23. KAPITEL

Jacqueline Donovan

Jacquelines Tag war komplett verplant. Um neun Uhr hatte sie einen Termin im Nagelstudio, danach traf sie sich mit ihren Freunden zum Essen.

Dann wollte sie losgehen, um einige notwendige Besorgungen zu machen. Dienstag war der Tag der Woche, an dem sie sich immer am meisten vornahm – und das war nicht ohne Grund so. Beschäftigung bot eine Möglichkeit zu verdrängen, dass ihr Ehemann die Nacht mit einer anderen Frau verbrachte.

Jedes Mal, wenn sie im Einkaufszentrum war, achtete sie darauf, dass sie für das stetige Hinwegsehen über die Eskapaden ihres Mannes angemessen entlohnt wurde – obwohl sie noch immer die Zähne zusammenbeißen musste, wenn sie nur daran dachte.

Kurz bevor sie sich zum Nagelstudio aufmachen wollte, klingelte das Telefon. Für einen Moment war sie versucht, einfach nicht ranzugehen. Doch sie sah auf dem Display, dass Reese anrief. Widerstrebend nahm sie den Hörer ab.

“Du musst mir einen Gefallen tun”, sagte ihr Mann. “Ich bin gleich zu einem wichtigen Meeting verabredet und habe meinen Aktenkoffer zu Hause vergessen.”

“Soll ich ihn dir vorbeibringen?”, fragte sie. Das würde bedeuten, dass sie zu spät zu ihrem Termin im Nagelstudio käme. Jedoch hätte Reese nicht angerufen, wenn es nicht wichtig gewesen wäre. Sie hatte vor, an diesem Nachmittag einen nicht eben geringen Teil seines Vermögens im Kaufhaus auszugeben. Und so war das Mindeste, was sie tun konnte, ihm diesen kleinen Gefallen zu erweisen.

“Würdest du das machen, Jacquie? Ich würde ihn ja selbst holen, aber ich brauche die Akten so schnell wie möglich hier.”

“Bin schon unterwegs.”

Er erklärte ihr, dass der Aktenkoffer neben seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer stand. Jacqueline fand den Koffer dort. Das Arbeitszimmer gehörte zu Reese’ Reich im Haus, und sie ging nur selten hinein. Für einen Moment blieb sie dort und fuhr mit den Fingerspitzen über die perfekt angeordneten Bücher in den Mahagoniregalen. Manchmal rauchte Reese eine Zigarre, und der Duft von Tabak und Leder war in diesem Zimmer deutlicher wahrzunehmen als sonst im Haus.

Sentimentale Gefühle überkamen sie, und eine Sehnsucht bemächtigte sich ihrer. Sie konnte sich das nicht erklären. Ein dumpfer Schmerz durchfuhr sie, als sie an die Liebe dachte, die sie einst füreinander empfunden und so leichtfertig hatten einschlafen lassen. Die Liebe der frühen Jahre … Sie hatte nie zugelassen, dass die Erkenntnis der Einsamkeit, die sie in ihrer Ehe verspürte, sie überwältigte. In diesem Augenblick tat sie es, und die Traurigkeit legte sich wie eine eiskalte Hand um ihr Herz.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann oder warum genau ihre Liebe verloren gegangen war. Reese’ Dienstagsgeliebte war nur ein Symptom ihrer Entfremdung, nicht die Ursache. Sie hatten sich bereits voneinander entfernt, als diese Frau in sein Leben trat. Langsam, über einen Zeitraum von einigen Jahren, war Jacqueline und Reese die Nähe zueinander verloren gegangen. Und es lag an ihnen beiden – Reese war stur. Aber sie war es auch.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich ihre Ehe so, dass die beiden eher Wohngemeinschaft als Ehepartner, eher Freunde als Geliebte waren. Das geschah mit vielen Paaren – Jacqueline hörte von anderen Frauen immer wieder Geschichten dieser Art. Trotzdem half das in diesem Moment nicht gegen den Schmerz des Verlustes, der sie quälte. Kopfschüttelnd schob sie die düsteren Gedanken beiseite, ergriff den Aktenkoffer und ging in die Garage.

Sie rief vom Auto aus das Nagelstudio an und fuhr dann zur Blossom Street. Die Bauarbeiten gingen gut voran, obwohl das Parken in der Gegend immer noch unmöglich war. Ihr fiel auf, dass Reese ihr nicht gesagt hatte, wo sie das Auto abstellen konnte.

Sie versuchte ihn über das Handy zu erreichen, doch offenbar hatte er sein Mobiltelefon ausgeschaltet. Zweimal war sie bereits um den Block gefahren, aber sie fand noch immer keinen Parkplatz. Und in zweiter Reihe zu stehen war nicht möglich, weil die Straße einfach zu schmal war. Nachdem sie weitere zehn Minuten ihrer kostbaren Zeit damit vergeudet hatte, einen Parkplatz zu finden, hielt sie in der Gasse hinter dem A Good Yarn. Es war nicht die beste Gegend der Stadt, um einen teuren Wagen abzustellen. Lydia hatte sie ausdrücklich davor gewarnt, die Seitenstraße zu benutzen, aber Jacqueline sah keine andere Möglichkeit. Die Gasse war eng und dunkel, und unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie hastig den Wagen abschloss.

Als sie auf der Baustelle ankam, konnte sie Reese nirgends entdecken. Sie ging zum Container, in dem das provisorische Architekturbüro untergebracht war. Der Projektmanager begrüßte sie. Jacqueline wusste nicht mehr, wie er hieß, obwohl sie sich sicher war, dass Reese diesen jungen Mann schon einmal erwähnt hatte. Es war allerdings schon lange her, dass sie sich die Mühe machte, die Namen seiner Angestellten zu kennen.

“Danke”, sagte der jugendlich wirkende Mann zu ihr. “Reese war ziemlich aufgebracht, weil er den Koffer zu Hause vergessen hatte.”

“Kein Problem, ich habe gern geholfen”, murmelte Jacqueline und kletterte über einige herumliegende Stahlbetonträger, um den Bauplatz verlassen zu können.

Leicht verstimmt lief sie die Straße entlang bis zur Einmündung der kleinen Gasse. Leider hatte der Wollladen noch geschlossen, sonst wäre sie durch das Geschäft gegangen. Während sie in die Seitenstraße einbog, wuchs ihr Ärger. Kein Wunder, dass ihre Ehe am Ende war. Statt sie persönlich zu begrüßen, schickte Reese seinen Assistenten – als wäre es für ihn selbstverständlich, dass sie seinetwegen ihre gesamte Tagesplanung über den Haufen warf. Beim nächsten Mal konnte er seinen Aktenkoffer getrost selbst holen.

Gedankenverloren hatte Jacqueline bereits die Hälfte des Weges zum Wagen zurückgelegt, als sie plötzlich eine unheimliche Vorahnung beschlich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hielt an und drehte sich um. Nichts. Kopfschüttelnd entspannte sie sich wieder und schalt sich selbst einen Feigling. Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, und so war die Gasse kühl und dunkel. Jacqueline machte zwei weitere Schritte, hielt jedoch wieder inne, denn das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker.

Das waren ihre Nerven, die ihr einen Streich spielten, entschied sie. Sie hatte eindeutig zu viele Krimis gesehen. Trotzdem blieb die Angst. Und sie wuchs von Augenblick zu Augenblick. Aber sie musste zu ihrem Wagen. Es gab keine andere Möglichkeit.

Sie war keine sechs Meter mehr von ihrem Mercedes entfernt, als zwei Männer ihr in den Weg traten. Bedrohlich standen sie vor ihr, halb verdeckt durch die Schatten der Gebäude. Sie konnte ihre Gesichter nicht genau erkennen, doch sie sah das höhnische Grinsen der beiden. Es waren Typen von der Straße, dachte sie, ungepflegt und dreckig.

“Was haben wir denn da?”, rief der eine dem anderen zu, der gerade um sie herumging, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden.

Jacqueline spürte kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Ihr Instinkt befahl ihr, wegzurennen. Aber sie fürchtete, ihre Beine würden ihr den Dienst versagen. Und in ihren Pumps hatte sie kaum Chancen, den beiden zu entkommen, wenn sie ihr folgten.

“Würden Sie bitte aus dem Weg gehen?”, sagte sie und war stolz auf ihre gespielte Tapferkeit.

“Bitte”, wiederholte der zweite Typ mit einer Fistelstimme. Er war größer als sein Komplize, hob den rechten Arm und ließ seine Hand betont vornehm baumeln. “Da haben wir es wohl mit einer echten Lady zu tun.”

“High Society.”

“Viel Geld.”

“Jetzt gib auf, Schlampe.”

Sie umklammerte ihre Tasche. “Das wagen Sie nicht.”

“Wir konnten noch nie einer Herausforderung widerstehen, was, Larry?”

“Halt die Schnauze!”, schrie der andere Mann, offensichtlich wütend, weil sein Komplize seinen Namen verraten hatte. Er zog ein Klappmesser aus der Tasche und fuchtelte damit gefährlich nah vor Jacquelines Gesicht herum.

Trotz ihrer Entschlossenheit, möglichst ruhig zu bleiben, stockte ihr der Atem. Die Klinge blitzte im Halbdunkel der Gasse kurz auf.

Er streckte den Arm aus, als ob er erwartete, sie würde ihm freiwillig ihre Tasche reichen. Sie wusste, dass es keine Bitte, sondern eine Aufforderung war. Jeder Widerstand würde mit Gewalt beantwortet werden.

Obwohl sie gar nicht bemerkte, wie es geschah, entglitt ihr die Designertasche und fiel auf den Asphalt.

“Wenn ich du wäre, würde ich die nicht anfassen”, erklang in diesem Moment eine Frauenstimme hinter Jacqueline. “Bist du nicht auf Bewährung, Ralph? Es wäre eine Schande, dich demnächst wieder hinter Gittern zu wissen.”

Es dauerte eine Weile, bis Jacqueline erkannte, wer die Frau war. Alix Townsend. Alix, das Mädchen, das sie für eine Verbrecherin und Punkerin hielt, riskierte ihr eigenes Leben, um sie zu retten.

“Halt dich da raus”, knurrte Larry, und seine Lippen wurden ganz schmal.

“Tut mir leid, Jungs”, entgegnete Alix und machte einen Schritt auf sie zu. “Aber diese Lady hier ist eine gute Freundin von mir.”

Jacqueline blieb, wo sie war. Sie fühlte sich wie gelähmt und nicht fähig, sich zu bewegen. Ihr Atem ging flach.

Larry starrte auf die Tasche. “Du willst die Beute doch nur für dich selbst”, brummte er. Fest umklammerte er das Messer und hob es ein Stück höher.

Plötzlich erklang ein leises Klicken. Jacqueline brauchte einen Moment, bis sie begriff, was geschehen war. Alix hatte selbst ein Messer gezogen.

“Sie können das Geld nehmen”, wisperte Jacqueline. Es war ihr egal. Sie wollte nur, dass Alix und sie unversehrt und lebendig aus dieser Situation herauskamen.

“Nein, das können sie nicht!”, rief Alix, als die beiden Typen auf sie zukamen. “Geh in den Laden!”

“Nein!” Jacqueline wusste nicht, woher sie den plötzlichen Mut nahm, doch sie hob ihre Tasche auf und schleuderte sie – wie eine Waffe – über ihrem Kopf. Sie hatte siebenhundert Dollar dafür bei Gucci bezahlt, und sie leistete ihr gute Dienste – vor allem, als sie den kleineren Gangster am Kopf traf. Ralph heulte vor Schmerz auf.

“Was ist da los?”, rief Lydia und blickte aus der Hintertür ihres Geschäfts.

“Ruf die Polizei!”, schrie Jacqueline panisch.

Alix stand in gebückter Haltung vor den beiden Männern und hielt drohend ihr Messer in der linken Hand. Die Ganoven warfen einen Blick auf die zu allem entschlossenen Frauen und auf den leeren Türrahmen, in dem kurz zuvor noch Lydia gestanden hatte. Dann sahen sie einander an und ergriffen die Flucht.

Sobald sie außer Sichtweite waren, begann Jacqueline wie Espenlaub zu zittern. Es begann in den Händen, kroch die Arme hinauf und bis zu den Beinen. Ihre Knie schienen plötzlich ein Eigenleben zu führen.

“Alles in Ordnung?”, fragte Alix.

Wortlos schüttelte Jacqueline den Kopf.

“Die Polizei ist unterwegs”, rief Lydia.

“Larry und Ralph sind weg.” Alix legte den Arm um Jacquelines Taille und führte sie durch die Hintertür in den Wollladen.

Der Tisch schien kilometerweit entfernt zu sein. Als Jacqueline ihn endlich erreichte, fiel sie auf einen der Stühle.

“Ich … ich hätte umgebracht werden können.” Sie spürte noch immer die Blicke dieser Männer. Gott allein wusste, was sie mit Jacqueline gemacht hätten, wenn Alix nicht vorbeigekommen wäre.

“Alix”, stieß sie atemlos hervor, “du hast mir das Leben gerettet.” In dem Moment wollte Jacqueline all die bösen Gedanken, die sie dem Mädchen gegenüber gehegt hatte, zurücknehmen. Ihr war egal, welche Farbe Alix’ Haar hatte. Dieses Mädchen hatte sie vor einem Schicksal bewahrt, das sie sich nicht ausmalen wollte.

Alix setzte sich neben sie, und Jacqueline bemerkte, dass sie ebenfalls zitterte. Es war ihr wirklich gelungen, so zu wirken, als hätte sie keine Angst. Doch in Wirklichkeit hatte sie genauso eine Panik wie Jacqueline.

Draußen ertönte eine Sirene. Lydia eilte zum Eingang des Ladens, um die Polizisten abzuholen. Einige Minuten später betraten zwei Officer den Laden.

Die drei Frauen fingen an, wild durcheinanderzureden. Jacqueline meinte, sie sei diejenige, die den Vorfall schildern müsste, denn sie war schließlich bedroht worden. Sie sprach also weiter und wurde dabei immer lauter, um die anderen beiden zu übertönen.

“Nur eine von Ihnen auf einmal, meine Damen”, sagte der erste Officer und hob beschwichtigend die Hände. Er war jung und sah nett aus. Jacqueline erinnerte er an ihren Sohn. Paul würde sicher außer sich sein, wenn er erführe, dass sie beinahe ausgeraubt worden wäre.

Der Officer begann Jacqueline zu vernehmen. Als er fertig war, kam Alix an die Reihe. Schließlich stellte er Lydia noch ein paar Fragen. Jede der Frauen beschrieb die Männer ein bisschen anders. Alix weigerte sich jedoch, ins Detail zu gehen. Sie kannte die beiden immerhin. Zuerst wollte sie die Namen der beiden verschweigen, doch Jacqueline gab sie zu Protokoll.

Nun, da die Beschreibungen der beiden Typen fertig und die Vornamen bekannt waren, war es sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis sie gefasst würden. Jacqueline hatte sich dafür entschieden, Anzeige zu erstatten. Während sie sprach, hielt sie unentwegt ihre Tasche mit beiden Händen fest umklammert.

“Sie beide kennen sich?”, fragte der eine Polizist und sah zwischen Jacqueline und Alix hin und her.

“Aber natürlich”, erwiderte Jacqueline. “Wir stricken zusammen.”

“Ja”, brummelte Alix und reckte herausfordernd das Kinn vor. “Jacqueline und ich sind Freundinnen.”

“Sie hat mich vor Gott weiß was bewahrt”, sagte Jacqueline leise.

Der Officer schüttelte den Kopf. “Es wäre besser gewesen, Sie hätten den beiden einfach die Tasche gegeben.”

Jacqueline wusste, dass er recht hatte. Jedes Buch über das Leben und Überleben in der Großstadt lehrte den Leser genau diese Regel: Wenn man angegriffen wurde, sollte man die Habseligkeiten fallen lassen und rennen.

Als die Polizisten schließlich gegangen waren, sah Jacqueline zu Alix herüber, die inzwischen am Tisch gegenüber saß. “Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.”

“Du schuldest mir was.”

Jacqueline nickte. Sie war sich immer noch nicht sicher, warum Alix überhaupt in die Seitenstraße gekommen war. Als die Polizisten sie gefragt hatten, gab sie zur Antwort, sie hätte Jacqueline in die Gasse gehen sehen und gedacht, dass es kein sicherer Ort für ihre Freundin sei. Also war sie ihr hinterhergegangen. Und Jacqueline würde für den Rest ihrer Tage dankbar sein, dass sie es getan hatte.

Ihre einzige Sorge war nun, dass sie Alix etwas schuldete. Sie konnte nur vermuten, was das Mädchen als Gegenleistung fordern würde.