34. KAPITEL
“Das Stricken begleitet uns, beruhigt uns.”
(Morgan Hicks, Sweaters by Design)
Lydia Hoffman
Am Ende der Woche hatte ich noch immer keine Nachricht von Dr. Wilson erhalten, machte mir aber eigentlich keine Sorgen. Normalerweise rief Peggy die Patienten in der Mittagspause an, um ihnen ihre Testergebnisse mitzuteilen.
Als ich am Dienstag die Tür zu meinem Laden aufschloss, fiel mir wieder ein, dass ich noch immer nicht die Testergebnisse der Blutuntersuchung kannte. Natürlich war es möglich, dass Peggy am Montag versucht hatte, mich zu erreichen. Da der Laden montags zu war, ließ ich den Anrufbeantworter laufen – also hätte sie mir eine Nachricht hinterlassen können. Ich hatte aber keine neuen Nachrichten.
Also entschloss ich mich, selbst in der Praxis anzurufen, wurde aber von meinem Vorhaben abgehalten – und zwar durch Brad, der vorbeikam, um seine Kaffeepause mit mir zu verbringen.
Mein Herz machte jedes Mal einen Hüpfer, wenn er in den Laden kam. In der vergangenen Woche waren wir zweimal essen gewesen und hatten den Sonntagnachmittag gemeinsam verbracht. Cody war am Wochenende bei seiner Mutter, die geschäftlich sonst viel unterwegs war. So hatten Brad und ich Zeit für uns, und obwohl ich Cody wirklich mochte, genoss ich es, mit Brad allein zu sein. Cody war ein fantastischer kleiner Kerl. Er war so witzig und lebhaft. Als er mitbekam, dass ich strickte, wünschte er sich von mir einen Pullover mit einem Dinosaurier. Ich versprach, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.
“Hallo, mein Hübscher”, sagte ich, als Brad in den Laden kam. Er strahlte mich an.
“Hast du den Kaffee schon fertig?”, fragte er, während ich ihn mit einem Lächeln auf den Lippen anschaute.
“Noch nicht”, erwiderte ich. “Ich bin gerade erst gekommen.”
“Ich setz schon mal welchen auf.” Er ging ins Hinterzimmer, in dem wir uns ab und zu einen privaten Moment gönnen konnten.
Wir beide wussten, dass das Kaffeekochen nur ein Vorwand war, damit wir etwas Zeit für uns hatten. Also folgte ich ihm, um ihm zu helfen. In dem Augenblick, als ich durch den Vorhang kam, schlang Brad seine Arme um mich und zog mich zu sich heran.
“Ich hatte ein wundervolles Wochenende”, flüsterte er und hielt mich umschlungen.
“Ich auch”, erwiderte ich. Wir hatten eine Kanutour auf dem Lake Washington unternommen. Auf halber Strecke hatte Brad eine Gitarre hervorgezaubert und für mich gesungen. Es war unglaublich romantisch und bestimmt das Süßeste, was jemals ein Mann für mich getan hat. “Versprich mir nur eines – sing nie wieder für mich.”
“Mochtest du meine Baritonstimme nicht?” Schmollend schob er die Unterlippe vor.
“Nein”, entgegnete ich. “Das ist es nicht. Ich bewundere deine Stimme, aber ich stehe kurz davor, mich ernsthaft in dich zu verlieben.” Das war nicht das, was ich eigentlich sagen wollte. Aber mein Herz sah das offenbar anders.
“Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das, Lydia.” Er zog mich noch näher an sich heran und küsste mich mit einer solchen Leidenschaft, dass ich fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Das Wochenende hatte uns einander noch näher gebracht. Und ich erkannte, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem wir eine Entscheidung fällen mussten. Bevor ich jedoch dazu bereit war, wollte ich sicher sein, dass wir dieselben Werte und Lebensvorstellungen teilten.
Margaret und meine Mutter redeten mir immer wieder ins Gewissen, wie wichtig es war, eine neue Beziehung ganz langsam anzugehen. Ich wusste, dass die beiden recht hatten, aber andererseits fühlte es sich so gut an, in Brads Armen zu liegen.
“Ich möchte so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen”, sagte er. “Du bist das Erste, woran ich denke, wenn ich morgens aufwache, und mein letzter Gedanke, wenn ich nachts einschlafe.”
Auch er beherrschte meine Gedanken Tag und Nacht – und ehrlich gesagt machte mir das ein bisschen Angst. Schon zweimal hatte es in meinem Leben vielversprechende Beziehungen gegeben. Beim ersten Mal war ich zu jung, um zu verstehen, was ich verlor. Brian und ich trennten uns, nachdem die Krebsdiagnose gestellt worden war.
Mit Roger, der mein Herz brach, war es etwas anderes. Ich wollte sterben, als er mich verließ, und rückblickend hatte ich damit gerechnet, dass es auch passieren würde. Die Zeit heilt alle Wunden, und jetzt, sechs Jahre nachdem das alles passiert ist, kann ich verstehen, warum Roger mich verlassen musste. Er hat mich geliebt. Daran glaube ich. Und weil er mich liebte, konnte er nicht mit ansehen, wie ich langsam starb. Er tat das Einzige, was er tun konnte – er rannte weg.
Ich hörte, dass er vier Monate nach unserer Trennung geheiratet hat.
“Du bist so still”, stellte Brad fest und strich mir zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht.
“Wir müssen uns Zeit lassen”, erwiderte ich. Ich hatte ihm von Brian und Roger sowie so ziemlich allen anderen interessanten Begebenheiten aus meinem Leben erzählt. Er wusste im Groben über mein Gefühlsleben Bescheid, doch die Details erzählte ich ihm an jenem Nachmittag im Kanu. Ich lehnte mich an seine Schulter und blickte über den Lake Washington. Und er hielt mich in seinen Armen. Irgendwie fand ich es einfacher, über meine gescheiterten Beziehungen zu sprechen, wenn ich ihm dabei nicht in die Augen sah.
Dann erzählte mir Brad von seiner Ehe. Er gestand mir, dass er das Gefühl hatte, versagt zu haben. Das konnte ich nicht nachvollziehen, obwohl ich verstand, dass man nach einem Schuldigen sucht. Es ist ein allzu menschlicher Impuls, sich für alles, was in einer Familie oder Beziehung geschieht, verantwortlich zu fühlen. Aber ich habe gelernt, dass man die Gefühle anderer nicht kontrollieren kann …
“Wie sieht’s aus mit einem gemeinsamen Abendessen am Freitag?”, fragte er und küsste mich, bevor ich irgendetwas erwidern konnte.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich seufzte.
“Vergiss die Antwort nicht”, flüsterte er, als ich mich von ihm löste.
Schnell rannte ich zum Telefon und nahm den Hörer ab, bevor der Anrufbeantworter ansprang.
“A Good Yarn.“
Ich hoffte, mir wäre nicht anzumerken, dass ich kurz zuvor noch in den Armen eines wundervollen Mannes gelegen hatte.
“Lydia, hier ist Peggy aus Dr. Wilsons Praxis.”
“Oh, hallo Peggy”, sagte ich und war erleichtert, endlich von ihr zu hören. “Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wohl anrufen würden.”
“Ich wollte bereits am Freitag anrufen.”
“Das ist in Ordnung, ich hatte sowieso den ganzen Tag zu tun.”
Sie zögerte. Vielleicht hätte ich in dem Moment schon etwas ahnen müssen, doch ich dachte an nichts Schlimmes.
“Ich hätte anrufen sollen.”
Erst jetzt bemerkte ich die Zurückhaltung in ihrer Stimme.
“Schlechte Neuigkeiten?” Wenn dem so war, wollte ich keine Sekunde länger warten, keine Sekunde länger im Unklaren sein. Sie hatte mir das Wochenende geschenkt, und ich verstand es, ohne dass sie es in Worte fassen musste.
“Gestern habe ich versucht, Sie zu erreichen”, murmelte sie, “aber dann fiel mir ein, dass Ihr Geschäft montags geschlossen ist. Habe ich recht?”
“Sie haben keine Nachricht hinterlassen”, entgegnete ich. Doch der Grund, warum sie nicht aufs Band gesprochen hatte, war mittlerweile klar: Die Mitteilung, die sie mir machen musste, konnte man nicht auf einem Anrufbeantworter hinterlassen.
“Nein”, sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig.
“Was ist es?”, fragte ich und bereitete mich auf das Schlimmste vor.
“Oh Lydia, es tut mir so leid. Dr. Wilson hat sich Ihre Blutwerte angesehen und eine Reihe von Untersuchungen und Röntgenaufnahmen angeordnet. Er möchte Sie außerdem so schnell wie möglich in seiner Praxis sehen.”
“Gut.” Ohne dass es ausgesprochen worden war, wusste ich, dass der Krebs zurückgekehrt war. Ein Tumor wuchs in meinem Kopf – und dieses Mal würde ihn nichts aufhalten können. Keine Operation, keine Medikamente, nichts. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich Peggy gebeten, mir die ganze schreckliche Wahrheit zu sagen. Aber das konnte ich nicht, solange Brad in Hörweite stand.
“Können Sie morgen früh gegen acht Uhr einen Termin beim Radiologen wahrnehmen?”
“Ja, sicher”, murmelte ich.
“Dr. Wilson möchte, dass Sie die Aufnahmen mitbringen und ihn um neun Uhr in der Praxis treffen.”
“Gut.” Ich fühlte mich wie betäubt. Die Krankheit hatte mir lediglich eine Galgenfrist von sechs Jahren gewährt. Und ich fühlte mich betrogen – ich wollte noch so viel mehr. Ich wollte leben.
Zweimal war mein Vater bei mir gewesen und hatte mir Kraft gegeben, aber nun war ich allein. Mom war nicht fähig, diese Situation mit mir durchzustehen, und Margaret würde wütend werden, wenn sie von dem erneuten Ausbruch der Krankheit hörte. Wahrscheinlich würde meine Schwester einen Weg finden, um mich dafür verantwortlich zu machen, dass der Krebs wieder zurückgekehrt war. Sie würde sagen, dass meine Gier nach Aufmerksamkeit daran die Schuld trug. Ich seufzte leise, als ich an ihre Reaktion dachte.
“Schlechte Neuigkeiten?”, fragte Brad, nachdem ich aufgelegt hatte.
Mir war nicht aufgefallen, dass er hinter mir stand. Der Kaffee war offensichtlich fertig, denn er hielt mir eine Tasse entgegen.
“Nein”, log ich. “Aber unglücklicherweise kann ich am Freitag doch nicht mit dir zu Abend essen.”
“Es ist doch alles in Ordnung, oder?”
“Ja, sicher.” Wie ich es schaffte, wusste ich später nicht mehr – aber ich lächelte ihn mit einem Oscar-verdächtigen Blick an.
Brad ging kurze Zeit später. Wenn er etwas ahnte, so hatte er es sich nicht anmerken lassen. Ich nahm mir vor, noch ein oder zwei Stunden verstreichen zu lassen, um ihn dann anzurufen und die Beziehung zu beenden. Ich wusste, dass es feige war, auf diese Art und Weise Schluss zu machen. Doch ich hatte nicht die Kraft, mit ihm zu diskutieren. Es hatte keinen Sinn, Hoffnung aufrechtzuerhalten, wo es keine gab. Das Leben war der beste Lehrmeister. Ich würde es Brad leicht machen und ihm so eine Menge Ärger ersparen.
Gerade zu dem Zeitpunkt, als ich zu glauben begann, dass ich eine echte Chance im Leben bekam, wurde sie mir entrissen – schon wieder. Ich wusste, was nun folgen würde, hatte es bereits erlebt. Die Bluttests würden zurückgeschickt werden und Fragen offenlassen. Es würden weitere Untersuchungen und noch mehr Tests gemacht, die auch einen Krankenhausaufenthalt erfordern würden.
Danach würde ein missmutig dreinblickender Dr. Wilson mir die Diagnose mitteilen und meine Hand drücken, bevor er das Untersuchungszimmer verließ.
Schon immer hatte ich mich gefragt, was diese kleine Geste zu bedeuten hatte. Zuerst dachte ich, er wollte mir Mut machen, wollte mich ermuntern, mein Bestes zu geben und zu kämpfen. Doch mittlerweile wusste ich es besser. Es war seine Art, mir zu zeigen, wie leid es ihm tat. Er war auch nur ein Mensch und konnte keine Wunder vollbringen.
Sobald es ging, würde ich die Verbindung zu Brad abbrechen. Eines Tages würde er meinen Entschluss verstehen – und wenn er mir auch im Augenblick nicht dankbar sein konnte, würde er es doch später sein.