36. KAPITEL

Alix Townsend

Alix warf ihre schmutzigen T-Shirts in die Waschmaschine, fügte Waschmittel hinzu und steckte Vierteldollarmünzen in den Schlitz des Automaten. Sie besaß genügend T-Shirts von diversen Rockbands und Konzerten, um zwei Wochen damit über die Runden zu kommen. Und dank der neuen spießigen Unterwäsche, die Jacqueline ihr unbedingt kaufen wollte, hatte sie nun genauso viele Höschen.

Um Geld zu sparen, wuschen Alix und Laurel ihre Wäsche immer gemeinsam und wechselten sich mit dem Gang in den Waschsalon ab. Heute war Alix an der Reihe – und sie hasste es. Für sie würde ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen, wenn sie eines Tages genug Geld verdiente, um sich eine eigene Waschmaschine und einen Trockner leisten zu können.

Sie setzte sich auf einen der unbequemen Plastikstühle und griff nach einer Zeitschrift. Das People Magazine, das sie in die Hand nahm, war von Weihnachten vor einem Jahr. Sie legte es beiseite, als sie feststellte, dass sie die Zeitschrift schon von ihrem letzten Besuch kannte. Tatsächlich hatte sie bereits alles gelesen, was in diesem Waschsalon herumlag.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie an Jacqueline dachte. Ihre Freundin meinte es nur gut mit ihr. Aber nichts auf dieser Welt würde Alix je dazu bringen, ein Strickkleid anzuziehen. Ein Blick auf das Preisschild und sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Die Kombination aus Rock und passendem Oberteil sollte eintausend Dollar kosten. Eintausend Dollar für ein Kleid? Das war verrückt!

Und der anschließende Besuch bei der Hairstylistin war noch schlimmer gewesen. Die Französin mit ihrem breiten Akzent hörte auf nichts, was Alix sagte. Offenbar hatte sie ihre eigene Vorstellung davon, was getan werden musste, und ignorierte daher einfach Alix’ Wünsche. Als Desiree, oder wie auch immer sie heißen mochte, fertig war, stand Alix kurz davor, zu schreien. Um ehrlich zu sein, war ihr Haarschnitt recht gelungen – wenn sie hätte aussehen wollen wie eine Schleimerin. Sie brauchte über eine Woche, bis sie die Haare wieder so stylen konnte, wie sie es wollte.

Alix bemühte sich, nicht ungerecht zu sein – Jacqueline wollte ihr etwas Gutes tun, und Alix war ihr auch wirklich dankbar dafür. Vor allem, weil Jacqueline die Rechnung bezahlte. Doch Jacquelines Bemühungen waren nach hinten losgegangen. Sie verstand einfach nicht, welchen Kleidungsstil Alix bevorzugte. Und Alix ließ Jacqueline nicht nahe genug an sich heran, damit sie sie näher kennenlernen und besser einschätzen konnte.

Wenigstens war Carol am letzten Freitag wieder zur Strickstunde erschienen – und zwar ausgesprochen gut gelaunt. Alle hatten sich um Carol wegen der traurigen Nachricht über ihre Fehlgeburt gesorgt. Alix hatte keine Ahnung, was sie überhaupt sagen sollte. Sie wünschte sich, dass Carol wusste, wie leid ihr das alles tat. Doch andererseits wollte sie das Thema nicht aufbringen, sondern abwarten, ob Carol vielleicht von sich aus das Bedürfnis zeigte, darüber zu sprechen. Und offensichtlich hatten auch Jacqueline und Lydia so gedacht.

Dann erschien Carol im Laden und wirkte so fröhlich und gelöst wie immer. Das überraschte nicht nur Alix, sondern auch die anderen beiden. Carol schien überzeugt zu sein, dass sie und Doug ein Kind adoptieren könnten. Zwar hatte Alix eine Menge Fragen, aber als sie merkte, dass auch Lydia und Jacqueline sich zurückhielten, tat sie es ihnen gleich. Carol verriet keine Details, also gingen die Frauen davon aus, dass alles in Ordnung war. Nur Alix fragte sich, ob Carol ihren Schmerz einfach ignorierte und sich womöglich in einer Wunschvorstellung verlor. Sie versuchte, Carol aufzumuntern und zu ermutigen. Doch in Wahrheit machte sie sich Sorgen um die Freundin.

Carol war allerdings nicht die Einzige in der Gruppe, um die Alix sich sorgte. Es war offensichtlich, dass etwas mit Lydia nicht stimmte. Sie schien in letzter Zeit nicht sie selbst zu sein, wirkte seltsam gedämpft und in sich gekehrt. Zuerst dachte Alix, Lydia wäre vielleicht nicht länger mit dem UPS-Mann befreundet. Doch Alix zweifelte, dass das der Grund für Lydias Zustand war. Als sie Lydia darauf ansprach, versicherte die ihr, dass alles in Ordnung sei. Aber Alix musste keine Psychologin sein, um zu sehen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Und Laurel … Laurels Laune wurde immer schlimmer. Es war nicht einfach mit ihr, aber sie brauchten einander, um die Wohnung halten zu können. Die letzten drei Monate verhielt sich Laurel reizbar und aufbrausend. Um ihr zu helfen, hatte Alix ihr eine Zeitung mit Tipps für eine Wunderdiät gegeben. Doch ihre einzige Reaktion war, Alix die Zeitung wutentbrannt ins Gesicht zu schleudern. Seitdem ging Alix ihrer Mitbewohnerin aus dem Weg. Das war einfacher, seit Laurel nicht mehr im Videoladen arbeitete. Sie hatte eine Woche zuvor gekündigt und einen Job als Assistentin in einer Tagesbetreuung angenommen – was bedeutete, dass sie Kinder hütete, verschütteten Saft aufwischte und Legosteine einsammelte. Dieser Job setzte keine Ausbildung oder das Bestehen bestimmter Kurse voraus. Aber Laurel mochte auch diese Tätigkeit nicht besonders.

Die Waschmaschine war durchgelaufen, und Alix stand auf, um die sauberen Kleidungsstücke in einen Plastikkorb zu werfen. Gerade wollte sie die Wäsche zum Trockner bringen, als sie sich umdrehte – und beinahe mit Jordan Turner zusammengestoßen wäre.

Sie war Jordan seit ihrem Streit nicht mehr begegnet. Und nachdem sie sich derartig zum Affen gemacht hatte, glaubte sie nicht, noch eine Chance bei ihm zu haben. Der Grund, warum sie Jacquelines Stylingidee überhaupt zugestimmt hatte, war, dass sie hoffte, er würde die Veränderung bemerken. Und um ihm damit einen Anstoß zu geben, wieder mit ihr zu sprechen. Sie hätte wissen müssen, dass das nicht klappen konnte. Alles, was sie bisher unternommen hatte, um ihr Leben in irgendeiner Form zu verbessern, endete in einem Desaster.

“Ha-hallo”, stammelte sie.

“Ich habe mir gedacht, dass du das bist”, sagte er und betrachtete ihre Frisur. “Ich mag das neue Styling. Schöne Farbe.”

“Echt?” Alix’ Herz schlug ihr bis zum Hals.

“Das ist meine natürliche Haarfarbe. Also, jedenfalls beinahe … wenn ich mich recht erinnere.” Bevor Jordan ihr dieses Kompliment machte, war sie immer der Meinung gewesen, ihr Haar sei mausbraun. Doch er gab ihr das Gefühl, hübsch zu sein, irgendwie besonders.

“Ich denke, wir sollten mal reden”, sagte er.

Sie zuckte nur die Schultern, viel zu nervös, um etwas zu erwidern.

“Hast du Zeit?”

“Denke schon.” Sie ging zu dem großen Trockner und warf ihre Wäsche hinein. Nachdem sie die Pennys in den Schlitz geworfen hatte, wartete sie einen Augenblick, bis das Gerät sich ächzend in Bewegung setzte. Dann ging sie hinüber zu Jordan.

Er hatte sich an einen der Tische gesetzt, auf denen die Kunden normalerweise die Wäsche zusammenlegten. Es war noch früh am Morgen, und der Waschsalon angenehm leer. Gegen zehn Uhr würde es voll werden. Alix versuchte die Stoßzeiten zu umgehen, in denen kreischende Kinder herumrannten und die Leute sich darüber stritten, wer den Trockner benutzen durfte.

Sie senkte den Kopf und suchte nach Worten der Entschuldigung.

“Ich habe gehört, was du getan hast”, begann Jordan.

Alix runzelte die Stirn. Sie wusste nicht genau, wovon er sprach.

“Lori hat mir erzählt, dass du sie aus dem Dealerhaus geholt hast.”

“Oh.” Sie hatte die Geschichte schon beinahe vergessen. “Ja, stimmt. Lori wollte im Grunde genommen selbst da raus. Sie fürchtete sich nur davor, es zuzugeben.”

“Lori hat eine Menge Probleme.”

“Wer nicht?” Sie wollte nicht oberflächlich klingen, aber es waren diese Worte, die ihr in diesem Moment durch den Kopf gingen. Alle Jugendlichen durchliefen anscheinend eine Phase, in der sie glaubten, die Welt sei ihnen nicht wohl gesonnen. Der einzige Weg, sich zu verteidigen, war, zurückzuschlagen. Ihr eigener Aufstand gegen die Gesellschaft hatte sie auf einige dunkle Wege geführt. Rückblickend wünschte sie sich, jemand wäre da gewesen, um sie aus dem Drogensumpf zu holen.

“Lori hat mich gebeten, dir zu sagen, wie dankbar sie dir ist.”

Das hatte Alix ein bisschen anders in Erinnerung.

“Ich bin dir übrigens auch dankbar”, sagte Jordan.

Sie nickte. “Ich habe gespürt, dass Lori nicht in dieses Haus gehört. Nicht zu diesen Menschen.”

“Du genauso wenig.” Jordan blickte sie eindringlich an.

“Ich weiß.”

Jordan hielt ihrem Blick stand. “Sind Drogen ein Problem für dich?”

Diese Frage machte sie wütend. Normalerweise hätte sie eine passende Bemerkung darauf gehabt, doch sie schluckte ihren Ärger hinunter. Es war nur natürlich, dass er diese Frage stellte – schließlich war sie freiwillig zu dem Dealer gegangen. “Nicht mehr. Früher habe ich ab und zu Drogen genommen. Aber mittlerweile lasse ich es.”

Er nickte und glaubte ihr offenbar.

“Ich denke, ich sollte mich entschuldigen”, begann sie und bemühte sich, dabei so beiläufig wie möglich zu klingen. “Du hattest recht, ich war eifersüchtig.” Ihn in der Kirche zu sehen, zusammen mit diesem Inbegriff einer amerikanischen Schönheit, hatte sie mehr getroffen, als sie zugeben wollte. Eigentlich stand es ihr nicht zu, so zu fühlen, doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Jordan und sie zusammengehörten. Er gehörte zu ihr. Die Eifersucht hatte so heiß in ihrer Seele gebrannt, dass sie den Schmerz nicht ignorieren konnte. Für einen kurzen Moment war sie verführt gewesen, ihren Kummer mit einem Mittel zu bekämpfen, dessen sie sich eigentlich nie mehr wieder hatte bedienen wollen.

Es war nicht Lori, die ihr dankbar sein musste – es war Alix, die Lori danken sollte. Das Mädchen hatte sie ganz unbewusst auf den richtigen Weg zurückgeführt.

“Entschuldigung angenommen.” Jordan grinste.

Alix glaubte, vor Freude in die Luft springen zu müssen. Sie lächelte ihn an.

“Freunde?”

“Freunde”, wiederholte sie, war erleichtert und doch auch ein bisschen enttäuscht. Hieß das, sie könnten niemals mehr als nur Freunde sein?

Jordan streckte seine Hand aus und strich über ihre Finger. “Ich habe dich vermisst.”

Für ein paar Sekunden schien ihr Herzschlag auszusetzen. Er hatte sie vermisst! “Ich stricke dir gerade einen Pullover”, flüsterte sie.

“Echt?”

Alix verfluchte den Tag, an dem sie das Strickmuster von Carol übernommen hatte. Es bereitete ihr seit dem Augenblick, in dem es in ihren Besitz übergegangen war, nichts als Ärger. Eine Zeit lang hatte sie aufgehört, daran zu arbeiten, doch irgendwann machte sie weiter – sie hoffte, sich Jordan damit nahe zu fühlen. Außerdem dachte sie, damit einen Grund zu haben, sich bei Jordan zu melden. Die Babydecke war bereits fertig, und sie hatte sie auch schon ihrer Sozialarbeiterin gezeigt. Nun musste diese die Decke nur noch an die entsprechende Stelle weiterleiten.

“Du musst nicht eifersüchtig sein.”

Alix sah Jordan an.

“Es gibt keine andere.”

Sie schluckte. “Oh.”

Seine Finger umschlossen die ihren. “Erinnerst du dich an den Tag, an dem du Muffins mit in die Klasse gebracht hast? Es war dein Geburtstag.”

Natürlich hatte Alix das nicht vergessen. Da ihre Mutter nicht viel im Haushalt tat, musste Alix die Muffins ganz allein backen. Und sie verwendete nicht einmal eine Backmischung, sondern stellte den Teig nach einem alten Rezept selbst her.

“Ich habe sie selbst gebacken”, erklärte sie und war erstaunt, dass er sich daran erinnerte.

“Du hast mir zwei Stück gegeben.”

Sie senkte den Blick. “Ja, ich weiß. Wenn ich einen anständigen Ofen hätte, würde ich dir auf der Stelle ein ganzes Blech voll backen.”

“Backst du gern?”

Alix nickte. Er wusste nichts von ihrem Traum, eine Kochschule zu besuchen. Irgendwann wollte sie Küchenchefin in einem noblen Restaurant sein und ausgefallene Speisen kreieren. Oder vielleicht eines Tages einen eigenen Cateringservice leiten. Viel lieber als im Videoladen würde sie in Annies Café arbeiten, aber die Stelle in der Videothek war ihr zuerst zugesichert worden. So hatte sie dort angefangen. Sie sprach nicht oft über diese Wünsche, aber sie würde Jordan bei nächster Gelegenheit davon erzählen, beschloss sie.

“Hast du Samstagabend schon was vor?”, fragte Jordan und streichelte ganz zart ihre Hand.

“Nicht wirklich.”

“Würdest du gern mit mir essen gehen?”

Annies Café?” Ein Essen dort war preiswert und beinahe so gut wie in einem richtigen Restaurant.

“Nein, diesmal nicht. Was hältst du von einem Drei-Gänge-Menü?”

Das klang nach einem Essen, für das man sich in Schale werfen musste. Doch sie wollte ihm nicht schon wieder absagen. Vielleicht, ja vielleicht würde Jacqueline sich bereit erklären, ihr in der Kleiderfrage noch einmal ein paar Tipps zu geben.

Fragen kostete ja nichts.