41. KAPITEL

Jacqueline Donovan

“Jacqueline!” Die Stimme schien von weit her zu ihr zu sprechen. “Jacqueline!” Der Ruf wurde lauter, und sie erkannte die Stimme ihres Mannes.

         Sie öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Reese stand vor ihrem Bett.

“Was ist passiert?”, fragte sie und rieb sich die Augen. Es musste etwas Schlimmes geschehen sein, wenn er mitten in der Nacht in ihr Schlafzimmer kam.

“Paul hat gerade eben angerufen. Tammie Lee liegt in den Wehen.”

“Jetzt?”

“Haben Babys jemals darauf geachtet, zu einer anständigen Uhrzeit auf die Welt zu kommen?”

Offenbar erwartete er darauf keine Antwort. “Was hat Paul gesagt?”

“Nur, dass sie seit zehn Uhr im Krankenhaus sind.”

Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es beinahe fünf Uhr war.

“Sie steht kurz vor der Geburt”, sagte er.

Jacqueline zögerte nicht. Sie schlug die Decke zur Seite und griff nach ihrem Morgenmantel.

“Willst du wirklich in die Klinik fahren?” Reese klang überrascht.

“Natürlich!” Ihretwegen konnte er machen, was er wollte – das hatte er schließlich in den letzten zwölf Jahren ihrer Ehe nicht anders getan. Aber nichts, was er sagte, würde sie davon abhalten, die Geburt ihrer ersten Enkeltochter mitzuerleben. Schon stand sie auf und ging in Richtung Badezimmer.

“Ich komme auch mit”, erklärte er und klang, als würde er Widerworte erwarten.

“Tu, was immer du willst.”

Er ignorierte den gereizten Unterton in ihrer Stimme. “Beeil dich”, entgegnete er. “Paul hat gesagt, dass es jeden Moment so weit sein könnte.”

“Ich bin in zehn Minuten fertig.” Normalerweise war diese Zeitangabe beliebig dehnbar, aber heute wollte sie auch zu ihrem Wort stehen. Exakt dreizehn Minuten später traf sie ihren Mann wieder, der bereits im Wagen in der Garage wartete.

Auf dem Weg zum Krankenhaus schwiegen beide. Jacqueline fragte sich, ob er wohl dasselbe dachte wie sie. Es war eine Nacht wie diese, in der sie zum Hospital gefahren waren, weil sie mit Paul in den Wehen lag. Mitten in der Nacht platzte damals ihre Fruchtblase, und in ihrer Panik, dem Baby schaden zu können, klammerte Jacqueline sich an Reese. Sie machte sich Sorgen, dass die Nabelschnur sich bei einer falschen Bewegung um Pauls Hals wickeln könnte.

Geradezu heldenhaft hatte Reese sie auf den Arm genommen, zum Auto getragen und ins Krankenhaus gebracht. Zum Glück war auf den Straßen nicht viel Verkehr, denn Reese nahm die Kurven in einem Tempo, das so manchem Rennfahrer die Tränen in die Augen getrieben hätte. Dann trug ihr Held sie in den Wartebereich des Krankenhauses. Er war an ihrer Seite geblieben, bis Paul das Licht der Welt erblickt hatte. Wenn sie heute die Augen schloss, konnte sie noch immer hören, wie ihr Sohn seinen ersten Schrei tat. Damals war es die schönste Melodie, die sie jemals gehört hatte.

Als sie am Krankenhaus ankamen, hasteten sie zum Informationsschalter und wurden in den fünften Stock geschickt.

Eine Schwester bot ihnen an, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Während Jacqueline die Magazine durchblätterte, ging Reese los, um irgendwo einen Kaffee aufzutreiben.

Keine fünf Minuten später kehrte er mit zwei dampfenden Bechern zurück. “Das ist Automatenkaffee”, erklärte er und zuckte die Schultern.

Das interessierte sie im Augenblick überhaupt nicht – Hauptsache, er war heiß und enthielt Koffein.

Die beiden saßen zwei Stühle entfernt voneinander in dem kleinen Warteraum und nippten an ihrem schalen Getränk. Eine halbe Stunde und drei Magazine später kam Paul in einem hellblauen Krankenhauskittel zu ihnen. Er wirkte müde, doch seine Augen funkelten, als er seine Eltern sah.

“Tammie Lee macht das ganz großartig”, erzählte er. “Das Baby wird wahrscheinlich in der nächsten Stunde zur Welt kommen.”

“Schön.”

“Möchtest du bei der Geburt im Kreißsaal sein?”, fragte er seine Mutter.

“Ich?” Sie schüttelte den Kopf. Das war ein intimer Moment zwischen ihrem Sohn und seiner Frau, und sie wollte nicht stören. Ganz zu schweigen davon, dass Geburten äußerst unschön sein konnten …

“Sicher. Aber nur, wenn du möchtest”, sagte Paul und wirkte aufgeregt. “Tammie Lee hat gesagt, du bist herzlich willkommen, Mom.”

Jacqueline konnte sich nicht daran erinnern, wann sie ihren Sohn zum letzten Mal so glücklich gesehen hatte. “Wenn es euch nichts ausmacht, warte ich lieber hier. Aber du sagst doch sofort Bescheid, wenn das Baby geboren ist, oder?”

“Du und Dad werdet die Ersten sein, denen ich es sage.”

Dann ging Paul zu seiner Frau zurück. Jacqueline und Reese waren wieder allein. Sie ignorierten einander, tranken ihren mittlerweile kalten Kaffee und sahen sich alte Zeitschriften an.

“Erinnerst du dich an die Nacht, in der Paul geboren wurde?”, fragte Reese unvermittelt.

Jacqueline lachte leise. “Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.”

“Ich war damals so stolz auf dich.”

“Weil ich dir einen Sohn geschenkt hatte, meinst du?”

“Nein … ja, natürlich auch deshalb. Ich war glücklich, einen Sohn zu haben, aber ich wäre genauso glücklich über eine Tochter gewesen.”

Sie nickte.

“Was ich meinte, war, dass du mich mit deiner Entschlossenheit und deinem Mut beeindruckt hast.”

Er klang ehrlich. Doch sie zweifelte daran, ob sie es tatsächlich jemals geschafft hatte, ihn zu beeindrucken. Es war irgendwie nicht das richtige Wort.

“Ich erinnere mich daran, wie all die Frauen, die auch in den Wehen lagen, gejammert und nach Schmerzmitteln gefragt haben. Aber nicht du. Nicht meine Jacquie.”

Würdevoll – sogar im Angesicht der unerträglichen Wehenschmerzen. Ja, das war sie. Jacqueline wusste, dass er ihr damit ein Kompliment machen wollte, und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. “Trotz der Schmerzen war es eine der wundervollsten Nächte meines Lebens.”

“Wegen Paul.”

Sie senkte den Blick. “Also, eigentlich nicht. Sondern deinetwegen.”

“Meinetwegen?” Er lachte auf, als könnte er ihr ebenfalls nicht glauben. Sie fragte sich, seit wann dieses gegenseitige Misstrauen ihre Beziehung vergiftete. Und plötzlich wusste sie es – es hatte an dem Tag angefangen, als er seine Geliebte kennenlernte.

“Als wir hierher fuhren, habe ich an die Nacht denken müssen, als Paul geboren wurde.”

Reese nickte. “Ich habe auch daran gedacht.”

“Und weißt du noch, wie du mich zum Auto getragen hast? Es war so … so verwegen von dir. Ich war zu dem Zeitpunkt ja nicht gerade ein Leichtgewicht.”

“Dein Held”, spöttelte er und lächelte.

Eine tiefe Traurigkeit schien sie zu überwältigen. “Du warst mein Held”, flüsterte sie und nahm schnell einen Schluck von ihrem Kaffee. Er sollte nicht sehen, wie unglücklich sie mit einem Mal war.

“Aber das bin ich jetzt nicht mehr”, murmelte er.

Ihr Schweigen sagte mehr als tausend Worte. Sie blickte zur Seite, rang um Fassung. Ein Teil von ihr wollte wissen, was sie ihm nicht hatte geben können, dass er sich einer anderen Frau zuwenden musste. Doch der Schmerz war zu überwältigend. Sie fürchtete, dass, was immer er auch antwortete, ihr noch mehr wehtun würde. Mehr als das bloße Wissen, dass es die Andere in seinem Leben gab.

Er sagte nichts und sah auch nicht in ihre Richtung.

Und plötzlich wurde ihr klar, dass es in diesem Augenblick vielleicht sie war, die etwas sagen musste. Vielleicht sollte sie beginnen, eine Brücke zwischen ihnen zu bauen. Sie hatte ihn einmal so sehr geliebt. Und verdammt, ja, sie konnte es auch zugeben: Sie liebte ihn noch immer. Zu sehen, wie Paul und Tammie Lee einander liebten, war auch deshalb so schmerzvoll für Jacqueline, weil sie erkannte, was sie verloren hatte. Nach außen hin führte sie ein wundervolles Leben. Sie musste sich keine Sorgen ums Geld machen, sie hatte ein tolles Haus und viele Freunde. Trotzdem fühlte sie sich furchtbar einsam.

“Ich …”, begann Reese, als plötzlich der Schrei eines Kindes den Flur entlanghallte.

Erschrocken blickten sie einander an.

“Glaubst du, das war sie?”, fragte Jacqueline und sprang auf.

“Ich weiß es nicht”, erwiderte er, der ebenfalls schon stand.

“Vielleicht sollten wir die Krankenschwester fragen?”, überlegte sie.

Er ergriff ihren Ellbogen, und gemeinsam gingen sie zum Schwesternzimmer.

“Wir haben gerade den Schrei eines Neugeborenen gehört”, sagte Reese zu der Frau und nannte ihre Namen.

“Wir haben uns gefragt, ob das möglicherweise unsere Enkeltochter war”, fügte Jacqueline mit leiser Stimme hinzu, um die anderen Patienten und Besucher nicht zu stören.

“Ich werde für Sie nachsehen”, sagte die Schwester und verschwand in einem der Kreißsäle. Nach wenigen Augenblicken kehrte sie mit zwei hellblauen Kitteln zurück. “Ziehen Sie diese Schutzkleidung bitte über. Dann können Sie die junge Familie besuchen.”

Weder Jacqueline noch Reese zögerten auch nur eine Sekunde. Sie zogen die Kittel an, und die Schwester führte sie in den Kreißsaal. Der Raum hatte mit dem Kreißsaal, in dem Jacqueline damals ihren Sohn zur Welt brachte, nicht mehr viel gemeinsam. Ein Sofa, Stühle, ein Fernseher und eine Badewanne standen in dem Zimmer. Wenn sie es nicht besser wüsste … Jacqueline hätte geglaubt, in einem Hotelzimmer zu stehen.

Tammie Lee lag im Bett und lächelte Paul zu, der ihre Tochter in den Armen hielt. Das Gesicht ihrer Schwiegertochter war gerötet, die Haare schweißnass, und Tränen schimmerten in ihren Augen. Jacqueline fand, dass sie nie hübscher ausgesehen hatte.

“Mom und Dad”, sagte Paul und wiegte behutsam das kleine Wesen in seinen Armen. “Dies ist Amelia Jacqueline Donovan.”

Jacqueline hatte das Gefühl, als würde ihr Herz zerspringen. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen. “Ihr habt sie nach mir benannt?”

“Amelia war der Name meiner Großmutter, und wir haben Jacqueline gewählt, weil wir dich einfach lieben”, sagte Tammie Lee.

Tränen rannen Jacquelines Wangen hinunter, als sie das Kind betrachtete, das auch ihren Namen trug.

“Würdest du deine Enkeltochter gern mal halten, Mom?”, fragte Paul.

Jacqueline nickte stumm, und die Tränen der Freude wollten nicht versiegen. Ihr Sohn legte ihr vorsichtig das Baby in die Arme. Auch wenn es unwahrscheinlich war, hatte Jacqueline doch das Gefühl, Amelia hätte die Augen aufgeschlagen und sie direkt angeschaut. Unsichtbare Bande schienen sie miteinander zu vereinen – und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie dieses Kind mehr als ihr Leben lieben würde. Sie lächelte Tammie Lee an. “Danke”, sagte sie mit zitternder Stimme. Dann sah sie zu Reese auf und bemerkte, dass auch in seinen Augen Tränen schimmerten.

Ganz sanft beugte sich Reese zu Amelia herab und küsste ihre Stirn. Nach einem Moment sah er zu Jacqueline auf.

“Jetzt hast du die Tochter, die du dir immer gewünscht hast”, flüsterte er.

Erst später an diesem Tag, nachdem Jacqueline die Babyabteilung von drei Kaufhäusern leer gekauft hatte, verstand sie, was ihr Ehemann damit sagen wollte.

Reese meinte nicht die kleine Amelia. Er hatte von Tammie Lee gesprochen.