dir helfen?”
“Würdest du bitte nachsehen, ob The Matrix ausgeliehen werden kann?”
“Ja, sicher.” Sie wandte sich dem Computermonitor zu und tippte den Titel des Films ein. Obwohl niemand, der sie sah, es geglaubt hätte – so hoffte sie –, pochte ihr Herz wie wild. Sie hatte nicht mit Jordan gerechnet, nicht an einem Donnerstagabend. Er kam fast immer am Dienstag.
“Ich habe im Regal nachgeschaut, aber alle Kopien scheinen verliehen zu sein.”
“Sie sind tatsächlich alle unterwegs”, bestätigte Alix und starrte auf den Monitor. “Soll ich dir einen ähnlichen Film empfehlen?”
Er dachte einen Augenblick lang nach, schüttelte dann jedoch den Kopf. “Nein danke.” Er legte Catch me if you can auf den Tresen und bezahlte die Leihgebühr. Bevor ihr irgendetwas einfiel, um ihn aufzuhalten, war er bereits wieder gegangen.
Kurz darauf erschien Laurel hinter dem Tresen, John im Schlepptau. Sie hatte einen Knutschfleck im Nacken, und ihre Bluse war falsch zugeknöpft. Alix blickte John an, der zurückstarrte und Laurel etwas ins Ohr flüsterte. Zwar konnte Alix nicht hören, was er sagte, aber sie konnte es sich denken. Laurel schüttelte vehement den Kopf.
John verließ den Laden keine Minute später – für Alix’ Geschmack immer noch nicht schnell genug.
“Ich treffe mich nach der Arbeit mit ihm”, erzählte Laurel ihr aufgeregt. “Er führt mich zum Essen aus.” Sie blickte Alix herausfordernd an. Doch die ging nicht darauf ein und verkniff sich einen Kommentar.
“Er scheint besonders guter Laune zu sein”, murmelte sie spöttisch.
“Das stimmt”, erwiderte Laurel. “Er hat heute ein Auto verkauft, und wir werden das nachher feiern.”
“Du solltest vielleicht deine Bluse richten, bevor du den Laden verlässt.”
“Oh”, stieß Laurel hervor und sah an sich herunter. Sofort begann sie, sich den Knöpfen zu widmen. “Danke.”
Alix schüttelte nur stumm den Kopf und ergriff einen Korb mit Videos, die zurücksortiert werden mussten.
“Vielleicht komme ich heute Nacht nicht nach Hause”, sagte Laurel, “also warte nicht auf mich.”
Als ob Alix das jemals getan hätte. “Ich bin nicht deine Mutter. Mach dir keine Sorgen.”
“Meiner Mutter wäre es egal. Sie hat mich wegen meines Onkels im Stich gelassen, als ich zehn war. Wegen meines bösen Onkels, wenn du verstehst, was ich meine.”
Laurels Leben im Heim war nicht besser gewesen als das von Alix. Vor etwa einem Jahr hatten sie sich kennengelernt. Damals lebten sie beide in den Tag hinein und übernachteten meist in billigen Hotels. Wenn man nur das Mindestgehalt verdiente, konnte man sich keine regelmäßige Miete leisten. Es dauerte sechs Monate, bis Laurel und Alix die Wohnung gefunden hatten, in der sie nun lebten. Sie waren damals so außer sich vor Freude; man hätte glauben können, sie bezögen ein Schloss und nicht ein einfaches Apartment. Gemeinsam konnten sie die Miete aufbringen, aber die Sanierungsarbeiten bereiteten Alix Sorgen. Sie befürchtete, die Miete könne sich erhöhen. Laurel und sie würden dann über kurz oder lang wieder auf der Straße sitzen. Gerüchte machten die Runde; dieselbe Firma, die auch schon die alte Bank gekauft hatte, sei auch an dem Apartmentkomplex interessiert, in dem Laurel und Alix wohnten.
Die Wohnung war eine Bruchbude mit krummen, abgesackten Fußböden, einer völlig verdreckten Badewanne und Rissen in der Decke. Aber es waren Alix’ erste eigene vier Wände. Die Möbel befanden sich in einem so schlechten Zustand, dass selbst die Wohlfahrt dankend ablehnen würde, wenn man sie ihr angeboten hätte. Dennoch, es war ihr Eigentum. Alix und Laurel hatten jedes einzelne Stück über die Monate gesammelt – mal waren es Geschenke, mal hatten sie die Möbel direkt von der Straße mitgenommen.
Keines der Mädchen stand noch in Kontakt zu seinen Eltern. Das Letzte, was Alix gehört hatte, war, dass ihr Vater mittlerweile irgendwo in Kalifornien lebte. Zehn Jahre hatte sie ihn nicht gesehen und auch nicht vermisst. Er hatte keine Anstalten gemacht, sie zu finden. Und umgekehrt hatte sie ebenso wenig das Bedürfnis, ihn zu suchen. Ihre Mutter saß im Gefängnis. Niemand wusste davon – bis auf Laurel, der sie es in einem schwachen Moment erzählt hatte. Alix schrieb ihrer Mutter im Laufe der Zeit einige Briefe, doch ihre Mutter antwortete immer nur dann, wenn sie Geld brauchte – oder andere Dinge, um die eine Mutter ihre Tochter besser nicht bat.
Alix’ einzige Familie war ihr großer Bruder gewesen. Doch Tom geriet in die falschen Kreise und starb vor fünf Jahren an einer Überdosis. Sein Tod hatte sie schwer getroffen. Und er tat es immer noch. Tom bedeutete ihr alles. Er war einfach gegangen und hatte … aufgegeben. Als sie es erfuhr, war sie wütend. So wütend, dass sie ihn umbringen wollte, weil er ihr das antat. Und das Nächste, an das sie sich erinnerte, war, dass sie sich auf dem Fußboden zusammengekauert und sich gewünscht hatte, wieder acht Jahre alt zu sein. Sie wollte sich in ihrem Schrank verkriechen und so tun, als sei ihre kleine Welt sicher.
Ohne Tom geriet sie ins Wanken, wurde unbesonnen und brachte sich in Schwierigkeiten. Sie hatte einige Zeit gebraucht, bis sie ihren Weg gefunden hatte. Aber es war ihr gelungen. Heute war Alix entschlossen, nicht dieselben Fehler wie ihr Bruder zu machen. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie auf sich allein gestellt. Nach ihrer Einschätzung hatte sie es wirklich gut hinbekommen, drogenfrei und ehrlich zu bleiben. Sicher, sie war ein paarmal mit den Bullen aneinandergeraten und anschließend einem Sozialarbeiter unterstellt worden. Doch trotzdem war sie stolz, nicht in ernste Schwierigkeiten geraten zu sein – und sie war stolz, nicht von der Wohlfahrt leben zu müssen.
“Heute Nachmittag hat jemand für dich angerufen”, sagte Laurel, kurz bevor der Laden schloss. “Ich wollte es dir erzählen, aber ich hab’s vergessen.”
Sie konnten sich die Wohnung leisten, jedoch kein eigenes Telefon. Und so wurden alle Gespräche im Videoladen geführt – was dem Geschäftsführer natürlich nicht sonderlich gefiel. “Wer hat angerufen?”
“Eine Frau namens O’Dell.”
Die Sozialarbeiterin kam nach der Drogengeschichte ab und zu vorbei. Alix war mit Laurels Vorrat an Marihuana erwischt worden. Sie konnte Laurel noch immer nicht verzeihen, dass sie das Geld für so etwas vergeudet und die Drogen – was noch schlimmer war – in Alix’ Tasche versteckt hatte. Alix nahm keine Drogen, aber niemand wollte ihren Unschuldsbeteuerungen glauben. Also hielt sie den Mund und nahm den Vermerk in ihrer Akte hin.
“Was wollte sie?”, fragte Alix, obwohl sie es genau wusste. Denn bevor Alix all die Zeit, Kraft und das Geld in die Babydecke investierte, wollte sie sichergehen, dass der Aufwand auch tatsächlich auf ihre Stunden gemeinnütziger Arbeit angerechnet würde.
“Sie sagte, es sei in Ordnung und würde dir sicher helfen, deine Aggressionen zu bewältigen – was immer das heißen soll”, erwiderte Laurel.
“Oh.” Wenigstens hatte die Dame nicht den Strickkurs erwähnt. Das bewahrte Alix davor, Laurel zu verraten, was sie plante.
“Willst du mir erzählen, worum es geht?”
Alix presste die Lippen aufeinander. “Nein.”
“Wir wohnen zusammen, Alix. Du kannst mir vertrauen.”
“Sicher kann ich das”, entgegnete Alix trocken. “Genauso wie ich dir vertrauen kann, dass du der Polizei die Wahrheit sagst.” Sie würde Laurel nicht so schnell vergessen lassen, was sie ihretwegen in Kauf nehmen musste.
“Okay”, erwiderte Laurel und hob beschwichtigend die Hände. “Mach, was du willst.”
Das war genau das, was Alix vorhatte.