42. KAPITEL

Alix Townsend

“Du magst Jordan, stimmt’s?”, fragte Laurel ihre Freundin am Mittwochmorgen. Alix machte sich gerade für die Arbeit fertig. Ob sie Jordan mochte? Das war die Untertreibung des Jahres. “Ja, denke schon.”

“Und? Vertraust du ihm?”

Sie nickte und zuckte die Schultern. “Sicher.” Doch schon war ihr Argwohn geweckt. “Wieso? Kennst du einen Grund, warum ich ihm nicht trauen sollte?”

“Nein.”

“Weshalb fragst du dann?”, wollte sie wissen.

“Ich weiß nicht … ich hoffe einfach, dass du nicht dieselben Fehler machst wie ich. Du hast immer versucht, mir zu sagen, dass John nicht gut für mich ist. Aber ich habe dir nicht zugehört. Und jetzt sieh mich an”, murmelte sie, und die Bitterkeit in ihren Worten war beinahe mit Händen zu greifen.

Wenn sie Laurel anschaute, sah Alix nur eine stark übergewichtige junge Frau mit strähnigen blonden Haaren, die den ganzen Tag vor dem Fernseher saß. Doch solange Laurel ihren Beitrag zur Miete bezahlte, war es Alix egal, wie sie ihre Tage verbrachte. Laurel hatte zwei Jobs geschmissen – die Stelle im Videoladen und die Stelle in der Tagesbetreuung – und arbeitete im Moment als Putzkraft. Sie hatte es gerade mal einen Monat lang in der Tagesbetreuung ausgehalten und dann erklärt, sie würde die Arbeit dort hassen.

“Als du mit Jordan in diesem Restaurant warst … worüber habt ihr beide da gesprochen?”, fragte Laurel.

Sie schien mit einem Mal ein besonderes Interesse für Jordan zu entwickeln. “Keine Ahnung”, erwiderte Alix. “Über dies und das.”

“Über was genau?”

“Warum interessiert dich das?” Alix war erstaunt, dass ihre Mitbewohnerin sich überhaupt mit ihr unterhielt. Auch wenn ihr das Thema des Gesprächs nicht eben behagte.

“Ich wollte nur wissen, worüber man sich mit einem Pfarrer unterhält.”

“Er wird erst noch Pfarrer”, korrigierte Alix sie. “Ich kenne ihn schon, seit wir zusammen in der Grundschule waren. Und er ist nicht anders als alle anderen auch.” Mehr als einmal hatte er bewiesen, dass er ein ganz normaler Mensch war – der sein Leben genauso lebte wie alle anderen. Und der die zarten Gefühlen genoss, die zwischen ihnen entstanden waren. Bis jetzt lief alles noch sehr zurückhaltend ab, doch Alix wusste, dass sie ihn genauso sehr in Versuchung führte wie er sie. Jordan mochte vielleicht für die Kirche tätig sein, aber er war auch nur ein Mann.

“Erzähl mir, worüber ihr geredet habt, ja?”, beharrte Laurel. Sie schien kurz davorzustehen, in Tränen auszubrechen. Alix konnte sich nicht erklären, warum das plötzlich so wichtig für sie war.

“Ich habe ihm erzählt, dass ich eines Tages Chefköchin in einem Restaurant oder in meiner eigenen Cateringfirma sein möchte. Und wir haben darüber geredet, dass ich eine namhafte Kochschule besuchen sollte – obwohl das wahrscheinlich niemals passieren wird.” Das war nur ein kleiner Teil ihrer Unterhaltung. Jordan hatte das Talent, andere Menschen aus der Reserve zu locken und ihnen das Gefühl zu vermitteln, der Mittelpunkt des Universums zu sein.

“Du möchtest Chefköchin werden?”

Alix zuckte die Schultern. Eigentlich hätte diese Information für Laurel nicht allzu überraschend sein dürfen. Immerhin wohnten sie seit Jahren zusammen. Gekocht hatte immer nur Alix. Laurel spezialisierte sich im Laufe der Zeit darauf, möglichst viel Eiscreme, Waffeln und Kartoffelchips in der Küche zu lagern. Doch in diesem Moment fiel Alix auf, dass die beiden sich nie die Zeit genommen hatten, mehr als nur Mitbewohnerinnen zu werden. Bis vor Kurzem hatte Alix ihre Hoffnungen und Träume niemandem anvertraut – auch nicht Laurel. Alix besaß nur wenige wirkliche Freunde, auch wenn sie zu den Frauen in der Strickgruppe eine ganz besondere Verbundenheit empfand.

Seitdem Laurel nicht mehr mit dem Gebrauchtwagenhändler zusammen war, verbrachte sie die meiste Zeit allein. Ihr Selbstmitleid ging Alix schon bald auf die Nerven. In ihren Augen bedeutete diese Trennung keinen großen Verlust, doch Laurel sah das offensichtlich anders.

“Weiß er von deiner Mutter?”, fragte Laurel.

Die Tatsache, dass ihre Mutter im Augenblick eine Strafe in der Frauenhaftanstalt in Purdy verbüßte, war etwas, über das Alix nicht unbedingt gern sprach. “Ich habe es ihm erzählt.” Es gab kaum etwas, das Jordan nicht über sie wusste. Sie wollte nicht, dass es irgendwann zu unschönen Überraschungen kam. Er wusste auch, dass ihre Mutter verurteilt worden war, weil sie versucht hatte, Alix’ Vater zu töten.

“Denkst du manchmal an sie?”

“Nicht oft.” Allmählich fand Alix die Fragen etwas irritierend. Doch weil Laurel in letzter Zeit so schlecht drauf war, wollte sie sie ermutigen, weiterzusprechen.

“Liebst du sie?”

“Meine Mutter?” Über diese Frage musste sie ernsthaft nachdenken. Wenn sie ehrlich war, würde Laurel es vielleicht auch sein. “Ich denke schon. Allerdings habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr, denn immer wenn sie schreibt, will sie nur Zigaretten oder Geld von mir. Nie fragt sie, wie es mir geht, und nie zeigt sie irgendein Interesse an mir. Ich brauche sie nicht.” Sie sagte diese Worte möglichst beiläufig, um deutlich zu machen, dass es ihr nichts ausmachte. “Ich mache mir nur Sorgen, dass ich eines Tages so werden könnte wie sie.”

“Nicht du“, erklärte Laurel voller Überzeugung. “Du bist zu stark dafür, hast eine zu gefestigte Persönlichkeit.”

Alix sah sich nicht so. Aber es gefiel ihr, dass Laurel sie für stark hielt.

“Du lässt es nicht zu, dass dich jemand verletzt oder benutzt, so wie John mich benutzt hat”, flüsterte sie.

“Vergiss ihn”, sagte Alix zum tausendsten Mal. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Laurel an einem Mann hing, der so mies mit ihr umgegangen war. Es ergab einfach keinen Sinn. Darüber hinaus hatte Laurel seit Monaten nichts von John gehört oder gesehen.

Laurel senkte den Blick.

“Du musst mal wieder ausgehen”, sagte Alix.

Ihre Mitbewohnerin seufzte und sah sie unglücklich an. “Ich will nicht, dass mich jemand sieht – ich bin so fett.”

“Dann hör doch auf zu essen.”

“Bei dir klingt das alles so einfach, aber das ist es nicht. Man kann nicht einfach aufhören.”

“Dann unternimm jeden Tag einen Spaziergang. Lauf, anstatt den Bus zu nehmen. Du wirst dich wundern, wie schnell die Pfunde purzeln, wenn du dich ein bisschen bewegst.”

“Als ob du etwas darüber wüsstest, wie man abnimmt. Du bist doch perfekt.”

Alix hatte nicht geahnt, dass ihre Mitbewohnerin so große Stücke auf sie hielt.

“Wirst du Jordan irgendwann einmal heiraten?”

Alix lachte auf. Darüber hatte sie sich nun wirklich noch keine Gedanken gemacht. “Ja, genau.” Sie ergriff auf dem Weg nach draußen ihre Tasche. Den Türgriff schon in der Hand zögerte sie und drehte sich noch einmal um. “Versprich mir, dass du heute mal rausgehst, ja? Es ist nicht gut, immer nur hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen.”

“Okay.”

Alix wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als Laurel sie zurückhielt. “Alix? Danke.”

“Wofür?”

“Dafür, dass du meine Freundin bist”, antwortete sie leise mit bedrückter Stimme.

“Sicher. Kein Problem.”

Es war ungewöhnlich für Laurel, ihr zu danken, schoss es Alix auf ihrem Weg zur Videothek durch den Kopf. Ohne Laurel an ihrer Seite krochen die Tage im Laden so dahin. Alix fühlte sich schuldig, weil sie in letzter Zeit nicht oft mit ihrer Mitbewohnerin gesprochen hatte. Sie selbst hielt sich für keine gute Freundin, was vielleicht aber auch an den Umständen lag. Laurel war so schlecht gelaunt in der letzten Zeit, dass sie ihr lieber aus dem Weg ging. Immer wenn Alix versuchte, sie anzusprechen, wies Laurel sie ab. Der einzige Trost für ihre Mitbewohnerin schien Eiscreme zu sein. In Alix’ Augen war Laurel einfach nur schwach, doch mittlerweile wusste sie, wie einfach es war, vorschnell über einen anderen Menschen zu urteilen. Die Unterhaltung, die sie an diesem Morgen geführt hatten, war die erste seit Wochen. Alix glaubte, sich nun wieder besser in Laurel hineinversetzen zu können. Die Freundin war ihr ganz und gar nicht egal.

In der Mittagspause ging sie zurück in ihr Apartment. Vielleicht konnte sie Laurel dazu überreden, rauszugehen. Und vielleicht würde Laurel sogar ein wenig Sport machen, wenn sie anbot, mitzumachen. Zu ihrer Überraschung war ihre Mitbewohnerin nicht zu Hause.

Alix ging die Blossom Street entlang, in der Hoffnung, vielleicht dort irgendwo auf sie zu treffen. Als sie Laurel schließlich tatsächlich fand, war sie nicht allein.

Jordan war bei ihr.

Die beiden saßen vor der Kirche auf einer Bank im Schatten, hatten die Köpfe zusammengesteckt und schienen ganz vertieft in eine Unterhaltung zu sein.

Alix’ erste Reaktion war Wut, gefolgt von einer Welle der Eifersucht. All die Fragen, die Laurel ihr über Jordan gestellt hatte, dienten offenbar dazu, ihn ihr wegzunehmen. Alix stand kurz davor, einfach zu ihnen zu gehen. Das hatte sie nun davon, Mitgefühl mit Laurel zu haben und ihr helfen zu wollen.

Plötzlich bemerkte sie, wie Laurel in Tränen ausbrach, die Hände vors Gesicht schlug und sich nach vorn beugte. Jordan legte seine Hand auf ihren Rücken. Und obwohl Alix zu weit entfernt war, um zu hören, was sie redeten, schien es, als würden sie miteinander beten.

Das war eine Sache, die sie an Jordan ganz besonders liebte. Es gab nichts, was sie ihm nicht anvertrauen konnte. Er kümmerte sich um die Menschen – sie waren ihm nicht egal. Es war nicht richtig, eifersüchtig zu sein. Und es gab auch keinen Grund, Jordan zu misstrauen. Nicht einmal hatte er sie angelogen oder ihre Freundschaft ausgenutzt oder missbraucht.

Sie hatten über Vertrauen gesprochen, und nach dem Vorfall mit der Tochter des Pfarrers bat er sie, ihm zu vertrauen. Es war ganz leicht, ihm dieses Versprechen zu geben – aber zu der Zeit hielt er auch noch nicht Händchen mit ihrer Mitbewohnerin. Trotzdem wollte sie ihr Versprechen nicht brechen, und so drehte sie sich um und ging zur Arbeit zurück.

Kurz bevor sie Feierabend machen wollte, kam Jordan in den Videoladen. “Wie wäre es mit einem Kaffee, wenn du fertig bist?”, fragte er.

“Sicher.” Eine Welle der Freude erfasste sie.

Er schlug vor, dass sie sich in Annies Café treffen könnten, und sie stimmte zu. Jordan saß bereits mit zwei dampfenden Bechern Kaffee in einer Nische, als sie das Café betrat.

“Wie war dein Tag?”, fragte er.

“Schön. Und deiner?” Sie sah ihn eindringlich an, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nicht eifersüchtig zu sein. Wenn er sich mit Laurel unterhielt, wollte sie wissen, warum.

Jordan antwortete nicht sofort. “Ist irgendetwas los?”

“Nein, sollte es?” Sie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. Doch das war eigentlich nicht fair. Also umschloss sie den heißen Becher mit beiden Händen, starrte in den dampfenden Kaffee und nahm all ihren Mut zusammen. “Ich habe dich und Laurel zusammen gesehen.”

Er machte keine Anstalten, eine Erklärung abzuliefern. “Und das gefällt dir nicht?”

Sie zuckte die Schultern. “Zuerst nicht, aber dann dachte ich … also, es geht mich nichts an. Es ist deine Sache. Schließlich habe ich keine Vorrechte an dir.”

“Du hast nicht ganz recht.”

“Wieso?”

Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Handfläche. “Du hältst mein Herz in deiner Hand.”

“Oh.” Bei jedem anderen jungen Mann hätten diese Worte kitschig geklungen, doch nicht aus seinem Mund. “Erzählst du mir, worüber du mit Laurel gesprochen hast?”

Er zögerte und schüttelte dann den Kopf. “Nein. Wirst du mir trotzdem vertrauen?”

Sie sah ihn eine Weile eindringlich an. Alles in ihr schrie danach, so viel herauszufinden, wie sie konnte. Doch zugleich wollte sie ihm auch einfach nur vertrauen. Schließlich nickte sie und lächelte ihm zu.

Sie hoffte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn von Jordan betrogen zu werden würde mehr wehtun als alle anderen Verletzungen in ihrem ganzen Leben.