17. KAPITEL
“Mit ein bisschen Übung und Geduld lernen wir die notwendigen Handgriffe, und dann ist unser Geist frei, um den Akt des Strickens zu genießen.”
(Bev Galeskas, Fiber Trends)
Lydia Hoffman
Das Geschäft begann langsam zu laufen, und ich war sehr zufrieden. Den Großteil meines Bestands an Wolle hatte ich schon verkauft und musste nun bereits nachbestellen. Mein erster Anfängerkurs näherte sich dem Ende. Ich konnte kaum glauben, dass sechs Wochen so schnell vorübergegangen waren. Dass meine Kursteilnehmer nach fünf Wochen darauf drängten, weiterzumachen, war eine besondere Freude für mich. Also willigte ich ein und verlängerte den Kurs.
Erstaunlicherweise wurden diese drei völlig verschiedenen Frauen langsam vertraut miteinander. Ich konnte spüren, dass es so war. Sie freundeten sich untereinander und mit mir an.
Wenn es um ihre Fähigkeiten beim Stricken ging, so war Carol die Geschickteste von allen. Sie hatte inzwischen mit einer neuen Arbeit begonnen – einem Hut aus Filz.
Alix und Jacqueline kämpften derweil immer noch mit einigen grundlegenden Techniken. Aber Alix hatte wohl einfach nicht genug Zeit zum Üben. Und bei Jacqueline bereitete mir ihre gesamte Einstellung Sorgen. Sie mochte ihre Schwiegertochter anscheinend nicht, obwohl sie nie offen darüber sprach. Sie begann langsam, sich nach neuen Herausforderungen umzuschauen, und bevorzugte die hochpreisigen Garne. Alix zahlte für ihre Wolle weiterhin wöchentlich, was in ihrem Falle deutlich machte, dass es sich für sie um ein besonders kostspieliges Hobby handelte. Trotzdem blieb sie dabei. Und ich war froh darüber, denn ohne sie hätte die Gruppe einen ganz anderen Charakter gehabt.
Als ich am Dienstagabend gerade das Geschäft schließen wollte, sah ich, wie meine Schwester die Straße entlang auf den Laden zukam. Sie war erst ein einziges Mal hier gewesen – am Eröffnungstag. Und sie schien es damals genossen zu haben, mir meinen finanziellen Untergang vorherzusagen. Doch ich würde es nicht zulassen, dass sie mich runterzog. Innerlich bereitete ich mich auf eine Auseinandersetzung vor.
Als Margaret den Laden betrat, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Offensichtlich war sie nicht gekommen, um Unheil zu verkünden oder mir Vorwürfe zu machen. Ihr Gesicht war seltsam blass. Sie sah aus, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.
“Margaret, was ist los?”, fragte ich und eilte zu ihr.
“Ich … ich …”, sie rang nach Worten, ergriff meine Hand und drückte sie so fest, dass ich beinahe aufgeschrien hätte.
“Komm”, sagte ich behutsam und führte sie in den hinteren Teil des Geschäfts. Dort standen die Tische und Stühle für meinen Kurs. “Setz dich hin. Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?”
Sie schüttelte den Kopf. Nie zuvor hatte ich meine Schwester so aufgelöst erlebt. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie so aus der Fassung brachte oder warum sie ausgerechnet zu mir kam.
“Dr. Abrams Praxis rief an”, begann sie und sah mich an, als ob mir diese Worte die ganze Tragweite des Problems offenbaren müssten. Ich wusste nicht, wer Dr. Abram sein sollte. Ich fragte mich, ob Matt krank war oder einen Unfall gehabt hatte. Mit einem Mal schoss mir eine andere Möglichkeit durch den Kopf.
“Ist etwas mit Mutter?”, fragte ich atemlos. Die Vorstellung, dass Mom, so schnell nach Dads Tod, etwas zugestoßen sein könnte, erfüllte mich mit Angst.
“Nein”, erwiderte sie. “Diesmal bin ich es. Dr. Abram sagte mir, dass meine Mammografie wiederholt werden muss.” Sie nahm abermals meine Hand. “Es sieht so aus, als hätte ich einen Knoten in der Brust.” Mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen starrte meine Schwester mich an.
Ich war erschüttert, das zu hören, und ließ mich neben sie auf einen Stuhl sinken. Der Druck auf meine Hand erhöhte sich, als sie merkte, dass ich ihre Gefühle verstand.
“Ich habe solche Angst”, flüsterte sie.
“Aber das heißt doch nicht, dass du Krebs hast.” Ich bemühte mich, ermutigend zu klingen, doch das war nicht einfach. Margaret dachte dasselbe wie ich. Ich kannte den Krebs nur zu gut. Mom und Dad hatten immer die Befürchtung, sie hätten uns vielleicht einen genetischen Defekt vererbt, der uns anfällig für diese furchtbare Krankheit machte. Zwei unserer Großeltern waren daran gestorben. Als der Krebs zum ersten Mal bei mir festgestellt wurde, bestand meine Mutter darauf, auch Margaret komplett durchchecken zu lassen. Damals schien alles in Ordnung zu sein, aber jetzt …
“Für wann ist die zweite Mammografie angesetzt?”
“Ich war gerade da … die Ärztin, die die Untersuchung geleitet hat, wollte mir nichts sagen. Sie sagte, Dr. Abram würde die Ergebnisse mit mir besprechen. Er wird es mir persönlich mitteilen.”
“Oh Margaret, es tut mir so leid. Wie kann ich dir nur helfen?”
“Ich weiß nicht. Ich habe es noch niemandem erzählt.”
“Matt?”
Sie seufzte. “Ich wollte ihm keinen Schrecken einjagen.”
“Aber er ist doch dein Ehemann. Er hat das Recht, es zu erfahren.”
“Ich sage ihm Bescheid, wenn ich etwas zu berichten habe.”
Ihre Stimme hatte einen kühlen Klang angenommen. Ich wusste, dass es besser war, nicht mit ihr zu streiten.
Meine Schwester packt die Dinge auf ihre ganz eigene Art an, und zwar dann, wenn sie es für richtig hält. Sie unter Druck zu setzen führt zu nichts.
“Wie hast du dich damals gefühlt? Als du wusstest, dass du Krebs hast?”, fragte sie.
Es fiel mir nicht leicht, die passenden Worte zu finden. Während der ersten Erkrankung war ich gerade mal sechzehn. Damals wusste ich nicht, was ich heute weiß. Der Tag, an dem man mir sagte, dass der Tumor wieder zurückgekommen sei, war jedoch der schlimmste Tag in meinem Leben. Ich wusste ja schon, was auf mich zukam – und ein Teil von mir wünschte, ich wäre tot. Einfach, um mir diese Tortur zu ersparen.
Ich ahnte, was diese Wahrheit für meine Schwester bedeuten würde, und es fiel mir schwer, meine Fassung zu bewahren. “Ich hatte auch Angst”, sagte ich nur.
Margaret verstärkte den Druck auf meine Hand.
“Wie lange trägst du das schon mit dir rum?”, fragte ich und strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
“Fünf Tage”, flüsterte sie. Plötzlich sah sie mich eindringlich an und fügte hinzu: “Ich möchte, dass du mir jetzt etwas versprichst.”
“Natürlich”, versicherte ich. Sie hatte mich nie zuvor um irgendetwas gebeten, und ich wollte ihren Wunsch auf jeden Fall erfüllen.
“Sag Mom nichts.”
Ich hasste es, Geheimnisse vor unserer Mutter zu haben. Doch in diesem Fall stimmte ich meiner Schwester zu. Es war sinnlos, Mom in Panik zu versetzen, wenn wir noch keine Ergebnisse hatten.
“Danke”, flüsterte sie und wirkte erleichtert.
“Gern, Margaret.”
Sie sah mich an. “Würdest du …” Sie zögerte. “Ich weiß, ich sollte nicht fragen. Aber würdest du mit mir zum Arzt gehen?”
“Ja, sicher.” Ich hatte es selbst schon anbieten wollen.
Sie wirkte überrascht. “Das würdest du tun?”
Ich nickte.
“Du müsstest dein Geschäft schließen.”
“Ich lasse dich nicht allein.”
Tränen schimmerten in ihren Augen, und ich griff nach einem Taschentuch. Immer schon hatte ich bedauert, dass wir uns nicht nahestanden, und jetzt endlich schloss ich sie fest in die Arme.
“Ich bin bei dir, Margaret.”
“Danke.” Sie legte ihren Kopf an meine Schulter und weinte. Eine Weile später hatte sie ihre Fassung zurückerlangt, schnäuzte sich und atmete tief durch. “Ich werde versuchen, den Termin auf einen Montag zu legen – aber wenn es nicht klappt …”
“Es spielt keine Rolle, an welchem Tag oder zu welcher Zeit der Termin ist”, erklärte ich. Ich würde meiner Schwester auf jeden Fall durch diese schwere Zeit helfen.
Margaret wollte etwas erwidern, als das Glöckchen über der Tür ertönte. Diese Störung kam mir gar nicht recht. Doch ich war schließlich im Dienst, und mein Job war es, meine Kunden zu bedienen. Auch wenn es bereits Viertel nach fünf war.
An dem fröhlichen Pfeifen erkannte ich, dass Brad Goetz, mein UPS-Bote, den Laden betreten hatte. Auf einer Karre brachte er drei große Kartons, die er neben der Kasse abstellte. “Wie geht’s?”, fragte er, als er mir das Clipboard zum Unterschreiben reichte, und lehnte sich lässig an den Tresen.
“Wirklich gut”, erwiderte ich und beeilte mich zu unterzeichnen, damit ich ihn schnell wieder loswurde.
“Jedes Mal, wenn ich an Ihrem Geschäft vorbeikomme, sehe ich Frauen. Vor allem freitagnachmittags.”
“Ich gebe freitags Kurse.”
“Das erklärt einiges.” Er schien meine Versuche, ihn zur Tür zu bugsieren, gar nicht wahrzunehmen. “Sie sind bestimmt kaputt am Ende eines solchen Tages.”
“Ja, manchmal.”
Er grinste, denn offenbar lief die Unterhaltung nach seinem Plan. “Warum entspannen Sie sich dann nicht ein wenig und gehen mit mir etwas trinken?”
Das war seine zweite Einladung. Und zu allem Überfluss musste er mich in Gegenwart meiner Schwester fragen.
“Du solltest gehen”, ertönte ihre Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens.
“Ja”, bestätigte Brad, der offenbar dankbar für die Unterstützung war. “Wir können ja hier in der Nähe bleiben. Es gibt nur zwei Blocks von hier entfernt eine nette Bar. Keine Verpflichtungen, nur ein paar Minuten Entspannung.”
“Ich danke Ihnen für das Angebot, aber ich denke, ich sollte nicht gehen.” Ich trat zur Tür und öffnete sie. Er schien es immer noch nicht zu begreifen.
Brad hob frustriert die Arme und blickte in Margarets Richtung. “Habe ich vielleicht was Falsches gesagt?”
“Nein … nein”, warf ich ein. Ich wollte nicht, dass er das glaubte.
“Was ist es dann?”
“Es liegt nicht an Ihnen”, antwortete Margaret. “Es liegt an meiner Schwester. Sie hat Angst.”
Ich wollte ihr zurufen, doch bitte den Mund zu halten, aber ich konnte es nicht. Gern hätte ich ihm die Wahrheit von mir aus und zu einem anderen Zeitpunkt gesagt, doch diese Möglichkeit war mir dank Margaret nun genommen. Ihn wieder und wieder abzuweisen, war grausam. Ich schuldete ihm die Wahrheit.
“Ich hatte Krebs”, sagte ich ganz offen. “Nicht nur einmal, sondern zweimal. Und für die Zukunft habe ich keine Garantie, dass der Tumor nicht wieder zurückkehrt – und beim nächsten Mal habe ich wahrscheinlich nicht mehr so viel Glück.”
“Krebs?”, wiederholte er, und an seiner ungläubigen, ja geschockten Miene konnte ich erkennen, dass dies das Letzte war, das er von mir zu hören erwartet hatte.
“Die große, hässliche, böse Variante”, sagte ich und konnte meinen Sarkasmus nicht unterdrücken. “Sie sollten nicht zu viel Gefühl in mich investieren, denn es könnte sich nicht auszahlen. Das ist das Problem bei Krebs.”
“Ich … ich hatte keine Ahnung.”
“Natürlich nicht. Wie denn auch? Aber vielen Dank für das Angebot”, sagte ich und meinte es auch so. “Tatsache ist, dass ich wirklich geschmeichelt bin. Doch ich erspare uns beiden so eine Menge Kummer, also akzeptieren Sie meine Antwort und finden Sie sich damit ab.” Ich drehte mich um und ging in den hinteren Teil des Ladens, wo ich neben meiner Schwester auf einen Stuhl sank.
Margaret sah mich an.
Ich hörte, wie die Tür hinter Brad ins Schloss fiel, als er den Laden verlassen hatte. “Warum hast du das getan?”, fragte meine Schwester.
“Was getan?”
“Na, ihn abgewiesen! Wäre es so furchtbar gewesen, mit dem Kerl ein Bier trinken zu gehen?”
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Die Wahrheit war, dass ich schon so lange keine Verabredung mit einem Mann mehr gehabt hatte, dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte.
“Er ist süß. Und er interessiert sich für dich.”
“Ich weiß”, flüsterte ich.
“Ich dachte, dass du dein Leben jetzt endlich selbst in die Hand nehmen wolltest – mit einer eigenen Wohnung und einem eigenen Geschäft.”
Ich nickte. “Das will ich …” Sie ließ mich nicht zu Ende reden.
“Dann lebe. Stürze dich ins Leben, Lydia. Du solltest deinen Glückssternen danken, dass ein so toller Mann dich bittet, mit ihm auszugehen. Meine Güte, was ist nur mit dir los?”
“Ich … ich …” Ich war so verdutzt, dass ich keinen vernünftigen Satz rausbringen konnte.
“Lebe, Lydia”, wiederholte sie. “Geh da raus, und sieh dir an, was das Leben so lebenswert macht. Und tu es, bevor du verschrumpelst – oder stirbst.”