ALTE MÄNNER
Die hohen Fenster waren weit geöffnet und ließen eine gnädige Brise in den großzügigen Salon strömen. Sie bedachte Jezals verschwitztes Gesicht hin und wieder mit ihrem kühlenden Kuss und brachte die riesigen, uralten Wandbehänge zum Flattern und Rascheln. Alles in diesem Raum war übergroß – die schluchtenartigen Türen waren drei Manneslängen hoch, und die bemalte Decke, auf der sich die Völker der Welt vor einer riesigen Sonne verneigten, war noch zweimal höher. Die flächigen Gemälde an den Wänden zeigten lebensgroße Figuren in verschiedenen herrschaftlichen Posen, und ihre kriegerischen Gesichter erschreckten Jezal immer wieder, sobald er sich umwandte.
Es war ein Raum für große Männer, für weise Männer, für epische Helden oder mächtige Schurken. Ein Raum für Riesen. Jezal fühlte sich darin wie ein winziger, magerer, dummer Narr.
»Ihr Arm, wenn ich Sie daran erinnern darf, Euer Majestät«, hauchte einer der Schneider, dem es irgendwie gelang, Jezal Befehle zu geben und dennoch fürchterlich speichelleckerisch zu klingen.
»Ja, natürlich ... tut mir leid.« Jezal hob den Arm ein wenig und verfluchte sich dafür, dass er sich schon wieder entschuldigt hatte. Er war jetzt König, wie ihm Bayaz ständig sagte. Er hätte sich nicht einmal entschuldigen müssen, wenn er einen der Schneider aus dem Fenster geschubst hätte. Der Mann hätte ihm vermutlich überschwänglich gedankt, während er dem Boden entgegenstürzte. So aber lächelte er nur hölzern und rollte mit flinkem Griff sein Maßband aus. Sein Kollege hatte sich hingekniet und veranstaltete irgendetwas Ähnliches rund um Jezals Knie. Der dritte hielt ihre Erkenntnisse peinlich genau in einem marmorierten Buch fest.
Jezal holte tief Luft und sah finster in den Spiegel. Ein unsicher wirkender junger Trottel mit einer Narbe am Kinn blickte aus dem Glas zurück, mit Stücken schimmernden Tuchs behängt, als sei er eine Schneiderpuppe. Er sah mehr wie eine Witzblattfigur denn wie ein König aus, und so fühlte er sich auch. Wie ein Witz, und er hätte auch gelacht, wenn nicht die Pointe so auf seine Kosten gegangen wäre.
»Vielleicht dann eher etwas nach der osprianischen Mode?« Der königliche Juwelenschmied schob vorsichtig eine weitere unsinnige Holzattrappe auf Jezals Kopf und prüfte das Resultat. Es war alles andere als eine Verbesserung. Das verdammte Ding sah aus wie ein auf dem Kopf stehender Kronleuchter.
»Nein, nein!«, bellte Bayaz leicht gereizt. »Viel zu überkandidelt, viel zu durchdacht, viel zu groß. Er wird mit dem Teil kaum aufrecht stehen können! Es muss ehrlich aussehen, schlicht und leicht. Etwas, mit dem ein Mann auch kämpfen könnte!«
Der königliche Juwelenschmied blinzelte. »Er wird mit der Krone auf dem Kopf kämpfen?«
»Nein, Sie Vollidiot! Aber er muss so aussehen, als könnte er es!« Bayaz trat hinter Jezal, riss das Holzmodell von seinem Kopf und warf es klappernd auf den polierten Fußboden. Dann packte er Jezal an den Armen und starrte seinem Spiegelbild über Jezals Schulter hinweg grimmig entgegen. »Er ist ein Kriegerkönig nach der alten Art! Der leibliche Erbe des Königreichs von Harod dem Großen! Ein unvergleichlicher Fechter, der Wunden geschlagen und sie auch empfangen hat, der seine Truppen zum Sieg führte und viele Dutzend Männer getötet hat!«
»Viele Dutzend?«, raunte Jezal unsicher.
Bayaz überhörte ihn. »Ein Mann, der mit Sattel und Schwert ebenso vertraut ist wie mit Thron und Zepter! Seine Krone muss zu einer Rüstung passen. Zu Waffen. Zu Stahl. Haben Sie jetzt verstanden?«
Der Juwelenschmied nickte langsam. »Ich denke, hoher Herr.«
»Gut. Und noch etwas.«
»Der Herr braucht es nur zu nennen.«
»Setzen Sie einen riesengroßen Diamanten drauf.«
Der Schmied neigte unterwürfig den Kopf. »Das versteht sich von selbst.«
»Und jetzt raus. Sie alle! Seine Majestät muss sich den Staatsgeschäften widmen.«
Das Buch wurde zugeschlagen, die Maßbänder schnellstens eingerollt und die Stoffe hastig zur Seite gelegt. Die Schneider und der königliche Juwelenschmied gingen rückwärts und sich verneigend unter diensteifrigem Gemurmel aus dem Raum und zogen die riesige, mit vergoldeten Verzierungen versehene Tür geräuschlos hinter sich zu. Jezal musste sich davon abhalten, um nicht mit ihnen zu gehen. Immer wieder vergaß er, dass er jetzt die Majestät war.
»Ich habe Staatsgeschäfte zu erledigen?«, fragte er, wandte sich vom Spiegel ab und gab sein Bestes, um gelassen und gebieterisch zu klingen.
Bayaz trieb ihn vor sich her bis auf den großen Flur, dessen Wände mit wunderschön gezeichneten Landkarten der Union geschmückt waren. »Sie haben Geschäfte mit Ihrem Geschlossenen Rat.«
Jezal schluckte. Schon allein der Name dieser Institution schüchterte ihn ein. In Marmorsälen herumzustehen, sich neue Kleider anpassen zu lassen, Eure Majestät genannt zu werden, das alles war ja ganz lustig, und es erforderte von ihm auch kaum großen Einsatz. Nun aber erwartete man, dass er im Herzen der Regierung Platz nahm. Jezal dan Luthar, der einst für seine überwältigende Unwissenheit gerühmt worden war, sollte einen Raum mit den zwölf mächtigsten Männern der Union teilen. Man würde von ihm verlangen, dass er Entscheidungen fällte, die das Leben Tausender von Menschen beeinflussen würden. Er würde auf der politischen, juristischen und diplomatischen Bühne bestehen müssen, wo er sich doch eigentlich wirklich nur im Fechten, Trinken und Herumpoussieren gut auskannte, und er musste sich eingestehen, dass er zumindest in diesem letzten Bereich auch nicht der Experte war, für den er sich lange gehalten hatte.
»Mit dem Geschlossenen Rat?« Seine Stimme ging eine Oktave nach oben und klang mehr nach einem kleinen Mädchen als nach einem König. Jezal musste sich räuspern. »Gibt es Dinge von besonderer Wichtigkeit?«, knurrte er dann in wenig überzeugendem Bass.
»Heute kamen äußerst entscheidende Nachrichten aus dem Norden.«
»Tatsächlich?«
»Lord Marschall Burr ist tot. Bedauerlicherweise. Das Heer braucht einen neuen Befehlshaber. Die Diskussion darüber wird vermutlich einige Stunden dauern. Hier entlang, Euer Majestät.«
»Einige Stunden?«, murmelte Jezal, dessen Stiefelabsätze die breiten Marmorstufen hinunterklapperten. Stunden in der Gesellschaft des Geschlossenen Rates. Nervös massierte er seine Hände.
Bayaz schien seine Gedanken zu erraten. »Sie müssen vor den alten Wölfen keine Angst haben. Sie sind ihr Herr, was auch immer sie inzwischen zu glauben scheinen. Jederzeit können Sie diese Männer ersetzen oder sie in Eisen schlagen lassen, falls Sie das wünschen sollten. Vielleicht haben sie das vergessen. Es könnte sein, dass wir sie beizeiten daran erinnern sollten.«
Sie traten durch ein hohes Tor, das von Rittern der Wacht flankiert war, die ihre Helme zwar unter dem Arm trugen, aber so sorgsam ausdruckslos nach vorn blickten, dass sie ihre Gesichter genauso gut hinter einem geschlossenen Visier hätten verstecken können. Dahinter lag ein offener Garten, der auf allen vier Seiten von einem schattigen Kreuzgang eingefasst wurde, dessen weiße Marmorsäulen wie belaubte Bäume gestaltet worden waren. Wasser sprudelte aus Springbrunnen hervor und funkelte im hellen Sonnenlicht. Zwei riesengroße, orangefarbene Vögel mit zweigdünnen Beinen und halbrunden Schnäbeln stolzierten selbstgefällig über einen perfekt geschnittenen Rasen. Sie starrten Jezal hochmütig an und bezweifelten offenbar ebenso wenig wie er selbst, dass er nichts als ein erbärmlicher Hochstapler war.
Er sah mit leerem Blick auf die bunten Blumen und das leuchtende Grün und die schönen Statuen. Er starrte zu den uralten Mauern empor, die mit roten, weißen und grünen Kletterpflanzen bewachsen waren. Konnte all dies wirklich ihm gehören? All dies, und dann auch noch der ganze Agriont? Wandelte er nun tatsächlich in den mächtigen Fußstapfen der alten Könige? Harod, Kasamir oder Arnault? Es brachte ihn völlig durcheinander. Jezal musste die Augen zukneifen und den Kopf schütteln, wie er es schon hundert Mal an diesem Tag getan hatte, schlicht um zu vermeiden, dass er vor Verwirrung einfach umfiel. War er nicht derselbe Mann wie noch letzte Woche? Derselbe Mann, der auf der großen Ebene im Regen durchgeweicht war, der zwischen den Steinen verwundet worden war, der halbgares Pferdefleisch gegessen hatte und froh darüber gewesen war, dass es so etwas überhaupt gab?
Jezal räusperte sich. »Ich würde sehr gern ... ich weiß nicht, ob das möglich wäre ... mit meinem Vater sprechen?«
»Ihr Vater ist tot.«
Jezal verfluchte sich innerlich. »Ja, natürlich ist er das, doch ich meinte ... den Mann, den ich für meinen Vater gehalten habe.«
»Was glauben Sie, was er Ihnen sagen würde? Dass er einige schlechte Entscheidungen gefällt hat? Dass er Schulden hatte? Dass er Geld von mir dafür annahm, dass er Sie aufzog?«
»Er hat Geld angenommen?«, fragte Jezal unsicher und fühlte sich noch verlorener als zuvor.
»Nur selten nimmt eine Familie ein Waisenkind rein aus Güte bei sich auf, noch nicht einmal, wenn es sich um ein besonders niedliches Gör handelt. Die Schulden wurden bezahlt, und nicht nur das. Ich gab die Anweisung, dass Sie Fechtunterricht bekommen sollten, sobald Sie ein Eisen würden halten können. Dass man Ihnen ein Patent bei den Königstreuen kaufen würde und Sie ermutigte, am Turnier im Sommer teilzunehmen. Dass man Sie gut auf diesen Tag vorbereiten sollte, falls er denn einmal käme. Er hat meine Anweisungen genauestens befolgt. Aber Sie verstehen doch sicherlich, dass ein Treffen mit ihm für Sie beide eine äußerst peinliche Szene würde. Eine Szene, die man besser vermeiden sollte.«
Jezal stieß einen abgehackten Seufzer aus. »Natürlich. Die man besser vermeiden sollte.« Ein unangenehmer Gedanke rührte sich in seinem Kopf. »Lautet ... lautet mein Name überhaupt Jezal?«
»Das tut er jetzt, da man Sie gekrönt hat.« Bayaz hob eine Braue. »Wieso? Hätten Sie lieber einen anderen?«
»Nein. Nein, natürlich nicht.« Er wandte den Kopf zur Seite und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Sein altes Leben war eine Lüge gewesen. Sein neues fühlte sich noch viel mehr danach an. Selbst sein Name war eine Erfindung. Sie schritten für kurze Zeit schweigend durch die Gärten, ihre Schritte knirschten auf dem Kies, der so frisch und vollkommen vor ihnen lag, dass Jezal sich fragte, ob jeder Stein Tag für Tag von Hand gereinigt wurde.
»Lord Ischer wird in den kommenden Wochen eine Reihe von Eingaben bei Eurer Majestät machen.«
»Wird er das?« Jezal hustete und schniefte, dann setzte er ein möglichst tapferes Gesicht auf. »Warum?«
»Weil ich ihm versprach, dass seine beiden Brüder zum Schatzmeister beziehungsweise zum Lordkanzler im Geschlossenen Rat ernannt werden würden. Dass seine Familie allen anderen vorgezogen würde. Dass war der Preis für seine Unterstützung bei der Wahl.«
»Ich verstehe. Dann sollte ich mich also an diese Vereinbarung halten?«
»Auf keinen Fall.«
Jezal runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob ich ...«
»Nach der Machtübernahme sollte man sich sofort von allen Verbündeten distanzieren. Sie bekommen sonst das Gefühl, Ihr Sieg sei ihnen zu verdanken, und sie wären durch keinerlei Auszeichnungen zufriedenzustellen. Sie sollten stattdessen Ihre Feinde bedenken. Die werden sich auch über kleine Gefälligkeiten freuen, weil sie wissen, dass sie unverdient sind. Heugen, Barezin, Skald, Meed – diese Männer sollten Sie in Ihren Kreis holen.«
»Nicht Brock?«
»Niemals. Er kam der Krone selbst zu nahe, um je wieder damit zufrieden zu sein, ihr zu dienen. Man muss ihn früher oder später wieder in seine Schranken weisen. Aber erst, wenn Sie sicher im Sattel sitzen und große Unterstützung haben.«
»Ich verstehe.« Jezal blies die Backen auf. Offenbar bestand die Königswürde doch nicht nur in schönen Kleidern, einer hochfahrenden Art und dem Recht auf den größten Sessel.
»Hier entlang.« Sie verließen den Garten und betraten einen halbdunklen Korridor, der mit schwarzem Holz verkleidet und mit so vielen uralten Waffen geschmückt war, dass man darüber nur den Kopf schütteln konnte. Ganze Ritterrüstungen hielten schimmernd Wache: Panzer und Kettenhemd, Hauberge und Kürass, allesamt mit der goldenen Sonne der Union geprägt. Paradeschwerter, mannshoch, und beträchtlich größere Hellebarden waren in beeindruckender Folge an der Wand befestigt. Unter ihnen hingen genügend Äxte, Streitkolben, Morgensterne und gebogene oder gerade Klingen, lang und kurz, dick und dünn, dass man ein ganzes Heer damit hätte ausstatten können. Waffen, die innerhalb der Union gefertigt, von den Gurkhisen erobert oder styrischen Toten auf blutigen Schlachtfeldern gestohlen worden waren. Siege und Niederlagen, festgehalten in Stahl. Flaggen vergessener Regimenter, die ruhmreich in längst vergangenen Kriegen bis auf den letzten Mann niedergemetzelt worden waren, hingen weiter oben zerfetzt und leblos von verkohlten Stangen.
Eine schwere zweiflügelige Tür dräute am Ende dieser Sammlung, schwarz und ohne Schmuck und so einladend wie eine Richtstätte. Heroldsritter standen auf beiden Seiten still wie Henker, und ihre geflügelten Helme schimmerten. Männer, die nicht nur das Herz der Regierung bewachten, sondern auch damit betraut wurden, die Befehle des Königs in jeden Winkel der Union zu tragen, wo auch immer sie vonnöten waren. Seine Befehle, wie Jezal mit einem neuerlichen nervösen Erschrecken erkannte.
»Seine Majestät bittet um Audienz beim Geschlossenen Rat«, tönte Bayaz. Die beiden Männer streckten die Arme aus und zogen die schweren Türen auf. Eine zornige Stimme klang auf den Korridor hinaus. »Es muss weitere Zugeständnisse geben, sonst kommt es nur zu neuen Aufständen! Wir können nicht einfach ...«
»Herr Kronrichter, ich glaube, wir haben Besuch.«
Der Weiße Saal war nach dem Pomp des übrigen Palasts geradezu enttäuschend. Er war nicht besonders groß. Die schlichten weißen Wände trugen keinen Schmuck. Die Fenster waren klein und verliehen dem Raum beinahe die Atmosphäre einer Zelle, in der es selbst bei Sonnenschein leicht düster blieb. Kein Windhauch strich durch die unangenehm stickige und verbrauchte Luft. Möbliert war dieser Saal lediglich mit einem langen Tisch aus dunklem Holz, auf dem sich hohe Papierstapel türmten, sechs einfachen, harten Stühlen auf jeder Seite, einem an der kurzen Fußseite und einem weiteren mit wesentlich höherer Lehne an der Stirnseite. Jezals eigener Platz, wie er annahm.
Der Geschlossene Rat erhob sich, als er zögernd in den Saal schlich. Eine furchterregendere Versammlung alter Männer hätte man kaum finden können, und jeder von ihnen starrte Jezal in erwartungsvollem Schweigen an. Er zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm wieder geschlossen wurde und der Riegel mit beängstigender Endgültigkeit nach unten fiel.
»Euer Majestät.« Lord Schatzmeister Hoff verneigte sich tief. »Dürfen meine Kollegen und ich Ihnen als Erstes zu der wohlverdienten Erhebung auf den Thron gratulieren. Wir sind überzeugt, dass wir in Ihnen einen würdigen Nachfolger für König Guslav haben werden, und freuen uns darauf, Sie in den kommenden Monaten und Jahren zu beraten und Ihre Befehle auszuführen.« Er verneigte sich erneut, und die Versammlung herausragender alter Männer rührte in höflichem Applaus die Hände.
»Nun, ich danke Ihnen allen«, sagte Jezal angenehm überrascht, auch wenn er das Gefühl hatte, für gar nichts ein würdiger Nachfolger zu sein. Vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden, wie er befürchtet hatte. Zumindest erschienen ihm die alten Wölfe im Augenblick recht zahm.
»Erlauben Sie mir, Ihnen unsere Runde vorzustellen«, raunte Hoff. »Erzlektor Sult, Leiter Ihrer Inquisition.«
»Es ist mir eine Ehre, Ihnen zu dienen, Euer Majestät.« »Kronrichter Marovia, der oberste Gesetzeshüter.« »Desgleichen, Euer Majestät, es ist mir eine Ehre.«
»Mit Lord Marschall Varuz sind Sie, wie ich glaube, bereits bekannt.«
Der alte Soldat strahlte. »Es war eine Ehre, Sie in der Vergangenheit ausbilden zu dürfen, Euer Majestät, und es wird mir jetzt eine Ehre sein, Sie zu beraten.«
Und so ging es weiter. Jezal nickte und lächelte jedem Mann der Reihe nach zu. Halleck, dem Lordkanzler. Torlichorm, dem Großkonsul. Reutzer, dem Lord Admiral der Flotte, und so weiter und so weiter. Endlich führte ihn Hoff dann zu dem großen Stuhl am Kopf des Tisches, und Jezal nahm dort Platz, während der Geschlossene Rat weiter lächelte. Er grinste kurz idiotisch zurück, und dann begriff er. »Oh, setzen Sie sich doch bitte.«
Die alten Männer setzten sich, und ein paar von ihnen verzogen vor Schmerz ein wenig die Gesichter, als die alten Knie knackten und es im Rücken zwickte. Bayaz rutschte lässig in den Stuhl am anderen Ende des Tisches, Jezal gegenüber, als habe er diesen Platz sein Leben lang innegehabt. Staatsgewänder raschelten, als die alten Hinterteile auf dem polierten Holz zurechtgerückt wurden, und nach und nach wurde es im Saal so still wie in einem Grab. Ein Stuhl neben Varuz war leer. Der Stuhl, auf dem Lord Marschall Burr gesessen hätte. Wenn er nicht tot gewesen wäre. Ein Dutzend einschüchternder alter Männer wartete darauf, dass Jezal etwas sagte. Ein Dutzend alter Männer, von denen er bis vor kurzem noch gedacht hatte, dass sie alle Macht in Händen hielten, und die ihm nun Rede und Antwort stehen mussten. Eine Lage, die er sich selbst in seinen kühnsten, selbstverliebtesten Träumen nicht hätte vorstellen können. Er räusperte sich.
»Bitte, meine Herren, fahren Sie fort. Ich werde versuchen, mich im weiteren Verlauf der Besprechung hineinzufinden.«
Hoff lächelte unterwürfig. »Natürlich, Euer Majestät. Wenn Sie einer Erklärung bedürfen, dann müssen Sie nur fragen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Jezal, »vielen ...«
Hallecks schneidende Stimme unterbrach ihn. »Also kehren wir zu den Bauern und ihrer Haltung zurück.«
»Wir haben bereits Zugeständnisse gemacht!«, blaffte Sult. »Zugeständnisse, die von den Bauern ohne weiteres angenommen wurden.«
»Ein Fetzen Verband über einer eiternden Wunde!«, widersprach Marovia. »Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis der nächste Aufstand losbricht. Das können wir nur verhindern, indem wir dem gemeinen Mann das geben, was er braucht. Nicht mehr, als die Gerechtigkeit gebietet! Wir müssen ihn an der Regierung beteiligen.«
»Beteiligen!«, höhnte Sult.
»Wir müssen die Steuerlast auf die Landbesitzer übertragen!«
Halleck verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder dieser Blödsinn!«
»Unser jetziges System hat sich jahrhundertelang bewährt!«, bellte Sult.
»Es ist seit Jahrhunderten gescheitert!«, schoss Marovia zurück.
Jezal räusperte sich, und die Köpfe der alten Männer fuhren ruckartig zu ihm herum. »Könnte nicht einfach jeder Mann im Verhältnis zu seinem Einkommen besteuert werden, egal, ob er nun Bauer ist oder Edelmann ... und dann, vielleicht ...« Seine Stimme verebbte. Es war ihm als eine ganz einfache Idee erschienen, aber nun starrten ihn diese elf Schreibtischtäter so entrüstet an, als habe man unbedachterweise ein Haustier ins Zimmer gelassen, das sich plötzlich erdreistete, etwas zum Thema Besteuerung zu sagen. Am anderen Ende des Tisches betrachtete Bayaz seine Fingernägel. Auch von ihm war keine Hilfe zu erwarten.
»Oh, Euer Majestät«, schnurrte Torlichorm mit beschwichtigender Stimme, »ein solches System wäre von der Verwaltung her so gut wie unmöglich.« Und dann blinzelte er ihn auf eine Weise an, als wollte er sagen: »Wie gelingt es Ihnen bei Ihrer unglaublichen Ignoranz überhaupt, sich allein anzukleiden?«
Jezal wurde rot bis zu den Ohren. »Ich verstehe.«
»Die Besteuerung«, dröhnte Halleck, »ist ein unglaublich komplexes Thema.« Damit warf er Jezal einen Blick zu, der ihm bedeutete: »Viel zu komplex, als dass es in Ihrem winzigen Hirn Platz hätte.«
»Es wäre vielleicht besser, Euer Majestät, wenn Sie die langweiligen Einzelfragen Ihren ergebenen Dienern überlassen würden.« Marovia zeigte ein verständnisvolles Lächeln, das sagen wollte: »Es wäre vielleicht besser, wenn Sie die Klappe halten und es unterlassen würden, die Erwachsenen in Verlegenheit zu bringen.«
»Natürlich.« Jezal sank beschämt auf seinem Stuhl zusammen. »Natürlich.«
Und so ging es weiter, während der Morgen voranschritt und die Lichtflecken der Fenster langsam über die Papierstapel auf dem großen Tisch wanderten. Allmählich begriff Jezal die Regeln, nach denen gespielt wurde. Sie waren schrecklich kompliziert und gleichzeitig erschreckend einfach. Die alternden Kontrahenten teilten sich in zwei Mannschaften. Erzlektor Sult und Kronrichter Marovia waren die Mannschaftskapitäne, die sich bei jedem Thema entschieden widersprachen, egal, wie unwichtig es war, und sie hatten jeweils drei Parteigänger, die jeder ihrer Äußerungen zustimmten. Lord Hoff spielte währenddessen die Rolle des Schiedsrichters, worin ihm Lord Marschall Varuz wenig erfolgreich zur Seite stand, und gab sich alle Mühe, die unüberwindliche Kluft zwischen den beiden verfeindeten Lagern zu überbrücken.
Jezal hatte irrtümlich angenommen, dass er gar nicht wüsste, was er sagen sollte, wobei das natürlich auch stimmte. Der Fehler war jedoch gewesen, dass er geglaubt hatte, es sei erwünscht, dass er etwas sagte. Die Anwesenden waren jedoch lediglich daran interessiert, ihre eigenen sinnlosen Grabenkämpfe weiter auszutragen. Sie hatten sich vermutlich längst daran gewöhnt, die Staatsgeschäfte mit einem sabbernden Halbidioten am Tisch zu führen. Jezal verstand: Sie gingen davon aus, er sei nicht anders als sein Vorgänger. Und er fragte sich allmählich, ob sie damit vielleicht recht hatten.
»Wenn Euer Majestät bitte hier unterschreiben würde ... und hier ... und hier ... und dort ...«
Die Feder kratzte über ein Papier nach dem anderen, die alten Stimmen salbaderten weiter, verkündeten ihre Standpunkte, stritten miteinander. Die grauen Männer lächelten und seufzten und schüttelten nachsichtig den Kopf, wenn er sprach, und daher sagte er allmählich immer weniger. Sie überrannten ihn mit Lob und blendeten ihn mit Erklärungen. Sie fesselten ihn stundenlang mit nichtssagenden Gesetzen, Formalien und Traditionen. Er wurde immer kleiner und kleiner auf seinem unbequemen Stuhl. Ein Diener brachte Wein, und er trank, nein, er betrank sich, langweilte sich und wurde immer betrunkener und gelangweilter. Eine Minute nach der anderen verging, quälend langsam, und Jezal erkannte: Wenn man zu den kleinsten Einzelheiten durchgedrungen ist, gibt es nichts Langweiligeres als die unbeschränkte Macht.
»Und nun zu einer traurigen Angelegenheit«, erklärte Hoff, nachdem die letzte Auseinandersetzung in einem zögerlichen Kompromiss verpufft war. »Unser Kollege, Lord Marschall Burr, ist tot. Sein Leichnam wird derzeit aus dem Norden zurück zu uns gebracht, und er wird mit allen Ehren bestattet werden. In der Zwischenzeit ist es jedoch unsere Pflicht, eine Empfehlung bezüglich seiner Nachfolge auszusprechen. Es ist der erste Sitz, der seit dem Tod des geschätzten Lordkanzlers Feekt neu besetzt wird. Lord Marschall Varuz?«
Der alte Soldat räusperte sich und zog ein Gesicht, als wisse er, dass er im Begriff stand, eine Schleuse zu öffnen, deren Fluten sie alle ertränken konnte. »Es gibt zwei offensichtliche Bewerber für diesen Posten. Beide sind Männer, die sich durch Tapferkeit und Erfahrung eindeutig ausgezeichnet haben und deren Verdienste diesem Rat gut bekannt sind. Ich bin mir sicher, dass sich sowohl General Poulder als auch General Kroy bestens ...«
»Es besteht ja wohl kein Zweifel, dass Poulder der bessere Mann ist!«, unterbrach ihn Sult in abfälligem Ton, und Halleck pflichtete ihm sofort bei.
»Im Gegenteil!«, zischte Marovia, und sein Lager unterstützte ihn mit zornigem Gemurmel. »Ganz offensichtlich ist Kroy die bessere Wahl!«
Es handelte sich um ein Gebiet, bei dem Jezal glaubte, als Offizier mit gewisser Erfahrung durchaus etwas Sinnvolles beitragen zu können, aber kein einziges Mitglied des Geschlossenen Rates schien auf den Gedanken zu kommen, ihn um seine Meinung zu fragen. Er ließ sich missmutig gegen die Lehne seines Stuhles sinken und nahm wieder einen Schluck Wein aus seinem Kelch, während die alten Wölfe gehässig nacheinander schnappten.
»Vielleicht sollten wir diese Angelegenheit später ausführlich diskutieren!«, unterbrach Lord Hoff den zunehmend hitziger werdenden Streit. »Die feinen Einzelheiten ermüden Seine Majestät, und es besteht keine Dringlichkeit!« Sult und Marovia starrten einander an, sagten aber nichts. Hoff stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Nun denn. Unser nächster Punkt betrifft die Versorgung unseres Heeres in Angland. Oberst West schreibt in seinem Lagebericht ...«
»West?« Jezal richtete sich ruckartig auf, und seine Stimme war rau vom Wein. Der Name wirkte wie Riechsalz auf ein ohnmächtig werdendes Mädchen, er war wie ein fester und verlässlicher Fels, an dem man sich inmitten des ganzen Durcheinanders festklammern konnte. Wenn West nur hier gewesen wäre, um ihn zu unterstützen, dann hätte ihn das alles nicht so verwirrt. Er blickte auf den Stuhl, den Burr zurückgelassen hatte und der leer neben Varuz stand. Jezal war betrunken, schon möglich, aber er war König. Er räusperte sich, um wieder nüchterner zu klingen. »Oberst West soll mein neuer Lord Marschall sein!«
Verblüfftes Schweigen folgte. Die zwölf alten Männer starrten ihn an. Dann begann Torlichorm nachsichtig zu kichern, als wolle er sagen: »Na, wie bringen wir ihn denn nun am besten zum Schweigen?«
»Euer Majestät, Oberst West ist Ihnen persönlich bekannt und natürlich ein tapferer Mann ...«
Der ganze Rat hatte offenbar ein Thema gefunden, bei dem sich alle einig waren. »Der Erste, der die Bresche bei Ulrioch erstürmte«, murmelte Varuz kopfschüttelnd, »aber dennoch ...«
»Er ist zu jung und unerfahren und ...«
»Er ist ein Bürgerlicher«, sagte Hoff mit erhobenen Augenbrauen.
»Das wäre ein unangebrachter Bruch mit unseren Traditionen«, klagte Halleck.
»Poulder ist wesentlich ranghöher!«, fauchte Sult an Marovia gewandt.
»Kroy wäre der rechte Mann!«, bellte Marovia zurück.
Torlichorm lächelte zuckersüß, ähnlich wie eine Kinderfrau, die versucht, ein trotziges Kind zu beruhigen. »Sie sehen also, Euer Majestät, es geht nicht, wir können Oberst West unmöglich in Betracht ziehen ...«
Jezals leerer Kelch prallte mit lautem Krachen an Torlichorms kahle Stirn und flog klappernd in eine Ecke des Raumes. Der alte Mann heulte vor Schreck und Schmerz auf und rutschte von seinem Stuhl; aus einer langen Platzwunde rann ihm das Blut über das Gesicht.
»Es geht nicht?«, schrie Jezal, der aufgesprungen war, während ihm fast die Augen aus den Höhlen traten. »Sie wagen es, ›es geht nicht‹ zu sagen, Sie altes Arschloch? Sie alle sind mein, Sie alle!« Sein Finger fuchtelte wild durch die Luft. »Sie sind hier, um mich zu beraten, und nicht, um mir Vorschriften zu machen! Ich regiere hier! Ich!« Er schnappte sich ein Tintenfass und schleuderte es durch den Raum. Es zerschellte an der Wand, hinterließ einen großen schwarzen Fleck auf dem Putz und ließ dunkle Tropfen über den Ärmel von Erzlektor Sults schneeweißem Mantel regnen. »Ich! Ich! Die Tradition, die wir hier brauchen, ist die des Gehorsams!« Damit griff er nach einem Bündel Papiere und warf es nach Marovia, so dass die Blätter durch die Luft segelten. »Kommen Sie mir ja nie wieder mit ›es geht nicht‹! Nie wieder!«
Elf völlig sprachlose Augenpaare starrten Jezal an. Eines davon – das am Endes des Tisches – lächelte. Das machte ihn jedoch noch wütender. »Collem West wird mein neuer Lord Marschall!«, kreischte er und warf vor Zorn seinen Stuhl um. »Bei unserem nächsten Treffen erwarte ich, dass Sie mich mit dem nötigen Respekt behandeln, oder ich werde Sie alle in Ketten legen lassen! In Ketten, verdammt noch mal ... und ... und ...« Plötzlich überfiel ihn ein heftiger, gemeiner Kopfschmerz. Er hatte mit allem geworfen, was in seiner Reichweite stand, und war nun plötzlich unsicher, wie er weiter vorgehen sollte.
Bayaz erhob sich mit strengem Gesicht. »Meine Herren, das war alles für heute.«
Der Geschlossene Rat brauchte keine zweite Aufforderung. Papiere flatterten, Gewänder raschelten, Stühle quietschten, als jeder darum drängte, als Erster den Raum zu verlassen. Hoff gelangte in den Korridor, unmittelbar gefolgt von Marovia, und Sult rauschte hinterdrein. Varuz half Torlichorm vom Boden auf und führte ihn am Arm nach draußen. »Ich entschuldige mich«, keuchte der Großkonsul mit blutigem Gesicht, als Varuz ihn durch die Tür schob, »Euer Majestät, ich entschuldige mich in aller Form ...«
Bayaz stand streng am Ende des Tisches und sah den Ratsmitgliedern nach. Jezal verharrte wie gelähmt an seinem Platz ihm gegenüber, hin und her gerissen zwischen einem weiteren Zornesausbruch und dem Gefühl größter Scham, wobei die Scham allmählich überwog. Es schien ewig zu dauern, bis auch das letzte Ratsmitglied aus dem Raum geflohen war und sich die großen schwarzen Tore wieder schlossen.
Der Erste der Magi wandte sich Jezal zu, und ein breites Lächeln erschien plötzlich auf seinem Gesicht. »Gut gemacht, Euer Majestät, ausgezeichnet.«
»Was?« Jezal war sich sicher gewesen, dass er sich in solchen Maße zum Narren gemacht hatte, dass er sich nie wieder davon würde erholen können.
»Ihre Berater werden es sich nun zweimal überlegen, Sie nicht ernst zu nehmen, denke ich. Keine neue Strategie, aber doch immer wieder äußerst erfolgreich. Harod der Große selbst besaß ein höchst aufbrausendes Temperament und verstand es hervorragend einzusetzen. Nach einem seiner Wutanfälle wagte es wochenlang niemand, seine Entscheidungen in Frage zu stellen.« Bayaz kicherte. »Obwohl ich glaube, dass selbst Harod davor zurückgeschreckt wäre, seinen eigenen Großkonsul zu verletzen.«
»Das war kein Wutanfall!«, fauchte Jezal, dessen Jähzorn erneut aufflammte. Von den schrecklichen alten Männern, mit denen er geschlagen war, war Bayaz selbst ohne Frage der Schlimmste. »Wenn ich schon König bin, dann will ich auch so behandelt werden! Ich werde mir in meinem eigenen Palast keine Vorschriften machen lassen! Von niemandem ... von ... ich meine ...«
Bayaz erwiderte seinen finsteren Blick, und seine grünen Augen waren erschreckend hart, als er mit eisiger Ruhe sagte: »Wenn Sie beabsichtigen, auch mir gegenüber derart aufzubrausen, Euer Majestät, so würde ich Ihnen aufs Entschiedenste davon abraten.«
Jezals Wut war bereits fast verebbt, und unter dem eiskalten Blick des Magus schwand sie nun ganz. »Natürlich ... es tut mir leid ... es tut mir sehr leid.« Er schloss die Augen und starrte wie betäubt auf die polierte Tischplatte. Früher hatte er sich nie für irgendetwas entschuldigt. Jetzt, da er König war und sich vor niemandem mehr entschuldigen musste, konnte er plötzlich nicht mehr damit aufhören. »Ich habe das nicht gewollt«, murmelte er leise und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Ich habe nichts getan, um das zu verdienen.«
»Natürlich nicht.« Bayaz kam langsam um den Tisch herum. »Niemand kann sich den Thron je verdienen. Deshalb müssen Sie sich bemühen, sich ab jetzt seiner würdig zu erweisen. Jeden Tag. Ebenso wie Ihre großen Vorgänger. Kasamir, Arnault, Harod höchstselbst.«
Jezal holte tief Luft und atmete wieder aus. »Da haben Sie natürlich recht. Wieso haben Sie nur immer recht?«
Bayaz machte eine bescheidene Handbewegung. »Immer? Wohl kaum. Aber mir nützt meine große Erfahrung, die ich einsetzen werde, um Sie zu beraten, so gut ich kann. Sie haben die ersten Schritte auf diesem schweren Weg bereits mit Bravour gemeistert, und Sie sollten stolz auf sich sein, so wie auch ich stolz auf Sie bin. Es gibt jedoch einige Dinge, die keinen Aufschub dulden. An erster Stelle steht dabei Ihre Hochzeit.«
Jezal klappte die Kinnlade nach unten. »Hochzeit?«
»Ein unverheirateter König ist wie ein Stuhl mit drei Beinen, Euer Majestät. Er wird sehr leicht stürzen. Ihr Leib hat den Thron gerade eben erst berührt und sitzt noch lange nicht fest im Sattel. Sie brauchen eine Frau, die Ihnen Unterstützung bringt, und Sie brauchen Erben, damit Ihre Untertanen sich in Sicherheit wähnen. Jegliche Verzögerung eröffnet Ihren Feinden nur die Möglichkeit, gegen Sie zu arbeiten.«
Die Schläge kamen so schnell, dass Jezal sich an den Kopf griff, als wolle er verhindern, dass sein Schädel auseinanderfiel. »Meine Feinde?« Hatte er nicht stets versucht, mit Jedem gut auszukommen?
»Sind Sie wirklich so naiv? Lord Brock schmiedet mit Sicherheit schon ein Komplott gegen Sie. Lord Ischer wird sich auch nicht ewig abspeisen lassen. Andere im Offenen Rat haben Sie aus Angst unterstützt oder weil man sie dafür bezahlt hat.«
»Bezahlt?«, keuchte Jezal.
»Solche Unterstützung hält nicht ewig. Sie müssen heiraten, und Ihre Frau muss mächtige Verbündete mitbringen.«
»Aber ich habe ...« Jezal fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fragte sich, wie er das Thema am besten angehen sollte. »Ich habe bereits Verpflichtungen in dieser Hinsicht.«
»Ardee West?« Jezal hatte schon den Mund geöffnet, um Bayaz zu fragen, woher er über sein Liebesleben Bescheid wusste, besann sich dann aber schnell eines Besseren. Der alte Mann schien ihn weit besser zu kennen als er selbst. »Ich weiß, wie so etwas ist, Jezal. Ich habe ein langes Leben hinter mir. Natürlich lieben Sie diese Frau. Natürlich würden Sie alles für sie aufgeben, jetzt jedenfalls. Aber dieses Gefühl wird nicht von Dauer sein, glauben Sie mir.«
Jezal rührte sich unbehaglich. Er versuchte, sich Ardees schiefes Lächeln ins Gedächtnis zu rufen, ihr weiches Haar, ihr Lachen. So, wie er es draußen auf der Ebene getan hatte, als ihm die Erinnerung an sie so viel Trost bedeutet hatte. Aber nun fiel es ihm schwer, an sie zu denken, ohne dass ihm einfiel, wie sie ihre Zähne in seine Lippe geschlagen hatte, wie sein Gesicht nach ihrer Ohrfeige brannte und wie der Tisch unter ihnen gequietscht hatte. Das Gefühl von Scham und Schuld, die ganze verworrene Lage. Bayaz’ Stimme tönte weiter: gnadenlos ruhig, brutal realistisch, rücksichtslos vernünftig.
»Es ist ganz natürlich, dass Sie bereits Verpflichtungen haben, aber Ihr früheres Leben ist jetzt Vergangenheit, ebenso wie die Verpflichtungen, die Sie darin eingegangen sind. Sie sind nun König, und die Menschen verlangen, dass Sie sich auch so verhalten. Sie brauchen jemanden, zu dem sie aufsehen können. Jemanden, der sich mühelos über sie erhebt. Wir reden von der Hochkönigin der Union. Der Mutter von Königen. Eine Bauerntochter mit einem Hang zu unberechenbarem Verhalten, die dazu neigt, zu viel zu trinken? Wohl eher nicht.« Jezal verzog gequält das Gesicht, als er Ardee so beschrieben hörte und doch kaum etwas dagegen sagen konnte.
»Sie sind ein leiblicher Sohn Ihres Vaters. Aber eine Ehefrau von unanfechtbarer Herkunft würde Ihrer Linie ein weitaus größeres Gewicht verleihen. Und viel größeren Respekt. Die ganze Welt ist voller passender Gattinnen, Euer Majestät, von Frauen von hoher Geburt. Töchter von Herzögen und Schwestern von Königen, schön und kultiviert. Eine Welt voller Prinzessinnen, aus denen Sie sich eine aussuchen können.«
Jezal spürte, wie sich seine Augenbrauen hoben. Natürlich liebte er Ardee, aber Bayaz’ Argument war schrecklich stichhaltig. Es gab so viel mehr zu berücksichtigen als seine eigenen Bedürfnisse. Wenn es schon absurd war, sich selbst als König zu sehen – die Vorstellung von Ardee als Königin war noch verrückter. Er liebte sie, natürlich. Auf gewisse Weise. Aber wenn er sich aus einer ganzen Welt voller Prinzessinnen eine aussuchen konnte? An einem Satz wie diesem konnte man kaum etwas auszusetzen finden.
»Sie sehen es ein!« Der Erste der Magi schnippte triumphierend mit den Fingern. »Ich werde eine Nachricht an Herzog Orso von Talins schicken, damit er Ihnen seine Tochter Terez vorstellt.« Beschwichtigend hob er die Hand. »Nur für den Anfang, verstehen Sie. Talins wäre ein mächtiger Verbündeter.« Er lächelte und beugte sich vor, um Jezal ins Ohr zu flüstern: »Aber Sie müssen nicht alles hinter sich lassen, wenn Sie dieser jungen Frau tatsächlich so zugetan sind. Könige haben oft Mätressen, wissen Sie.«
Und damit war die Sache entschieden.