LOSE ENDEN
Eine schmuddelige weiße Kammer mit zwei gegenüberliegenden Türen, eng wie eine Schachtel. Die Decke war bedrückend niedrig, und der Raum wurde durch gleißende Lampen zu hell erleuchtet. Feuchtigkeit kroch aus einer Ecke, und der Putz warf flockige Blasen, die von schwarzen Schimmelpunkten übersät waren. Jemand hatte versucht, einen länglichen Blutfleck von der Wand zu schrubben, hatte sich aber offenbar nicht allzu viel Mühe gegeben.
Zwei riesige Praktikale standen mit verschränkten Armen an der Wand. Einer der Stühle an dem abgewetzten Tisch war leer. Auf dem anderen saß Carlot dan Eider. Die Geschichte wiederholt sich, heißt es. Wie sich die Dinge doch geändert haben. Und dennoch sind sie auf gewisse Weise gleich geblieben. Ihr Gesicht war weiß vor Sorge, dunkle Ringe um ihre Augen sprachen von Schlaflosigkeit, aber dennoch war sie wunderschön. Sogar noch schöner denn je. Die Schönheit einer Kerzenflamme, die beinahe verloschen ist. Schon wieder.
Glokta konnte ihren furchtsamen Atem hören, als er auf dem freien Stuhl Platz nahm, den Stock gegen die vernarbte Tischplatte lehnte und sie stirnrunzelnd ansah. »Ich frage mich immer noch, ob ich in den nächsten Tagen wohl den Brief erhalten werde, von dem Sie damals sprachen. Sie wissen schon. Der, den Sie für Sult geschrieben haben. In dem die Geschichte meiner nachlässigen kleinen Gnade Ihnen gegenüber geschildert wird. Der, von dem es hieß, dass er ... im Falle Ihres Todes ... garantiert an den Erzlektor geschickt würde. Ob er nun wohl seinen Weg auf meinen Tisch finden wird, was meinen Sie? Eine letzte ironische Wendung der Ereignisse.«
Eine Pause folgte. »Mir ist klar geworden, dass ich einen schweren Fehler gemacht habe, indem ich hierher zurückkehrte.« Und ein noch schlimmerer Fehler war, dass Sie nicht schnell genug wieder abgereist sind. »Ich hoffe, Sie werden meine Entschuldigung annehmen. Ich wollte Sie nur vor den Gurkhisen warnen. Falls Sie in Ihrem Herzen doch noch ein wenig Gnade finden können ...«
»Haben Sie damals erwartet, dass ich gnädig sein würde?«
»Nein«, flüsterte sie.
»Wie stehen dann die Aussichten, dass ich denselben Fehler zweimal mache, was glauben Sie? Kommen Sie nie wieder zurück, habe ich gesagt. Niemals.« Er winkte einem der riesigen Praktikalen, der vortrat und den Deckel des Kästchens öffnete.
»Nein ... nein.« Ihre Augen glitten über seine Instrumente. »Sie haben gewonnen. Natürlich haben Sie gewonnen. Ich hätte schon das erste Mal dankbar sein sollen. Bitte.« Sie beugte sich vor und sah ihm in die Augen. Dann wurde ihre Stimme dunkler und rauchig. »Bitte. Es muss doch etwas geben ... ich muss doch etwas tun können ... um meine Dummheit wiedergutzumachen ...«
Eine interessante Mischung aus vorgespiegeltem Begehren und echtem Abscheu. Falsche Sehnsucht und ehrlicher Ekel.
Und das alles wird noch grässlicher durch die Anspannung wachsenden Entsetzens. Da frage ich mich, wieso ich überhaupt das erste Mal so gnädig war.
Glokta schnaubte. »Muss das hier jetzt nicht nur schmerzhaft, sondern auch noch peinlich werden?«
Die Verführungsbemühungen verblassten sofort. Aber die Furcht verschwindet nicht, wie ich sehe. Sie wurde nun von wachsender Verzweiflung begleitet. »Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe ... ich wollte nur helfen ... bitte, ich wollte Ihnen keinen ernsthaften Schaden zufügen ... ich habe Ihnen auch nichts angetan, das wissen Sie!« Er griff langsam nach dem Kistchen und sah ihre entsetzten Augen seiner weiß behandschuhten Hand folgen, während ihre Stimme sich nun zu schriller Panik steigerte. »Sagen Sie mir doch, was ich tun kann! Bitte! Ich kann Ihnen helfen! Ich werde nützlich sein! Sagen Sie mir, was ich tun kann!«
Gloktas Hand hielt in ihrer gnadenlosen Reise über den Tisch inne. Er tippte mit einem Finger gegen das Holz. Mit jenem Finger, an dem der Ring des Erzlektors im Lampenschein funkelte. »Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit.«
»Egal, worum es sich handelt«, gurgelte sie, und ihre tränenfeuchten Augen schimmerten. »Egal was, Sie brauchen es nur zu sagen.«
»Sie haben Kontakte in Talins?«
Sie schluckte. »In Talins? Na ... natürlich.«
»Gut. Ich und einige meiner Kollegen im Geschlossenen Rat sind ein wenig besorgt, was die Rolle betrifft, die Großherzog Orso in der Politik der Union zu spielen gedenkt. Unsere Meinung – eine sehr deutliche Meinung – ist, dass er lieber dabei bleiben sollte, die Styrer zu drangsalieren und seine Nase aus unseren Angelegenheiten herauszuhalten.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause.
»Wie kann ich ...«
»Sie werden nach Talins reisen. Sie werden in dieser Stadt meine Augen sein. Eine Verräterin, die floh, weil sie um ihr Leben fürchtete, ohne Freunde und sehr einsam, und die einen Ort sucht, wo sie ein neues Leben anfangen kann. Eine schöne, aber bemitleidenswerte Verräterin, die unbedingt einen starken Arm braucht, der sie beschützt. Sie verstehen schon.«
»Ich denke ... ich denke, das könnte ich tun.«
Glokta schnaubte. »Das wäre auch besser für Sie.« »Ich werde Geld brauchen ...«
»Ihr Vermögen wurde von der Inquisition beschlagnahmt.«
»Alles?«
»Ihnen wird sicherlich aufgefallen sein, dass hier einiges an Wiederaufbau geleistet werden muss. Der König braucht jede Mark, derer er habhaft werden kann, und geständige Verräter können nicht erwarten, ihren Besitz in solchen Zeiten zu behalten. Ich habe eine Überfahrt für Sie arrangiert. Wenn Sie in Talins ankommen, melden Sie sich beim Bankhaus Valint und Balk. Dort wird man Ihnen ein Darlehen gewähren, um Ihnen den Neuanfang zu erleichtern.«
»Valint und Balk?« Eider sah sogar noch ängstlicher aus als zuvor, falls das möglich war. »Bei jedem anderen hätte ich lieber Schulden als gerade bei denen.«
»Ich kenne das Gefühl. Aber entweder so oder gar nicht.«
»Wie werde ich ...«
»Eine Frau von Ihrer Findigkeit? Ich bin sicher, dass Sie eine Möglichkeit entdecken werden.« Er verzog gequält das Gesicht, als er sich aus seinem Stuhl herausarbeitete. »Ich möchte von Ihren Briefen überschwemmt werden. Darüber, was in der Stadt passiert. Was Orso vorhat. Mit wem er Krieg führt, mit wem er Frieden schließt. Wer seine Verbündeten und wer seine Feinde sind. Ihr Schiff läuft mit der nächsten Flut aus.« In der Tür sah er sich noch einmal kurz um. »Ich werde Ihnen bei der Abreise zusehen.«
Sie nickte stumm und wischte sich Tränen der Erleichterung mit dem zitternden Handrücken ab. Erst wird es uns angetan, dann fügen wir es anderen zu, dann befehlen wir, dass es getan wird. So ist nun mal der Lauf der Dinge.
»Sind Sie so früh am Morgen immer schon betrunken?«
»Euer Eminenz, Sie verletzen mich.« Nicomo Cosca grinste. »Normalerweise bin ich um diese Zeit schon ein paar Stunden blau.«
Tja. Wir alle entwickeln unsere eigenen Strategien, um die Tage zu überstehen. »Ich sollte Ihnen für Ihre Hilfe danken.«
Der Styrer winkte weit ausholend ab. An jedem Finger seiner Hand funkelten schwere Ringe, wie Glokta dabei feststellte. »Zur Hölle mit Ihrem Dank. Ich will Ihr Geld.«
»Von dem jede Mark bestens angelegt war. Ich hoffe, Sie bleiben in der Stadt und genießen die Gastfreundschaft der Union noch ein wenig länger.«
»Wissen Sie was? Ich denke, das werde ich auch.« Der Söldner kratzte sich gedankenverloren an dem Ausschlag an seinem Hals und hinterließ dabei rote Nagelspuren auf der schuppigen Haut. »Jedenfalls so lange, bis das Geld verbraucht ist.«
»Wie schnell können Sie wohl ein solches Vermögen ausgeben, wie ich es Ihnen gezahlt habe?«
»Oh, Sie wären überrascht. In meinem Leben habe ich schon zehn solcher Vermögen und noch viel mehr durchgebracht. Ich freue mich sehr darauf, wieder eins zu verschwenden.« Cosca klatschte sich mit den Händen auf die Schenkel, erhob sich, ging ein wenig schwankend zur Tür und wandte sich noch einmal mit großer Geste um. »Melden Sie sich unbedingt bei mir, wenn Sie das nächste Mal eine Verteidigung in aussichtsloser Lage organisieren müssen.«
»Mein erster Brief wird an Sie gerichtet sein.«
»Dann sage ich Ihnen ... Lebewohl!« Cosca zog seinen wagenradgroßen Hut und verneigte sich tief. Mit einem wissenden Grinsen trat er durch die Tür und war verschwunden.
Glokta hatte das Dienstzimmer des Erzlektors in einen großen Raum im Erdgeschoss des Hauses der Befragungen verlegt. Näher am eigentlichen Geschäft der Inquisition – den Gefangenen. Näher an den Fragen und an den Antworten. Näher an der Wahrheit. Und dann natürlich noch der größte Trumpf: keine Treppen.
Vor den großen Fenstern erstreckte sich ein gepflegter Garten. Hinter dem Glas plätscherte gedämpft ein Springbrunnen. Aber der Raum an sich zeigte keine der üblichen hässlichen Ausschmückungen der Macht. Die Wände waren verputzt und schlicht weiß gestrichen. Die Möbel waren hart und funktional. Der Wetzstein der Unbequemlichkeit hat mich so lange scharf gehalten. Es gibt keinen Grund, die Klinge stumpf werden zu lassen, nur weil mir gerade die Feinde ausgegangen sind. Neue Feinde werden sich schon über kurz oder lang aufdrängen.
An den Wänden standen schwere Bücherschränke aus dunklem Holz und mehrere mit Leder bezogene Schreibtische, auf denen sich bereits die Dokumente stapelten, die seiner Aufmerksamkeit bedurften. Abgesehen von dem großen runden Tisch mit der Landkarte der Union und den blutigen Nagelspuren gab es nur noch ein weiteres Stück aus Sults Dienstzimmer, das Glokta sich hatte nach unten bringen lassen. Das dunkle Gemälde des alten kahlen Zoller starrte düster von seinem Platz über dem schlichten Kamin herab. Und erinnert doch frappierend an einen gewissen Magus, den ich einmal kannte. Es wäre gut, darauf zu achten, dass wir nicht den richtigen Blickwinkel verlieren. Jeder Mann muss sich vor jemand anderem verantworten.
Ein Klopfen kam von der Tür, und Gloktas Sekretär steckte den Kopf durch den Spalt. »Die Lord Marschälle sind hier, Herr Erzlektor.«
»Bitten Sie sie herein.«
Wenn alte Freunde einander treffen, dann sind die Dinge manchmal sofort wieder so, wie sie es vor all den Jahren waren. Die Freundschaft wird fortgeführt, unberührt, als habe es keine Unterbrechung gegeben. Manchmal wohl, hier aber nicht. Collem West war kaum noch wiederzuerkennen. Sein Haar war ihm büschelweise ausgefallen und hatte hässliche kahle Stellen hinterlassen. Sein Gesicht wirkte eingesunken und hatte eine gelbliche Färbung angenommen. Die Uniform hing ihm schlaff von den knochigen Schultern und war am Kragen fleckig. Er schlurfte ins Zimmer, vornübergebeugt wie ein alter Mann, und stützte sich schwer auf einen Stock. Tatsächlich sah er aus wie ein wandelnder Leichnam.
Glokta hatte nach dem, was Ardee ihm erzählt hatte, natürlich etwas Ähnliches erwartet. Doch der heftige Schock aus Enttäuschung und Entsetzen, den er bei seinem Anblick empfand, traf ihn dennoch überraschend hart. Als kehrte man an den Ort zurück, an dem man seine glückliche Jugend verbracht hat, und fände alles zerstört vor. Tode ... Sie ereignen sich jeden Tag. Wie viele Leben habe ich mit meinen eigenen Händen zerstört? Wieso ist dieser eine so schwer hinzunehmen? Doch so war es. Er merkte, dass er vom Stuhl aufsprang und West unter Schmerzen entgegenhumpelte, als wolle er ihn stützen.
»Euer Eminenz.« Wests Stimme war so dünn und kantig wie zerbrochenes Glas. Er unternahm einen schwachen Versuch zu lächeln. »Oder wahrscheinlich ... sollte ich Sie jetzt Bruder nennen.«
»West ... Collem ... Schön, Sie zu sehen.« Schön und gleichzeitig auch schrecklich.
Eine Gruppe von Offizieren folgte West. An den wunderbar tüchtigen Leutnant Jalenhorm – allerdings ist er heute natürlich Major – erinnere ich mich noch. Ebenso wie an Brint, der aufgrund der schnellen Beförderung seines Freundes zum Hauptmann aufgestiegen ist. Marschall Kroy haben wir im Geschlossenen Rat bereits kennen und lieben gelernt. Herzlichen Glückwunsch Ihnen allen zu Ihrem beruflichen Fortkommen. Ein weiterer Mann war mit ihnen gekommen und hielt sich im Hintergrund. Ein hagerer Mann mit schrecklich verbranntem Gesicht. Aber gerade wir sollten niemanden einer entstellenden Verletzung wegen ablehnen. Jeder der Anwesenden sah mit nervöser Besorgnis zu West, wie um rechtzeitig vorspringen zu können, sollte er zu Boden sinken. Stattdessen schlurfte er jedoch zum runden Tisch und ließ sich zitternd auf den nächstbesten Stuhl sinken.
»Ich hätte zu Ihnen kommen sollen«, sagte Glokta. Ich hätte schon viel früher zu Ihnen kommen sollen.
West bemühte sich erneut zu lächeln, und dieser Versuch wirkte noch abstoßender als der letzte. Ihm fehlten mehrere Zähne. »Unsinn. Ich weiß, wie viel Sie gerade jetzt zu tun haben. Und ich fühle mich heute schon viel besser.«
»Gut, gut. Das ist ... gut. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen lassen?« Was würde denn überhaupt helfen? »Irgendetwas?«
West schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Diese Herren kennen Sie natürlich alle. Abgesehen von Korporal Pike.« Der Verbrannte nickte ihm zu.
»Es ist mir ein Vergnügen.« Das ist es immer, wenn ich einmal jemanden treffe, der noch verstümmelter ist als ich.
»Ich habe ... frohe Nachrichten gehört, von meiner Schwester.«
Glokta verzog gequält das Gesicht und bekam es beinahe nicht fertig, seinem alten Freund in die Augen zu sehen. »Ich hätte selbstverständlich um Ihre Erlaubnis nachsuchen sollen. Das hätte ich sicherlich getan, wenn dazu genügend Zeit gewesen wäre.«
»Ich verstehe das durchaus.« Wests helle Augen ruhten auf seinen. »Sie hat mir alles erklärt. Es ist für mich eine gewisse Beruhigung, dass sie gut versorgt ist.«
»Darauf können Sie sich verlassen. Dafür werde ich sorgen. Man wird ihr nie wieder wehtun.«
Wests ausgemergeltes Gesicht zuckte leicht. »Gut. Gut.« Er rieb sich sanft die Wange. Seine Fingernägel waren schwarz, die Ränder voller getrocknetem Blut, als ob sie sich vom Fleisch darunter ablösten. »Es ist stets ein Preis für alles zu zahlen, nicht wahr, Sand? Für alles, was wir tun.«
Glokta fühlte, wie sein Auge zuckte. »So sieht es aus.« »Ich habe einige Zähne verloren.«
»Das sehe ich, und ich weiß, wie das ist. Suppe, habe ich festgestellt ...« ... finde ich ausgesprochen ekelhaft.
»Ich kann ... kaum noch laufen.«
»Auch das kann ich nachempfinden. Ihr Stock wird schließlich Ihr bester Freund sein.« Und auch mir wird außer meinem Stock bald niemand mehr geblieben sein.
»Ich bin ein erbärmlicher Schatten meiner selbst.«
»Ich fühle Ihren Schmerz.« Das ist wahr. Sogar beinahe stärker als meinen eigenen.
West schüttelte langsam den eingesunkenen Kopf. »Wie halten Sie das nur aus?«
»Immer einen Schritt nach dem anderen, alter Freund. Halten Sie sich von Treppen fern, wenn möglich, und meiden Sie Spiegel.«
»Ein kluger Rat.« West hustete. Es war ein hallender, hässlicher Husten, der von unterhalb seiner Rippen zu kommen schien. Er schluckte geräuschvoll. »Ich glaube, meine Tage sind gezählt.«
»Sicher nicht!« Glokta streckte kurz die Hand aus, als wolle er sie auf Wests verwitterte Schulter legen, als wolle er ihm Trost spenden. Ungelenk riss er sie wieder zurück. Sie ist für diese Aufgabe nicht geschaffen.
West leckte sich über das leere Zahnfleisch. »So treten wohl die meisten von uns ab, wie? Kein letzter Angriff. Kein Augenblick des Ruhms. Wir fallen einfach ... auseinander.«
Glokta hätte gern etwas Aufmunterndes gesagt. Aber solcher Blödsinn kommt aus anderen Mündern, nicht aus meinem. Aus jüngeren, hübscheren Mündern, die vermutlich noch all ihre Zähne haben. »Jene, die auf dem Schlachtfeld sterben, sind in gewisser Hinsicht die Glücklichen. Auf ewig jung. Auf ewig ruhmreich.«
West nickte langsam. »Dann ein Hoch auf die wenigen Glücklichen, die ...« Seine Augen verdrehten sich, er schwankte und fiel dann zur Seite. Jalenhorm war der Erste, der nach vorn sprang, und er hielt den Lord Marschall fest, bevor er zu Boden stürzen konnte. West zuckte in den Armen des massigen Mannes, und Erbrochenes spritzte in dünnem Strahl auf die Fliesen.
»Zurück zum Palast!«, bellte Kroy. »Sofort!«
Brint beeilte sich, die Türen aufzustoßen, während Jalenhorm und Kroy ihre Schultern unter Wests Achseln geschoben hatten und ihn aus dem Zimmer führten. Seine Stiefel scharrten schlaff über den Boden, und sein scheckiger Kopf hing zu einer Seite. Glokta sah ihnen hilflos nach, und der zahnlose Mund stand ihm halb offen, als wolle er etwas sagen. Als wolle er seinem Freund Glück wünschen oder Gesundheit oder einen schönen Nachmittag. Allerdings erscheint unter den Umständen nichts davon wirklich passend.
Die Tür fiel klappend ins Schloss, und Glokta blieb zurück und starrte sie an. Sein Augenlid flatterte, und er fühlte, dass seine Wange feucht war. Keine Tränen des Mitleids natürlich. Keine Tränen der Trauer. Ich fühle nichts, fürchte nichts, bekümmere mich um nichts. Jenen Teil, der weinen konnte, hat man mir im Gefängnis des Imperators weggeschnitten. Dies kann jetzt nur noch Salzwasser sein, mehr nicht. Ein kaputter Reflex in einem zerstörten Gesicht. Leb wohl, Bruder. Leb wohl, mein alter Freund. Und auch ein Lebwohl an den Geist von Sand dan Glokta. Nichts bleibt von ihm übrig. Und das ist natürlich auch gut so. Ein Mann in meiner Position kann sich keine Schwächen leisten.
Er holte hart Luft und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann humpelte er zu seinem Schreibtisch, setzte sich und sammelte sich kurz, wobei ihn ein plötzliches Zucken seines zehenlosen Fußes unterstützte. Schließlich wandte er die Aufmerksamkeit den Dokumenten zu. Geständnisse, unerledigte Aufgaben, die ermüdenden Regierungsgeschäfte ...
Er sah auf. Aus den Schatten hinter einem der hohen Bücherregale hatte sich eine Gestalt gelöst und trat nun vor, die Hände vor der Brust verschränkt. Der Mann mit dem verbrannten Gesicht, der mit den Offizieren hereingekommen war. In der Aufregung über ihren Abgang war er offenbar zurückgeblieben.
»Korporal Pike, nicht wahr?«, fragte Glokta mit gerunzelter Stirn.
»Das ist der Name, den ich angenommen habe.« »Angenommen.«
Das vernarbte Gesicht verzog sich zu einer Parodie eines Lächelns. Tatsächlich noch hässlicher als mein eigenes, falls das möglich ist. »Es überrascht mich nicht, dass Sie mich nicht erkennen. Gleich in meiner ersten Woche gab es einen Unfall in der Schmiede. Unfälle gibt es oft in Angland.« Angland? Diese Stimme ... irgendwas an dieser Stimme ... »Klingelt immer noch nichts? Vielleicht, wenn ich ein wenig näher komme?«
Ohne Warnung sprang er quer durchs Zimmer. Glokta kämpfte sich immer noch aus seinem Stuhl, als der Korporal bereits über den Schreibtisch hechtete. In einer Wolke aufwirbelnden Papiers fielen sie gemeinsam zu Boden. Glokta kam unter seinem Angreifer zu liegen und prallte mit dem Kopf gegen die Fliesen, während ihm der Atem in einem langen, gequälten Keuchen aus der Brust gepresst wurde.
Er fühlte Stahl über seinen Hals fahren. Pikes Gesicht war nur noch wenige Zoll von seinem entfernt, und die verschmolzene Masse von Verbrennungen stand ihm in überaus ekelerregenden Einzelheiten direkt vor Augen.
»Und was ist nun?«, zischte Pike. »Kommt Ihnen irgendwas bekannt vor?«
Glokta fühlte sein linkes Auge zucken, als die Erinnerung ihn überkam wie eine Welle eiskalten Wassers. Verändert, natürlich. Völlig und durch und durch verändert. Und dennoch erkenne ich ihn.
»Rews«, hauchte er.
»Genau der.« Rews spuckte die Worte mit grimmiger Entschlossenheit aus.
»Sie haben überlebt.« Glokta flüsterte, erst vor Überraschung, dann vor wachsender Belustigung. »Sie haben überlebt! Sie sind doch wesentlich härter, als ich Ihnen zugetraut hätte! Viel, viel härter.« Er begann zu kichern, und wieder liefen ihm Tränen über die Wange.
»Gibt es dabei was zu lachen?«
»Alles, sozusagen! Sie müssen sich doch des Aberwitzes bewusst sein. Ich habe so viele mächtige Feinde aus dem Weg geräumt, und dann setzt mir Salem Rews eine Klinge an die Kehle! Es ist doch immer das Messer, das man nicht kommen sieht, welches am tiefsten eindringt, nicht wahr?«
»Keins wird Sie tiefer stechen als dieses hier.«
»Dann stechen Sie nur zu, mein Lieber, ich bin bereit.« Glokta legte den Kopf in den Nacken und drückte die Kehle nach vorn gegen das kalte Metall. »Ich bin schon seit langer Zeit bereit.«
Rews’ Faust packte den Messergriff noch fester. Sein verbranntes Gesicht zitterte, und seine Augen verengten sich in ihren rosafarbenen Höhlen zu hellen Schlitzen. Jetzt.
Seine fleckigen Lippen teilten sich über den Zähnen. Die Sehnen in seinem Hals traten vor, als er sich darauf vorbereitete, zum Stich auszuholen. Mach schon.
Glokta atmete schnell, seine Kehle kribbelte vor Erwartung. Jetzt endlich ... jetzt ...
Aber Rews’ Arm bewegte sich nicht.
»Und dennoch zögern Sie«, flüsterte Glokta durch sein leeres Zahnfleisch. »Nicht aus Gnade natürlich, und auch nicht aus Schwäche. Das hat man alles aus Ihnen herausgebrannt, nicht wahr? In Angland? Sie halten inne, weil Ihnen klar geworden ist, dass Sie in der ganzen Zeit, in der Sie davon geträumt haben, mich umzubringen, keinen Gedanken daran verschwendet haben, was danach kommt. Was haben Sie tatsächlich durch all Ihre Zähigkeit gewonnen? Durch all Ihre Listigkeit, all Ihre Anstrengungen? Wird man Sie jagen? Wird man Sie wieder nach Angland zurückschicken? Ich kann Ihnen so viel mehr anbieten.«
Rews geschmolzenes, grimmiges Gesicht verhärtete sich nur noch mehr. »Was könnten Sie mir schon geben? Nach dem hier?«
»Oh, das ist doch gar nichts. Ich erlebe jeden Morgen beim Aufstehen doppelt so viel Schmerz und zehnmal mehr Demütigung. Ein Mann wie Sie könnte nützlich für mich sein. Ein Mann ... der so hart ist, wie Sie sich erwiesen haben. Ein Mann, der alles verloren hat, auch seine Skrupel, seine Gnade, seine Angst. Wir beide haben alles verloren. Wir beide haben überlebt. Ich verstehe Sie, Rews, besser als irgendjemand sonst das je tun wird.«
»Ich heiße jetzt Pike.«
»Natürlich. Lassen Sie mich wieder hoch, Pike.«
Langsam glitt das Messer von seiner Kehle. Der Mann, der Salem Rews gewesen war, sah grimmig auf ihn herab. Wer könnte je die Wendungen des Schicksals voraussehen? »Dann stehen Sie auf.«
»Leichter gesagt als getan.« Glokta zog mehrmals scharf die Luft ein, dann rollte er sich stöhnend und unter großen Mühen auf alle viere. In der Tat eine heldenhafte Leistung. Vorsichtig überprüfte er seine Glieder und zuckte zusammen, als seine verkrüppelten Gelenke knackten. Nichts gebrochen. jedenfalls nicht mehr als sonst. Er streckte die Hand aus und berührte den Griff seines umgefallenen Stocks mit zwei Fingern, dann zog er ihn über die auf dem Boden verstreuten Papiere zu sich heran. Wieder spürte er die Spitze des Messers in seinem Rücken.
»Halten Sie mich nicht für dumm, Glokta. Wenn Sie irgendwelche Tricks versuchen ...«
Er klammerte sich an die Kante der Schreibtischplatte und zog sich hoch. »Dann schneiden Sie mir die Leber raus und so weiter. Keine Sorge. Ich bin viel zu verkrüppelt, um irgendwas zu versuchen, außer vielleicht, mir in die Hosen zu machen. Aber es gibt etwas, das ich Ihnen zeigen muss. Etwas, das Sie sicherlich zu schätzen wissen werden. Falls ich mich irre ... nun ja ... dann können Sie mir die Kehle ja immer noch ein wenig später durchschneiden.«
Glokta humpelte durch die schwere Tür seines Dienstzimmers, und Pike hielt sich so eng neben ihm, als sei er sein Schatten, das Messer sorgfältig vor aller Augen verborgen.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, zischte Glokta die beiden Praktikalen im Vorzimmer an, als er an dem verwirrt dreinblickenden Sekretär hinter dem großen Schreibtisch vorbeihumpelte. Sie durchquerten die große Halle, die durch das Innerste des Hauses der Befragungen verlief, und Glokta, dessen Stock auf die Fliesen tappte, schlurfte ein wenig schneller voran. Es tat ihm weh, aber er hielt den Kopf hoch aufgerichtet und kräuselte kalt die Lippen. Aus den Augenwinkeln sah er die Schreiber, die Praktikalen, die Inquisitoren, die sich verbeugten, zurückwichen, aus dem Weg gingen. Wie sie mich fürchten. Mehr als jeden anderen Mann in Adua, und das aus gutem Grund. Wie sich die Dinge verändert haben. Und dennoch sind sie so geblieben wie immer. Sein Bein, sein Hals, seine leeren Kiefer. Diese Dinge waren so wie immer. Und so wird es auch immer bleiben. Es sei denn natürlich, ich sollte noch einmal gefoltert werden.
»Sie sehen gut aus«, erklärte Glokta über seine Schulter hinweg. »Abgesehen von den fürchterlichen Verbrennungen im Gesicht natürlich. Sie haben abgenommen.«
»Wenn man hungert, lässt sich das oft nicht vermeiden.«
»Wohl wahr, wohl wahr. Ich habe in Gurkhul auch einiges an Gewicht verloren, und das nicht nur, weil man so viel von mir abgeschnitten hat. Hier entlang.«
Sie gingen durch eine schwere Tür, die von grimmig dreinblickenden Praktikalen bewacht wurde, und erreichten eine Gittertür, die offen stand. Dann durch einen langen, fensterlosen Korridor, der stetig abwärts führte, von zu wenigen Lampen erhellt und von zu vielen Schatten bewohnt. Die Wände waren verputzt und geweißelt, allerdings schon vor längerer Zeit. Der Ort wirkte unsauber und roch leicht feucht. Ganz wie immer. Das Klicken von Gloktas Stock, das Zischen seines Atems, das Rascheln seines weißen Mantels drangen dumpf in die kühle, feuchte Luft.
»Es wird Ihnen kaum Befriedigung bringen, mich zu töten, wissen Sie.«
»Das werden wir sehen.«
»Ich bezweifle es. Ich war für Ihre kleine Reise nach Norden kaum verantwortlich. Schön, ich habe die Arbeit getan, aber die Befehle gaben andere.«
»Das waren aber nicht meine Freunde.«
Glokta schnaubte. »Ich bitte Sie. Freunde sind Menschen, die so tun, als würden sie einander mögen, um sich das Leben erträglicher zu machen. Männer wie wir brauchen solche Krücken nicht. Wir werden an unseren Feinden gemessen.« Und hier sind meine. Sechzehn Stufen standen ihm bevor. Diese alte, vertraute Treppe. Aus glattem Stein geschnitten und in der Mitte schon ein wenig ausgetreten.
»Stufen. Verdammte Dinger. Wenn ich einen Mann foltern dürfte, wissen Sie, wer das wäre?« Pikes Gesicht war eine einzige ausdruckslose Narbe. »Na, ist ja auch egal.« Glokta mühte sich ohne Zwischenfall hinab und humpelte dann auf eine schwere, eisenbeschlagene Holztür zu.
»Wir sind da.« Er zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche seines weißen Mantels, ließ sie durch die Finger gleiten, bis er den richtigen gefunden hatte, schloss die Tür auf und trat ein.
Erzlektor Sult war nicht mehr der Mann, der er einst gewesen war. Aber das sind wir schließlich alle nicht mehr, jedenfalls nicht ganz. Sein prächtiger weißer Haarschopf klebte fettig an dem hageren Schädel, und auf einer Seite war er mit gelbbraunem Blut verklebt. Seine durchdringenden blauen Augen hatten ihr befehlsgewohntes Funkeln verloren, lagen tief in den Höhlen und waren von zornigem Rosa umgeben. Man hatte ihn seiner Kleider entledigt, und sein sehniger Altmännerkörper, an den Schultern ein wenig haarig, war mit dem Dreck der Zelle beschmiert. Er sah tatsächlich nicht viel anders aus als ein verrückter alter Bettler. Kann das wirklich einmal einer der mächtigsten Männer im ganzen Weltenrund gewesen sein? Man würde nie darauf kommen. Eine heilsame Lehre für uns alle. Je höher man aufsteigt, desto tiefer kann man fallen.
»Glokta!«, fauchte er und schlug, an den Stuhl gefesselt, hilflos um sich. »Sie verräterischer, kranker Drecksack!«
Glokta hielt die weiß behandschuhte Hand hoch, und der purpurne Stein auf dem Ring, das Zeichen seines Amtes, funkelte im harten Lampenschein. »Ich würde sagen, Euer Eminenz wäre nun die angemessene Anrede.«
»Sie?« Sult stieß ein scharfes, bellendes Lachen aus. »Erzlektor? Ein verdorrter, mitleiderregender Schatten eines Mannes wie Sie? Sie ekeln mich an!«
»Erzählen Sie keinen Unsinn.« Glokta ließ sich mit zusammengebissenen Zähnen auf den anderen Stuhl fallen. »Ekel ist etwas für die Unschuldigen.«
Sult starrte Pike an, der bedrohlich auf den Tisch herabsah und dessen Schatten auf das polierte Kästchen fiel, in dem Gloktas Instrumente schlummerten. »Was ist das für ein Ungeheuer?«
»Das ist ein alter Freund von uns, Meister Sult, der erst kürzlich aus dem Krieg im Norden zurückgekehrt ist und eine neue Wirkungsstätte sucht.«
»Meinen Glückwunsch! Ich hätte nie geglaubt, dass Sie einen Assistenten finden könnten, der sogar noch hässlicher ist als Sie!«
»Sie sind sehr unhöflich, aber glücklicherweise sind wir nicht leicht beleidigt. Sagen wir, er ist genauso hässlich.« Und genauso gewissenlos, wie ich hoffe.
»Wann findet mein Prozess statt?«
»Prozess? Wieso sollte ich Ihnen den Prozess machen wollen? Man hält Sie allgemein für tot, und ich habe keine Anstalten unternommen, das zu berichtigen.«
»Ich verlange das Recht, vor dem Offenen Rat zu sprechen!« Sult zerrte machtlos an seinen Ketten. »Ich verlange ... verflucht sollen Sie sein! Ich verlange eine Anhörung!«
Glokta schnaubte. »Verlangen Sie die ruhig, aber sehen Sie sich doch um. Niemand hört Ihnen zu, nicht einmal ich. Wir haben alle zu viel zu tun. Der Offene Rat ist bis auf weiteres ausgesetzt. Der Geschlossene Rat ist völlig verändert, und Sie sind vergessen. Ich habe die Führung übernommen. Und zwar so umfassend, wie Sie selbst es nicht einmal in Ihren Träumen hätten tun können.« »Unter der Knute des Teufels Bayaz!«
»Völlig richtig. Vielleicht wird es mir beizeiten gelingen, seinen Würger ein wenig zu lockern, so wie es mir auch bei Ihnen gelang. Genug vielleicht, um dafür zu sorgen, dass die Dinge so laufen, wie ich es wünsche, wer weiß?«
»Niemals! Sie werden nie frei von ihm sein!«
»Abwarten.« Glokta zuckte die Achseln. »Aber es gibt auch schlimmere Schicksale, als der Oberste unter Sklaven zu sein. Viel schlimmere. Das habe ich oft genug gesehen.« Das habe ich oft genug erlebt.
»Sie Narr! Wir hätten frei sein können!«
»Nein. Hätten wir nicht. Und überhaupt wird die Freiheit überschätzt. Wir haben alle unsere Verantwortlichkeiten. Wir alle schulden anderen Menschen irgendetwas. Nur die völlig Nichtswürdigen sind wirklich frei. Die Nichtswürdigen und die Toten.«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« Sult sah mit verzerrtem Gesicht auf den Tisch. »Was spielt überhaupt noch eine Rolle? Stellen Sie Ihre Fragen.«
»Oh, deswegen sind wir nicht hier. Diesmal nicht. Nicht wegen Fragen, nicht wegen der Wahrheit, nicht wegen Geständnissen. Ich habe meine Antworten bereits.« Wieso tue ich das dann? Wieso? Glokta lehnte sich langsam über den Tisch. »Wir sind hier, um uns ein bisschen zu amüsieren.«
Sult starrte ihn kurz an, dann brach er in kreischendes Gelächter aus. »Um uns zu amüsieren? Sie werden Ihre Zähne nie zurückbekommen! Und auch Ihr Bein nicht! Sie werden Ihr Leben niemals zurückbekommen!«
»Natürlich nicht, aber ich kann Ihnen Ihres nehmen.« Glokta wandte sich um, steif, langsam und voll Schmerz, und er grinste zahnlos. »Praktikal Pike, wären Sie so freundlich, dem Gefangenen die Instrumente zu zeigen?«
Pike warf Glokta einen finsteren Blick zu. Dann sah er zu Sult hinüber. Lange stand er so da und bewegte sich nicht.
Schließlich trat er vor und hob den Deckel des
Kästchens.