OPFER
Hundsmann quetschte sich mit einigen anderen durch das Tor, mit ein paar Nordmännern und einer ziemlich großen Gruppe von Unionisten, die nun, nach diesem lächerlichen Scharmützel draußen, in die Stadt drängten. Ein paar Leute standen auf dem Wehrgang über dem Durchlass und jubelten, als seien sie bei einer Hochzeit. Ein dicker Mann mit einer Lederschürze erwartete sie auf der anderen Seite des Durchgangs und klopfte ihnen auf die Schultern, als sie vorüberkamen. »Danke, mein Freund! Danke!« Er drückte dem Hundsmann etwas in die Hand und grinste dabei, als sei er verrückt. Es war ein Laib Brot. »Brot.« Hundsmann schnupperte daran. »Was, zur Hölle, soll das denn jetzt?« Der Mann hatte einen ganzen Berg Brote auf seinem Karren. Er verteilte sie an jeden Soldaten, der an ihm vorüberkam, egal, ob Unionist oder Nordmann. »Wer ist das überhaupt?« Grimm zuckte die Achseln. »Ein Bäcker?« Es blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Sie wurden alle auf einem großen Platz zusammengedrängt, mit zahllosen Männern, die schoben, schnauften und großes Durcheinander verursachten. Die verschiedensten Soldaten kamen zusammen, und an den Rändern standen ein paar alte Männer und Frauen, die es allmählich müde wurden, weiter zu jubeln. Ein gestriegelter Bursche in schwarzer Uniform war inmitten des ganzen Irrsinns auf einen Karren geklettert und blökte wie eine Ziege, die sich verlaufen hatte.
»Achtes Regiment zu den Vier Ecken! Das neunte zum Agriont! Wenn Sie zum zehnten gehören, dann sind Sie verdammt noch mal durchs falsche Tor gekommen!«
»Dachte, wir sollten zum Hafen, Herr Major!«
»Poulders Division kümmert sich um den Hafen! Wir sind zum nördlichen Bereich der Stadt beordert! Das achte Regiment zu den Vier Ecken!«
»Ich bin vom vierten!«
»Vom vierten? Wo ist Ihr Pferd?«
»Tot!«
»Was ist mit uns?«, brüllte Logen. »Mit den Nordmännern?«
Der Bursche starrte sie mit großen Augen an, dann hob er hilflos die Hände. »Einfach rein hier! Wenn Sie Gurkhisen sehen, dann bringen Sie sie um!« Damit wandte er dem Tor den Rücken zu und ließ seinen Daumen über die Schulter in Richtung Stadt zucken. »Das neunte Regiment zum Agriont!«
Logen verzog missmutig das Gesicht. »Hier kriegen wir keine sinnvollen Anweisungen.« Er deutete auf eine breite Straße, auf der Scharen von Soldaten unterwegs waren. Ein großer, hoher Turm erhob sich hinter den Gebäuden. Ein riesiges Ding, das sicher auf einem Hügel errichtet worden war. »Falls wir getrennt werden, dann treffen wir uns da drüben wieder.« Er bog in die breite Straße ab, und der Hundsmann folgte ihm, wie auch Grimm mit Espe und seinen Jungs sowie Rotkapp und seine Truppe als Nachhut. Es dauerte nicht lange, und die Menge hatte sich verlaufen. Sie marschierten leere Straßen entlang und hörten kaum etwas außer ein paar Vögeln, die so froh gelaunt wie immer zwitscherten und sich nicht darum scherten, dass es gerade eine Schlacht gegeben hatte – oder dass noch eine weitere bevorstand.
Hundsmann verschwendete auch nicht allzu viele Gedanken daran, wie man daran ablesen konnte, dass er den Bogen recht locker in der Hand trug. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Häuser auf beiden Seiten der Straße anzustarren. Häuser von einer Art, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Aus kleinen, viereckigen roten Steinen gebaut und aus schwarzem Holz, das mit weißem Putz verfüllt war. Jedes war groß genug, dass ein Häuptling damit zufrieden gewesen wäre, und die meisten hatten sogar Fensterscheiben aus Glas.
»Verdammte Paläste, was?«
Logen schnaubte. »Du meinst, das hier wäre großartig? Du solltest mal diesen Agriont sehen, auf den wir gerade zuhalten. Was die da für Häuser haben. Von so was hast du noch nicht mal geträumt. Carleon ist ein Schweinestall im Vergleich dazu.«
Hundsmann war stets der Meinung gewesen, dass Carleon bereits übertrieben großartig geraten war. Die Vorstellung von etwas noch Größerem war geradezu albern. Er ließ sich ein wenig zurückfallen und geriet schließlich neben Espe. Nach kurzem Überlegen brach er den Brotlaib in zwei Stücke und hielt Espe eine Hälfte hin.
»Danke.« Espe biss ein Stück von der Kruste ab, dann noch eins. »Nicht übel.«
»Gibt doch nichts Besseres, oder? Diesen Geschmack von frischem Brot. Schmeckt nach ... nach Frieden, denk ich mal.«
»Wenn du meinst.« Sie kauten eine Weile und sagten nichts.
Hundsmann guckte schließlich zur Seite. »Ich denke, du solltest mit dieser Fehde abschließen.«
»Mit was für einer Fehde?«
»Wie viele führst du denn? Die mit unserem neuen König da. Mit Neunfinger.«
»Kann nicht sagen, dass ich das nicht schon versucht hätte.« Espe warf Logens Rücken einen finsteren Blick zu. »Aber sobald ich mich umdrehe, ist sie wieder da.«
»Espe, du bist ein guter Kerl. Ich mag dich. Das tun wir alle. Du hast Mark in den Knochen, Junge, und auch Hirn, und die Männer werden dir folgen. Du könntest weit kommen, wenn du dich nicht vorher umbringen lässt, und genau da liegt das Problem. Ich möchte nicht gern erleben, dass du etwas anfängst, dem du selbst kein Ende setzen kannst.«
»Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Alles, was ich anfange, führe ich ganz sicher auch zu Ende.«
Hundsmann schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das meine ich nicht, Junge, ganz und gar nicht. Vielleicht wirst du die Oberhand behalten, vielleicht auch nicht. Ich meine nur, weder das eine noch das andere wird ein echter Sieg sein. Blut erschafft Blut, nichts anderes. Ich meine, es ist noch nicht zu spät für dich. Es ist noch nicht zu spät, als dass du es nicht besser machen könntest.«
Espe sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Dann warf er das Stück Brot weg, drehte Hundsmann die Schulter zu und marschierte ohne ein weiteres Wort davon. Hundsmann seufzte. Manche Dinge konnte man mit bloßem Reden nicht gerade rücken. Manche Dinge überhaupt nicht.
Sie traten nun aus dem Irrgarten der Häuser heraus und erreichten einen Fluss. Er war vermutlich ungefähr so breit wie die Weißflut, aber die Ufer auf beiden Seiten bestanden aus Stein. Die größte Brücke, die Hundsmann je gesehen hatte, schwang sich darüber, mit einem Geländer aus gedrehtem Eisen, und sie war breit genug, dass zwei Fuhrwerke nebeneinander darauf Platz hatten. Am anderen Ende erhob sich eine weitere Mauer, die sogar noch höher war als jene, deren Tore sie zuvor passiert hatten. Hundsmann tat mit offenem Mund ein paar Schritte und sah von links nach rechts am schimmernden Wasser entlang. Es gab noch viele weitere Brücken. Noch viel mehr, und sogar noch größere, die sich aus einem Wald von Mauern und Türmen und in den Himmel ragender Gebäude reckten.
Viele Nordmänner sahen sich mit ebenso großen Augen um, als seien sie unversehens auf dem Mond gelandet. Selbst Grimm zeigte einen Gesichtsausdruck, der als Überraschung durchgehen konnte.
»Verdammt noch eins«, sagte Espe. »Habt ihr so was schon mal gesehen?«
Hundsmann tat der Hals weh vom vielen Schauen. »Die haben hier doch so viel. Was wollen sie überhaupt mit Angland? Das ist doch ein Dreckloch.«
Logen zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Manche Leute kriegen
wohl nie genug, nehm ich an.«
»Manche Leute kriegen nie genug, was, Bruder Langfuß?« Glokta schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich habe Ihren Fuß verschont. Ich habe Ihnen das Leben gelassen. Jetzt wollen Sie auch noch die Freiheit?«
»Herr Superior«, bettelte Langfuß. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, dann haben Sie zugesagt, mich freizulassen ... und ich habe meinen Teil unserer Abmachung erfüllt! Diese Tür dort sollte auf einen Platz unweit des Hauses der Befragungen führen ...«
»Das werden wir sehen.«
Ein letzter Schlag mit der Axt ließ ein paar Holzsplitter zur Seite fliegen, und die Tür erschauerte in ihren rostigen Angeln. Tageslicht strömte in den engen Kellerraum. Der Söldner mit dem tätowierten Hals trat beiseite, und Glokta humpelte hinaus, um sich umzusehen. Ah, frische Luft. Ein Geschenk, das wir so oft für selbstverständlich halten. Eine kurze Treppe führte in einen kopfsteingepflasterten Innenhof, der von den schmuddeligen Rückseiten grauer Häuser eingefasst wurde. Glokta erkannte ihn wieder. Tatsächlich gleich um die Ecke vom Haus der Befragungen, wie versprochen.
»Herr Superior?«, raunte Langfuß.
Glokta verzog den Mund. Aber was sollte es schon schaden? Höchstwahrscheinlich wird niemand von uns den Tag überleben, und Tote können es sich leisten, gnädig zu sein. Sie sind die Einzigen, die das können. »Na schön. Lassen Sie ihn laufen.« Der einäugige Söldner zückte ein langes Messer und sägte den Strick um Langfuß’ Handgelenke entzwei. »Es wäre besser, wenn ich Sie nie wieder sähe.«
Der Schatten eines Grinsens legte sich über die Züge des Wegkundigen. »Keine Sorge, Herr Superior. Ich dachte gerade genau das Gleiche.« Dann verschwand er auf demselben Weg, den sie gerade gekommen waren, die dumpfe Treppe zu den Kanälen hinunter.
»Jetzt hoffe ich, dass Sie die Sachen mitgebracht haben«, sagte Glokta.
»Ich bin vielleicht nicht vertrauenswürdig, Herr Superior, aber ich bin nicht unfähig.« Cosca streckte seinen Söldnern die Hand entgegen. »Es ist so weit, meine Freunde. Lasst uns schwarz werden.«
Wie ein Mann zogen sie schwarze Masken hervor und befestigten sie mit Riemchen, dann entledigten sie sich ihrer zerlumpten, zerrissenen Kleider. Jeder von ihnen war darunter in reines Schwarz gekleidet, von Kopf bis Fuß, und mit sorgfältig verstauten Waffen gerüstet. In nur wenigen Augenblicken hatte sich ein Grüppchen von Verbrechern in eine wohlgeordnete Einheit von Praktikalen der Inquisition Seiner Majestät verwandelt. Nicht, dass es von einem zum anderen so ein großer Schritt wäre.
Cosca selbst legte seinen Mantel schwungvoll ab, wendete ihn hurtig und zog ihn dann wieder über. Das Futter war schwarz wie die Nacht. »Es ist immer klug, verschiedene Farben am Leib zu tragen«, erklärte er. »Falls man gezwungen sein sollte, ruck, zuck die Seiten zu wechseln.« Das schönste Beispiel für einen echten Wendehals. Er setzte das Barett ab und schnippte gegen die schmutzige Feder. »Kann ich das behalten?«
»Nein.«
»Sie sind ein harter Mann, Superior.« Cosca grinste und schleuderte die Kopfbedeckung in die Schatten. »Und ich liebe Sie gerade deswegen.« Nun zog er sich die eigene Maske vors Gesicht und sah dann mit gerunzelter Stirn Ardee an, die verwirrt und erschöpft in einer Ecke des Lagerraums stand. »Was ist mit ihr?«
»Mit ihr? Sie ist natürlich eine Gefangene, Praktikal Cosca! Eine Spionin, die mit den Gurkhisen im Bunde steht. Seine Eminenz hat den Wunsch geäußert, sie persönlich zu befragen.« Ardee sah ihn blinzelnd an. »Es ist ganz leicht. Versuchen Sie, ein bisschen verängstigt auszusehen.«
Sie schluckte. »Das sollte kein Problem sein.«
Und nun gehen wir durchs Haus der Befragungen in der
Absicht, den Erzlektor festzunehmen? Da haben wir uns was
vorgenommen. Glokta schnippte mit den Fingern. »Wir müssen
aufbrechen.«
»Wir müssen aufbrechen«, sagte West. »Ist der Hafen wieder in unserer Hand? Wo, zur Hölle, ist Poulder?«
»Das scheint niemand zu wissen, Herr Marschall.« Brint versuchte, sein Pferd weiter anzutreiben, aber sie gerieten nun in einen dichten Pulk. Speere schwankten hin und her und kamen ihnen mit den Spitzen bedrohlich nahe. Soldaten fluchten. Korporale brüllten. Offiziere gackerten wie verärgerte Hühner. Um ein Heer von über tausend Mann voranzubewegen, konnte man sich kaum ein schwierigeres Terrain vorstellen als die engen Straßen am Hafen. Dazu kam, dass zudem noch ein Unheil verkündender Strom von Verwundeten, die teils selbst voranhumpelten, teils getragen wurden, in die entgegengesetzte Richtung drängte.
»Macht Platz für den Lord Marschall!«, brüllte Pike. »Der Lord Marschall!« Damit hob er das Schwert, als sei er bereit, mit der flachen Seite zuzuschlagen, und die Männer gingen ihm eilig aus dem Weg. Zwischen den klappernden Speeren tat sich allmählich eine Schneise auf. Ein Reiter kam aus der Mitte der Soldaten auf sie zu. Es war Jalenhorm, dessen Stirn eine blutige Wunde zierte.
»Alles in Ordnung?«
Der massige Mann grinste. »Kein Grund zur Sorge, Herr Marschall. Hab mir den Kopf an einem verdammten Balken gestoßen.«
»Fortschritte?«
»Wir drängen sie allmählich in den Westen der Stadt zurück. Kroys Reiterei ist bis zu den Vier Ecken vorgedrungen, soweit ich das sagen kann, aber die Gurkhisen haben immer noch den Agriont umstellt, und jetzt nehmen sie erneut Aufstellung und greifen selbst von Westen an. Viele von Kroys Fußtruppen werden auf den Straßen auf der anderen Seite des Flusses aufgehalten. Wenn wir dort nicht bald Verstärkung bekommen ...«
»Ich muss mit General Poulder sprechen«, unterbrach West ihn brüsk. »Wo steckt der verdammte Kerl? Brint?« »Herr Marschall?«
»Nehmen Sie ein paar dieser Leute und bringen Sie mir Poulder sofort hierher!« Sein Finger stach in die Luft. »Persönlich!«
»Jawohl, Herr Marschall!« Brint tat sein Bestes, sein Pferd in der Enge zu wenden.
»Was ist mit der Seeseite? Wie ist es Reutzer ergangen?«
»Soweit ich weiß, kämpft er gegen die gurkhisische Flotte, aber ich habe keine Ahnung ...« Der Geruch nach verdorbenem Salzwasser und brennendem Holz wurde stärker, als sie nahe dem Hafen aus dem Schatten der Gebäude traten. »Verdammte Scheiße.«
Dem hatte West nichts hinzuzufügen.
Das früher einmal so elegante Halbrund der Hafenanlagen Aduas bot einen Anblick der Verwüstung. Die Kais in ihrer Nähe waren geschwärzt, zerstört, mit kaputten Waffen, Rüstungsteilen und verdrehten Leichen gepflastert. Etwas weiter entfernt kämpften einige Gruppen von Männern in schlecht geordnetem Verbund. Stangenwaffen ragten aus dem Gewühl wie die Stacheln eines Igels, und die Luft dröhnte vor Lärm. Kriegswimpel der Union und Standarten der Gurkhisen flatterten wie Krähen in der leichten Brise. Die Scharmützel erstreckten sich beinahe über das ganze lange Ufer. Lagerhäuser standen in Flammen und ließen die Luft flimmern, und dadurch boten die vielen hundert Männer, die sich davor heftige Kämpfe lieferten, einen noch dramatischeren Anblick. Hohe Rauchsäulen, schwarz, grau, weiß, quollen aus den brennenden Gebäuden und trieben über die Bucht. Dort, im aufgewühlten Hafen, waren zahlreiche Schiffe in ihre eigene verzweifelte Schlacht verstrickt.
Unter vollen Segeln kreuzten sie hierhin und dorthin, wendeten, halsten, suchten neue Stellungen, und schimmernde Gischt schoss empor. Katapulte schleuderten Brandsätze gegen den Gegner, auf den Decks feuerten Bogenschützen brennende Salven ab, und in dem Spinnennetz der Takelung kletterten hoch oben die Seeleute herum. Andere Schiffe waren mit Seilen und Enterhaken zu unbeholfenen Paaren verbunden, wie kämpfende Hunde, die nacheinander schnappten, und das gleißende Sonnenlicht zeigte die Besatzungen in wildem Kampf. Getroffene Schiffe trieben krängend über die Bucht, mit zerfetzten Segeln und herabhängender Takelung. Viele brannten und schickten braunen Rauch gen Himmel, der die tief stehende Sonne in einen hässlich matten Fleck verwandelte. Wrackteile trieben überall auf dem schäumenden Wasser – Fässer, Kisten, geborstene Planken und tote Seeleute.
West erkannte die vertrauten Formen der Unionsschiffe, die gelbe Sonne, die auf die Segel gestickt war, und er erriet, welche Schiffe zu den Gurkhisen gehörten. Aber es waren noch andere dabei – lange, schlanke Raubschiffe mit schwarzem Rumpf, deren weiße Segel mit einem schwarzen Kreuz gezeichnet waren. Vor allem eines überragte jedes andere Schiff im Hafen und machte gerade in diesem Augenblick an einem der wenigen Anleger fest, die noch unversehrt geblieben waren.
»Nichts Gutes ist je aus Talins gekommen«, brummte Pike.
»Was, zur Hölle, machen styrische Schiffe hier?«
Der ehemalige Sträfling deutete auf eines, das gerade dabei war, seitlich einen Segler der Gurkhisen zu rammen. »Sie kämpfen gegen die Gurkhisen, so wie’s aussieht.«
»Herr Marschall«, fragte jemand. »Was sollen wir tun?«
Die ewige Frage. West öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Wie konnte ein Mann hoffen, das enorme Chaos, das sich vor ihm ausbreitete, auch nur ansatzweise in den Griff zu bekommen? Er erinnerte sich an Varuz, wie jener in der Wüste herumstolziert war, stets von seinem großen Stab begleitet. Er dachte an Burr, wie er auf seine Landkarten tippte und mit dem dicken Zeigefinger wedelte. Die größte Verantwortung, die ein Kommandant trug, lag nicht darin, Befehle zu geben, sondern so auszusehen, als ob er wüsste, wie man das tat. Er schwang sein wundes Bein über den Sattelknauf und glitt herab auf das schmierige Pflaster.
»Wir werden hier einstweilen unser Hauptquartier aufschlagen. Major Jalenhorm?«
»Herr Marschall?«
»Machen Sie General Kroy ausfindig und sagen Sie ihm, er soll weiter nach Norden und Westen in Richtung Agriont vorrücken.«
»Jawohl, Herr Marschall.«
»Ein paar Leute müssen den ganzen Müll von den Kais sammeln, damit wir unsere Männer hier schneller durchmarschieren lassen können.«
»Jawohl, Herr Marschall.«
»Und irgendjemand sucht mir General Poulder, verdammt noch mal! Jeder Mann muss seine Aufgabe übernehmen!«
»Was ist das denn jetzt?«, knurrte Pike.
Eine seltsame Prozession stolzierte über den zerstörten Kai auf sie zu. Inmitten der Trümmer erschien sie völlig fehl am Platze, wie aus einem Traum. Ein Dutzend aufmerksame Leibwächter in schwarzer Rüstung flankierten einen einzelnen Mann. Sein schwarzes Haar war grau meliert, der Spitzbart makellos getrimmt. Er trug schwarze Stiefel, einen geriffelten Brustpanzer aus schwarzem Stahl und einen Mantel aus schwarzem Samt, den er sich majestätisch über die Schulter geworfen hatte. Damit war er zwar ausstaffiert wie der wohlhabendste Leichenbestatter der ganzen Welt, aber er bewegte sich mit dem stählernen Selbstbewusstsein, das den höchsten Königen vorbehalten ist. Er hielt direkt auf West zu, sah weder nach links noch nach rechts, und die sprachlosen Wachleute und Stabsoffiziere wurden von seinem befehlsgewohnten Wesen so mühelos beiseite geschoben wie Eisenspäne, die durch magnetische Aufladung voneinander abgestoßen werden.
Er streckte die schwarz behandschuhte Hand aus. »Ich bin Großherzog Orso von Talins.«
Vielleicht hatte er nach dieser Geste erwartet, dass West niederkniete und ihm die Hand küsste. Stattdessen ergriff der Lord Marschall sie mit der eigenen Rechten und schüttelte sie fest. »Euer Exzellenz, es ist mir eine Ehre.« Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob das überhaupt die angemessene Anrede war. Schließlich hatte er nicht unbedingt damit gerechnet, inmitten einer blutigen Schlacht am Hafen von Adua auf einen der mächtigsten Männer der Welt zu treffen. »Ich bin Lord Marschall West, Oberbefehlshaber der Truppen Seiner Majestät. Ich will nicht undankbar erscheinen, aber Sie sind weit von zu Hause entfernt ...«
»Meine Tochter ist Ihre Königin. Für sie sind die Menschen von Talins bereit, jedes Opfer zu bringen. Nachdem ich von den ...« Er hob eine schwarze Braue und blickte über den brennenden Hafen. »... von den Schwierigkeiten hier erfuhr, bereitete ich sofort die Fahrt vor. Die Schiffe meiner Flotte sowie zehntausend meiner besten Soldaten stehen zu Ihrer Verfügung.«
West wusste kaum, was er darauf antworten sollte. »Tatsächlich?«
»Ich habe mir die Freiheit genommen, sie bereits an Land zu setzen. Die Männer sind damit beschäftigt, die Gurkhisen aus dem Südwesten der Stadt zu vertreiben. Drei Höfe heißt die Gegend, nicht wahr?«
»Äh ... ja.«
Großherzog Orso gestattete sich ein hauchdünnes Lächeln. »Ein sehr passender Name für ein so innerstädtisch gelegenes Viertel. Sie brauchen sich nicht länger um Ihre westliche Flanke zu sorgen. Ich wünsche Ihnen bei Ihren Unternehmungen viel Glück, Lord Marschall. Wenn das Schicksal es so will, werden wir uns später wieder treffen. Als Sieger.« Er neigte den majestätischen Kopf und rauschte davon.
West sah ihm starren Blickes hinterher. Er wusste, dass er wirklich dankbar hätte sein sollen, dass aus dem Nichts eine Truppe von zehntausend Styrern angerückt war, aber er konnte sich des nagenden Gefühls nicht erwehren, dass er glücklicher gewesen wäre, hätte sich Großherzog Orso niemals hier gezeigt. Allerdings hatte er in diesem Augenblick andere, drängendere Sorgen.
»Herr Marschall!« Es war Brint, der, gefolgt von einer Gruppe von Offizieren, über den Kai eilte. Eine Seite seines Gesichts zierte ein langer Streifen verschmierter Asche. »Herr Marschall, General Poulder ...«
»Na endlich, verdammt noch mal«, polterte West. »Jetzt werden wir wohl endlich eine Antwort hören. Wo ist der Drecksack?« Er schob Brint beiseite und erstarrte. Poulder lag auf einer Bahre, die von vier schlammbespritzten und elend wirkenden Offizieren seines Stabs getragen wurde. Sein Gesichtsausdruck war der eines friedlich schlafenden Mannes; so sehr, dass West beinahe erwartete, ihn schnarchen zu hören. Eine riesige, klaffende Wunde in seiner Brust verdarb das Bild jedoch.
»General Poulder hat den Angriff in vorderster Front angeführt«, sagte einer der Offiziere, der mit den Tränen kämpfte. »Ein edles Opfer ...«
West sah auf die Bahre. Wie oft hatte er diesem Mann den Tod
gewünscht? Eine Welle der Übelkeit drohte ihn zu überwältigen, und
er riss ruckartig die Hand vors Gesicht. »Verdammt«, flüsterte
er.
»Verdammt!«, zischte Glokta, als er sich auf der obersten Treppenstufe den zitternden Knöchel verdrehte und beinahe vornüber gefallen wäre. Ein hagerer Inquisitor, der ihm entgegenkam, warf ihm einen langen Blick zu. »Gibt es ein Problem?«, fauchte Glokta ihn an. Der Mann senkte den Kopf und eilte ohne ein Wort davon.
Klack, klick, Schmerz. Der düstere Flur glitt mit quälender Langsamkeit an ihm vorbei. Jeder Schritt war eine Pein, aber er zwang sich zum Weitergehen, trotz des Brennens in seinen Beinen, des Pochens im Fuß, des Schweißes, der unter seiner Kleidung über den verdrehten Rücken tropfte. Starre, zahnlose Lässigkeit war in seine Züge gemeißelt. Bei jedem Stöhnen und Schnaufen auf seinem Weg durch das Gebäude hatte er einen Angriff erwartet. Bei jedem Zucken, bei jedem Krampf hatte er damit gerechnet, dass Praktikale aus den Seitentüren stürzen und ihn und seine schlecht getarnten gedungenen Helfer wie Schweine abschlachten würden.
Aber die wenigen nervösen Leute, die ihnen begegnet waren, hatten kaum aufgeblickt. Die Angst lässt sie nachlässig werden. Die Welt steht an einem Abgrund, jeder fürchtet sich, noch einen Schritt zu tun, weil dieser Schritt vielleicht ins Leere führen könnte. Der Selbsterhaltungstrieb. Er kann die Fähigkeiten eines Mannes tatsächlich ruinieren.
Er humpelte durch die offene Tür ins Vorzimmer zu den Diensträumen des Erzlektors. Der Sekretär hob verärgert den Kopf. »Superior Glokta! Sie können nicht einfach ...« Er geriet ins Stottern, als die Söldner in den engen Raum drängten. »Ich meine ... Sie können nicht ...«
»Schweigen Sie! Ich handle im unmittelbaren Auftrag des Königs.« Was soll’s, jeder lügt schließlich. Der Unterschied zwischen einem Schurken und einem Helden liegt darin, ob man ihm glaubt. »Treten Sie zur Seite!«, zischte er die beiden Praktikalen an, die die Tür flankierten, »andernfalls werden Sie sich dafür verantworten müssen.« Die beiden Männer tauschten einen Blick, und als noch mehr von Coscas Getreuen erschienen, hoben sie gleichzeitig die Hände und ließen sich entwaffnen. Der Selbsterhaltungstrieb. Er kann tatsächlich deutlich zum Nachteil gereichen.
Vor der Tür hielt Glokta inne. Wie oft habe ich mich zum Vergnügen Seiner Eminenz hier gewunden wie ein Aal. Seine Finger berührten sacht das Holz. Kann es denn wirklich so leicht sein? Kann man einfach im hellen Tageslicht hier heraufmarschieren und den mächtigsten Mann in der Union festnehmen? Schließlich drehte er den Türknauf und humpelte über die Schwelle.
Sults Dienstzimmer sah aus wie immer. Die großen Fenster mit ihrem Blick auf die Universität, der große runde Tisch mit der juwelenbesetzten Landkarte der Union, die prachtvollen Stühle und die düsteren Porträts. Doch es war nicht Sult, der auf dem hochlehnigen Stuhl saß. Dort hockte kein Geringerer als Sults liebster Schoßhund, Superior Goyle. Wir probieren wohl schon mal aus, wie es sich dort sitzt, wie? Ist aber wohl noch eine Nummer zu groß für Sie, würde ich sagen.
Goyles erste Reaktion war Wut. Wie kann man es wagen, hier derart hereinzuplatzen? Die zweite war Verwirrung.
Wer wagt es, so dreist zu stören? Die dritte war Erschrecken. Der Krüppel? Aber wie das? Seine vierte, als Cosca und vier seiner Männer Glokta durch die Tür folgten, war Entsetzen. Jetzt kommen wir allmählich ein wenig voran.
»Sie!«, zischte er. »Aber Sie sind doch ...«
»Tot? Der Plan wurde bedauerlicherweise ein klein wenig geändert. Wo ist Sult?«
Goyles Blick huschte im Raum umher, glitt von dem zwergenhaften Söldner über den Mann mit dem Haken statt der Hand und zu dem mit den hässlichen Geschwüren, bis er schließlich an Cosca hängen blieb, der mit großer Geste durch das Zimmer stolzierte und dabei eine Hand stets am Griff seines Degens hielt.
»Ich werde Sie gut bezahlen! Was immer er Ihnen bietet, ich verdopple die Summe!«
Cosca streckte die Hand aus. »Ich hätte es gern in bar.«
»Jetzt? Aber ich habe ... ich habe es nicht bei mir!«
»Eine Schande, doch ich arbeite nun einmal nach denselben Grundsätzen wie eine Hure. Mit Versprechen erkauft man sich keine schönen Stunden, mein Freund. Gar keine schönen Stunden.«
»Warten Sie!« Goyle erhob sich stolpernd und wich einen Schritt zurück, die bebenden Hände vor sich ausgestreckt. Aber hier gibt es keinen Fluchtweg außer dem Fenster. Das ist wiederum das Problem mit dem Ehrgeiz. Wenn man immer nur in die Höhe schaut, dann vergisst man leicht, dass es von den luftigen Höhenflügen nur auf eine Weise nach unten geht – mit einem tiefen Fall.
»Setzen Sie sich hin, Goyle«, knurrte Glokta.
Cosca packte Goyles Hände, drehte ihm den einen Arm brutal auf den Rücken, so dass er kreischte, und schob ihn wieder auf den Stuhl. Dann legte er eine Hand um Goyles Hinterkopf und schlug sein Gesicht hart auf die wunderschöne Karte der Union. Es gab ein scharfes Knacken, als Goyles Nase brach und Blut über den Westteil von Midderland rann.
Nicht besonders einfallsreich, aber die Zeit für elegante Lösungen haben wir wohl längst hinter uns gelassen. Das Geständnis des Erzlektors oder eines Mannes, der ihm nahe steht ... Sult selbst wäre besser gewesen, aber wenn wir das Hirn nicht erwischen können, muss uns das Arschloch genügen. »Wo ist diese Frau mit meinen Instrumenten?« Ardee schlüpfte vorsichtig ins Zimmer, ging langsam zum Tisch hinüber und setzte das Kästchen ab.
Glokta schnippte mit den Fingern und deutete auf den Gefangenen. Der dicke Söldner kam angewatschelt und packte Goyles freien Arm, um ihn mit heftigem Ruck auf den Tisch zu drücken. »Sie denken vermutlich, Sie wüssten eine Menge über Folter, oder, Goyle? Aber glauben Sie mir, Sie haben noch überhaupt nichts verstanden, bevor Sie nicht ein wenig Zeit auf beiden Seiten des Tisches verbracht haben.«
»Sie durchgedrehter Bastard!« Der Superior wand sich hin und her und schmierte mit seinem Gesicht Blut über die ganze Union. »Sie haben nun allmählich wirklich eine Grenze überschritten!«
»Grenze?« Glokta bekam einen Lachanfall. »Ich habe die Nacht damit zugebracht, einem meiner Freunde die Finger abzusäbeln und einen weiteren zu töten, und Sie wagen es, mir mit Grenzen zu kommen?« Er schob den Deckel des Kästchens auf. »Es gibt nur eine Grenze, die hier eine Rolle spielt, und zwar die zwischen den Starken und den Schwachen. Zwischen dem Mann, der die Fragen stellt, und dem, der sie beantwortet. Andere Grenzen gibt es nicht.« Er beugte sich vor und drückte seine Fingerspitze hart gegen Goyles Schläfe. »Das ist alles in Ihrem Kopf! Die Handschellen bitte.«
»Hä?« Cosca sah zu dem dicken Söldner, und der Mann zuckte die Achseln, so dass die verwischten Tätowierungen auf seinem Hals zuckten.
»Pffft«, sagte der Zwerg. Der mit den Geschwüren schwieg. Der einhändige Söldner hatte sich die Maske heruntergezogen und war damit beschäftigt, mit seinem Haken in der Nase zu bohren.
Glokta drückte die Wirbelsäule durch und seufzte schwer. Es gibt einfach keinen Ersatz für gute Fachkräfte. »Dann müssen wir improvisieren, fürchte ich.« Mit diesen Worten ergriff er ein Dutzend langer Nägel und ließ sie mit metallischem Klingen auf die Tischplatte fallen. Dann zog er den Hammer hervor, dessen polierter Kopf schimmerte. »Ich denke, Sie ahnen bereits, worauf das hier hinausläuft.«
»Nein. Nein! Wir können doch zu einer Einigung kommen, wir können ...« Glokta drückte die Spitze eines Nagels auf Goyles Handgelenk. »Ah! Warten Sie! Warten ...«
»Wären Sie so nett, den Nagel festzuhalten? Ich habe leider nur eine Hand frei.«
Cosca nahm den Nagel gut gelaunt zwischen Daumen und Zeigefinger. »Achten Sie aber ein bisschen darauf, wo Sie hinschlagen, ja?«
»Warten Sie!«, kreischte Goyle.
Der Hammer klopfte dreimal hell auf, geradezu enttäuschend leise, als er den Nagel sauber zwischen die Knochen von Goyles Unterarm und in die Tischplatte trieb. Der Superior brüllte laut vor Schmerz, und blutige Spucke flog über den Tisch.
»Aber nun kommen Sie, Superior, verglichen mit dem, was Sie Ihren Gefangenen in Angland angetan haben, ist das hier doch Kinderkram. Versuchen Sie sich Ihre Kräfte ein wenig einzuteilen. Wenn Sie jetzt schon so schreien, dann können Sie sich später gar nicht mehr steigern.« Der dicke Söldner packte nun Goyles anderes Handgelenk mit seinen speckigen Pfoten und zog es auf die Landkarte der Union.
»Nagel?«, fragte Cosca mit erhobenen Augenbrauen. »Sie haben das Spiel schon gut begriffen.«
»Warten Sie! Ah! Warten Sie!«
»Wieso? Ich fühle mich beinahe, als hätte ich Spaß, und das ist das erste Mal seit sechs Jahren. Diesen Augenblick werden Sie mir doch nicht missgönnen. So etwas genieße ich so selten.« Glokta hob den Hammer.
»Warten Sie!«
Klick. Wieder brüllte Goyle vor Schmerz. Klick. Und wieder. Klick. Der Metallstift war durchgedrungen, und die frühere Geißel der Strafkolonien Anglands war mit ausgestreckten Armen an die Tischplatte genagelt. Dahin führt der Ehrgeiz wohl, wenn es an Talent mangelt. Demut kann man viel leichter lehren, als man vermuten sollte. Um die Luft aus unserem Hochmut herauszulassen, reichen ein oder zwei kleine Nägel am rechten Ort. Goyles Atem zischte durch seine blutigen Zähne, die Finger kratzten über das Holz. Glokta schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich würde an Ihrer Stelle aufhören, mich zu wehren. Sonst reißen die Nägel Ihnen nur ins Fleisch.«
»Dafür werden Sie büßen, Sie verkrüppelter Bastard! Glauben Sie nur nicht, dass Sie davonkommen!«
»Oh, ich habe schon bezahlt.« Glokta ließ den Kopf langsam kreisen und versuchte, die verspannten Muskeln in seinen Schultern zumindest ein klein wenig zu lockern. »Ich wurde – ich weiß nicht für wie lange, aber ich vermute, es waren mehrere Monate – in einer Zelle gefangen gehalten, die höchstens so groß war wie eine durchschnittliche Kommode. Viel zu klein, um sich aufzurichten oder auch nur gerade zu sitzen. Jede mögliche Haltung war verdreht, gebeugt, quälend. Hunderte unendlicher Stunden in finsterster Dunkelheit und erstickender Hitze. Ich kniete im stinkenden Brei meiner eigenen Kacke, wand mich hin und her und rang nach Luft. Bettelte um Wasser, das meine Wärter manchmal durch ein Gitter von oben herabträufeln ließen. Manchmal pissten sie auch hinunter, und selbst dafür war ich dankbar. Seitdem habe ich nie wieder richtig aufrecht gestanden. Ich habe keine Ahnung, wie ich mir meine geistige Gesundheit erhalten habe.« Einen Augenblick dachte Glokta über das Gesagte nach, dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht gelang es mir auch gar nicht. Auf alle Fälle waren dies die Opfer, die ich gebracht habe. Und zu welchen Opfern sind Sie bereit, nur um Sults Geheimnisse zu bewahren?«
Es kam keine Antwort, nur das Blut, das unter Goyles Unterarmen hervorquoll und sich um den schimmernden Edelstein sammelte, der das Haus der Befragungen in der Stadt Keln markierte.
»Tja.« Glokta packte seinen Stock mit festem Griff und beugte sich vor, um Goyle ins Ohr zu flüstern: »Es gibt da ein kleines Stückchen Fleisch zwischen Ihren Eiern und Ihrem Arschloch. Das sehen Sie nie, es sei denn, Sie sind zufällig ein Schlangenmensch oder haben eine unnatürliche Vorliebe für Spiegel. Sie wissen schon, wovon ich rede. Männer denken stundenlang über das Teil davor nach, und fast genauso lange über das Stück dahinter, aber dieses kleine bisschen Fleisch? Es wird ungerechterweise übersehen.« Er nahm ein paar Nägel auf und ließ sie fröhlich vor Goyles Gesicht klappern. »Das möchte ich heute ändern. Ich werde an diesem Punkt anfangen und mich langsam nach außen arbeiten, und glauben Sie mir, wenn ich damit fertig bin, werden Sie zeit Ihres Lebens an dieses kleine Stückchen Fleisch denken. Oder zumindest daran, wo es sich einmal befunden hat. Praktikal Cosca, wären Sie so freundlich, dem Herrn Superior aus seinen Hosen zu helfen?«
»Die Universität!«, bellte Goyle. Ein leichter Schweißfilm hatte sich über seinen kahl werdenden Schädel gelegt. »Sult! Er ist in der Universität!«
Jetzt schon? Das ist ja beinahe enttäuschend. Aber anderseits vertragen grobe Klötze selbst oft erstaunlich wenige Schläge. »Und was tut er da, um diese Zeit?«
»Ich ... ich weiß nicht ...«
»Das reicht nicht. Die Hosen bitte.«
»Silber! Er ist bei Silber!«
Glokta runzelte die Stirn. »Dem Universitätsverweser?«
Goyles Augen huschten von Glokta zu Cosca und zurück. Dann schloss er sie verzweifelt. »Dem Adeptus der Dämonologie!«
Es folgte eine lange Pause. »Dem was?«
»Silber, er leitet nicht nur die Universität! Er führt ... Experimente durch.«
»Experimente welcher Art?« Glokta stieß mit dem Hammerkopf abrupt nach Goyles Gesicht. »Bevor ich Ihre Zunge an den Tisch nagele.«
»Okkulte Experimente! Sult hat ihm schon seit langer Zeit Geld dafür gegeben! Seit der Erste der Magi hier auftauchte! Vielleicht auch schon vorher!«
Okkulte Experimente? Gelder vom Erzlektor? Das scheint so gar nicht Sults Stil zu sein, aber es erklärt, wieso diese verdammten Adepti Geld von mir erwarteten, als ich zum ersten Mal dort Nachforschungen anstellte. Und weshalb Vitari und ihr ganzer Zirkus sich jetzt da niedergelassen haben. »Was für Experimente?«
»Silber ... er kann Kontakt aufbauen ... zur Anderen Seite!«
»Was?«
»Es ist wahr! Ich habe es gesehen! Er kann dort Dinge lernen, Geheimnisse, die man auf keine andere Art erfahren kann, und nun ...«
»Ja?«
»Er sagt, dass er einen Weg gefunden hat, um sie hierher zu holen!«
»Sie?«
»Die Geheimnisverräter, so nennt er sie jedenfalls!«
Glokta fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Dämonen?« Ich dachte, Seine Eminenz hätte nichts für Aberglauben übrig, dabei war er die ganze Zeit ... Der Mann hat vielleicht Nerven!
»Er kann sie gegen seine Feinde aussenden, sagt er. Gegen die Feinde des Erzlektors! Sie sind bereit!«
Glokta fühlte, wie sein linkes Auge zuckte, und er drückte den Handrücken dagegen. Vor einem Jahr hätte ich
mich kaputtgelacht und ihn an die Decke genagelt. Aber heute liegen die Dinge anders. Wir waren im Haus des Schöpfers. Wir haben Schickel lächeln sehen, als sie brannte. Wenn es wirklich Verzehrer gibt? Und Magi? Warum sollte es dann nicht auch Dämonen geben? Wie könnte es anders sein? »Welche Feinde?«
»Den Kronrichter! Den Ersten der Magi!« Goyle schloss wieder die Augen. »Den König«, wimmerte er.
Ahhh. Den König. Diese zwei kleinen Worte sind Zauberei nach meinem Geschmack. Glokta wandte sich an Ardee und zeigte ihr die klaffende Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. »Wären Sie so nett, ein Geständnis aufzusetzen?«
»Wäre ich ...« Sie starrte ihn einen Augenblick an, die Augen im bleichen Gesicht geweitet, dann eilte sie zum Schreibtisch des Erzlektors, griff nach einem Blatt Papier und einer Feder und tauchte sie klappernd in ein Tintenfass. Mit zitternder Hand hielt sie inne. »Was soll ich schreiben?«
»Oh, etwas in diesem Stil: Ich, Superior Goyle, gestehe hiermit, Komplize im verräterischen Komplott Seiner Eminenz Erzlektor Sults gewesen zu sein, um ...« Wie formuliert man das am besten? Vermutlich, indem man die Dinge einfach beim Namen nennt. »Um teuflische Künste gegen Seine Majestät den König und Mitglieder des Geschlossenen Rates anzuwenden.«
Die Feder kratzte ungelenk über das Papier und hinterließ Tintenkleckse. Ardee hielt ihm das knisternde Blatt hin. »Reicht das?«
Er erinnerte sich an die wunderschönen Dokumente, die Praktikal Frost aufzusetzen pflegte. Die elegante, geschwungene Schrift, die unfehlbaren Formulierungen. Jedes Geständnis ein Kunstwerk. Glokta starrte traurig auf den tintenbefleckten Zettel in seiner Hand.
»Gerade eben noch lesbar, aber es wird genügen.« Er ließ das Papier unter Goyles zitternde Hand gleiten, nahm Ardee die Feder ab und schob sie ihm zwischen die Finger. »Unterschreiben Sie.«
Goyle schluchzte, schniefte und kritzelte seinen Namen unten auf den Zettel, so gut er es mit dem angenagelten Arm vermochte. Ich gewinne, und zum ersten Mal schmeckt der Sieg tatsächlich beinahe süß.
»Hervorragend«, sagte Glokta. »Ziehen Sie die Nägel und suchen Sie Verbandszeug. Es wäre jammerschade, wenn er uns verbluten würde, bevor er die Möglichkeit gehabt hätte, Zeugnis abzulegen. Aber knebeln Sie ihn, ich habe für den Augenblick genug gehört. Wir werden ihn mitnehmen zum Kronrichter.«
»Warten Sie! Warten Sie! Waarrrr...!« Goyles Schreie brachen ruckartig ab, als ihm der Söldner mit den Geschwüren einen Lappen in den Mund steckte. Der Zwerg ließ die Zange aus ihrer Hülle gleiten. So weit sind wir gekommen, und wir sind immer noch am Leben. Wer hätte das für möglich gehalten? Glokta humpelte zum Fenster und streckte die schmerzenden Beine. Es ertönte ein gedämpfter Schrei, als der erste Nagel aus Goyles Arm gezogen wurde, aber Glokta war mit seinen Gedanken woanders. Er sah zur Universität hinüber, deren Türmchen wie Klauenfinger in die rauchgeschwängerte Dunkelheit griffen. Okkulte Experimente? Herbeirufen und aussenden? Bitter leckte er über das Zahnfleisch. Was geht dort vor sich?
»Was geht dort vor sich?« Jezal schritt auf dem Dach des Kettenturms auf und ab und hoffte, dass er dabei wie ein Tiger im Käfig wirkte. Leider sah er eher so aus wie ein Verurteilter am Morgen seiner Hinrichtung.
Der Rauch hatte einen rußigen Schleier über die Stadt geworfen, und es war nun unmöglich zu sagen, was auch nur eine halbe Meile entfernt gerade geschah. Die Offiziere aus Varuz’ Stab, die sich über die Brustwehr verteilt hatten, verkündeten gelegentlich nutzlose und völlig widersprüchliche Neuigkeiten. Es wurde an den Vier Ecken gekämpft, auf dem Mittenweg und überall im Herzen der Stadt. Es wurde an Land gekämpft und auf dem Meer. Abwechselnd war alle Hoffnung vergebens, oder sie standen kurz vor der Rettung. Aber eines war zweifelsfrei offensichtlich. Unter ihnen, rund um den Burggraben des Agrionts, ließen die Gurkhisen in ihren Bemühungen nicht nach.
Ein Hagel von Flachbogenbolzen fuhr immer wieder auf den Platz vor dem Tor herab, aber für jeden toten Gurkhisen, den die Salven forderten, und für jeden Verwundeten, der beiseite gezerrt wurde, kotzten die brennenden Gebäude fünf weitere aus, wie Bienen aus einem aufgebrochenen Bienenstock. Die Soldaten schwärmten zu Hunderten herbei und umschlossen den gesamten Agriont mit einem erstarkenden Ring aus Männern und Stahl. Sie verschanzten sich hinter Schutzwänden aus Holz und schickten von dort aus ihre Pfeile zu den Zinnen empor. Das Schlagen der Trommeln war stetig lauter geworden und dröhnte nun durch die ganze Stadt. Als Jezal durch sein Fernglas blickte, das er unter Auferbietung aller Muskelspannung gerade hielt, ohne zu schwanken, entdeckte er im Gewimmel dort unten überall seltsame Gestalten.
Groß gewachsen und elegant, in perlweiße Rüstungen gekleidet, die mit schimmerndem Gold verbrämt waren, bewegten sie sich zwischen den gurkhisischen Soldaten, deuteten hierhin und dorthin, gaben Befehle oder zeigten Richtungen an. Oft deuteten sie nun auf die Brücke, die zum Westtor des Agrionts führte. Dunkle Gedanken nagten an Jezal. Khaluls Hundert Worte? Auferstanden aus den Schatten der Geschichte, um den Ersten der Magi der Gerechtigkeit zu übergeben?
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie bereiten einen Angriff vor.«
»Es gibt keinen Grund zur Besorgnis«, krächzte Varuz. »Unsere Verteidigungsanlagen sind unüberwindlich.« Seine Stimme bebte und brach schließlich beim letzten Wort ganz, was nicht dazu beitrug, die Anwesenden tatsächlich zu beruhigen. Vor nur wenigen kurzen Wochen hätte niemand auch nur darüber nachdenken wollen, dass der Agriont je fallen könnte. Aber es hätte sich auch niemand träumen lassen, dass er von Legionen gurkhisischer Soldaten umringt sein würde. Ganz offensichtlich hatten sich die Regeln geändert. Eine tiefe Hörnerfanfare erscholl.
»Da unten«, murmelte ein Stabsoffizier.
Jezal sah durch sein Fernglas zu der angedeuteten Stelle. Man hatte einen großen Karren durch die Straßen gezogen, wie ein hölzernes Haus auf Rädern, das mit zerbeulten Metallplatten bedeckt war. Auch jetzt noch schoben gurkhisische Soldaten unter Aufsicht zweier Männer in weißer Rüstung Fässer dort hinein.
»Sprengpulver«, sagte jemand wenig hilfreich.
Jezal spürte Marovias Hand auf seinem Arm. »Euer Majestät, es wäre vielleicht am besten, wenn Sie sich nun zurückziehen würden.«
»Und wenn ich hier nicht sicher bin? Wo wäre ich das denn überhaupt, was schlagen Sie vor?«
»Marschall West wird uns sicher bald retten, davon bin ich überzeugt. Aber in der Zwischenzeit ist der Palast der sicherste Ort. Ich werde Sie begleiten.« Er lächelte entschuldigend. »In meinem Alter bin ich hier auf den Zinnen ohnehin zu nichts nütze.«
Gorst deutete mit seiner behandschuhten Hand zur Treppe. »Hier
entlang.«
»Hier entlang«, knurrte Glokta, der, so schnell er konnte, durch die Halle humpelte. Cosca folgte ihm. Klack, klick, Schmerz.
Nur ein Sekretär war vor den Diensträumen des Kronrichters verblieben, und er sah sie missbilligend über seine funkelnde Brille hinweg an. Der Rest hat sich zweifelsohne in schlecht sitzende Rüstungen gestürzt und bemannt unsere Mauern. Oder, wahrscheinlicher noch, hat sich im Keller eingeschlossen. Ich wünschte, ich wäre bei ihnen.
»Ich bedauere, aber Seine Gnaden sind beschäftigt.«
»Oh, mich wird er schon zu sprechen wünschen, machen Sie sich keine Sorgen.« Glokta blieb gar nicht erst stehen, sondern hinkte gleich an dem Mann vorbei, legte die Hand auf den Messingtürgriff zu Marovias Diensträumen und wäre beinahe überrascht zurückgezuckt. Das Metall war eiskalt. Kalt wie die Hölle. Er drehte den Knauf mit den Fingerspitzen und öffnete die Tür einen Spalt breit. Ein frostig weißer Hauch zog in die Halle, wie der eisige Nebel, der im tiefsten Winter über den schneeigen Tälern von Angland lag.
Im Raum dahinter war es eiskalt. Die schweren Holzmöbel, die alte Eichenvertäfelung, die schmierigen Fensterscheiben waren sämtlich mit weißem Reif überzogen. Die Papierstapel trugen einen weißen Pelz. Eine Weinflasche auf dem Tisch an der Tür war zersprungen und hatte einen flaschenförmigen, hellroten Eisblock und ein paar funkelnde Splitter hinterlassen.
»Was, zur Hölle ...« Gloktas Atem stieg weiß vor seinen schmerzenden Lippen auf. Geheimnisvolle Gegenstände lagen in dem winterlichen Zimmer verstreut. Ein langer, gewundener schwarzer Schlauch war an der Wandvertäfelung festgefroren, wie ein Strang Würstchen im Schnee. Es gab Brocken schwarzen Eises auf den Büchern, auf dem Schreibtisch, auf dem knirschenden Teppich. Rosafarbene Stückchen klebten an der Decke, lange weiße Splitter am Boden ...
Menschliche Überreste?
Ein großes Stück eisigen Fleisches, zum Teil ebenfalls von Reif überzogen, lag mitten auf dem Schreibtisch. Glokta drehte den Kopf zur Seite, um es besser sehen zu können. Ein Mund war zu erkennen, in dem noch ein paar Zähne steckten, ein Ohr, ein Auge. Ein paar Strähnen eines langen Barts. Es genügte, damit Glokta schließlich erkannte, wessen Körperteile so freigiebig in dem frostkalten Zimmer verteilt lagen. Natürlich die meiner letzten Hoffnung, meines letzten Verehrers: Kronrichter Marovia.
Cosca räusperte sich. »So wie’s aussieht, ist an den Behauptungen Ihres Freundes Silber wohl was dran.«
Eine Untertreibung teuflischen Ausmaßes. Glokta fühlte, wie sich die Muskeln rund um sein linkes Auge schmerzhaft heftig zusammenzogen. Der Sekretär kam hinter ihnen an die Tür gewuselt, sah hindurch, keuchte und wandte sich ab. Glokta hörte, dass er sich draußen geräuschvoll übergab. »Ich bezweifle, dass uns der Kronrichter seine Unterstützung anbieten wird.«
»Das stimmt wohl. Aber ist es nicht sowieso schon ein bisschen spät für Ihre Geständnisse und den ganzen Kram?« Cosca deutete auf die Fenster, die mit gefrorenem Blut bespritzt waren. »Die Gurkhisen kommen, schon vergessen? Wenn Sie hier noch ein paar Rechnungen zu begleichen haben, dann beeilen Sie sich lieber, bevor unsere kantesischen Freunde alle Schuldscheine zerreißen. Wenn Pläne scheitern, dann muss man schnell handeln, oder, Herr Superior?« Er griff hinter seinen Kopf, löste die Schnallen seiner Maske und ließ sie zu Boden fallen. »Zeit, dem Feind offen ins Gesicht zu lachen! Alles auf eine Karte zu setzen! Die Trümmer können Sie später auflesen. Wenn die Bruchstücke dann nicht mehr zusammenpassen, tja, was soll’s? Morgen leben wir vielleicht alle schon in einer anderen Welt.«
Oder sterben in einer. Es ist nicht die Vorgehensweise, die wir bevorzugt hätten, aber er hat recht. Vielleicht können wir uns ein letztes Scheibchen von Oberst Gloktas Schneid ausleihen, bevor das Spiel vorbei ist? »Ich hoffe, ich kann noch immer auf Ihre Hilfe zählen?«
Cosca klopfte ihm auf die Schulter und schickte ein schmerzvolles Erschauern über seinen verdrehten Rücken. »Ein ehrenvolles letztes Aufbäumen, obwohl alle Zeichen gegen uns stehen? Natürlich! Obwohl ich erwähnen sollte, dass ich normalerweise den doppelten Preis verlange, sobald dämonische Künste mit im Spiel sind.«
»Wie wäre es mit dem dreifachen?« Valint und Balk haben schließlich tiefe Taschen.
Coscas Grinsen wurde noch breiter. »Hört sich gut an.« »Und Ihre Leute? Sind sie verlässlich?«
»Sie warten immer noch auf vier Fünftel ihres Solds. Solange sie ihn noch nicht erhalten haben, würde ich jedem von ihnen mein Leben anvertrauen.«
»Gut. Dann sind wir vorbereitet.« Glokta bewegte den schmerzenden Fuß im Stiefel hin und her. Nur noch ein kleines Stückchen weiter, meine zehenlose Schönheit. Nur noch ein paar bebende Schritte, und dann können wir ruhen, auf die eine oder andere Weise. Er öffnete die Finger und ließ Goyles Geständnis auf den frostharten Boden schweben. »Dann auf zur Universität! Seine Eminenz hat es noch nie geschätzt, wenn man ihn warten lässt.«