BLÄTTER AUF DEM WASSER
»Carleon«, sagte Logen. »Joh«, erwiderte Hundsmann. Dort lag es, an der Gabelung des Flusses, unter den drohenden Wolken. Scharfe Umrisse hoher Mauern und Türme hoch über der steilen Klippe jenseits des schnell fließenden Wassers, dort, wo früher einmal Skarlings Halle gestanden hatte. Schieferdächer und Häuser aus Stein drängten sich auf dem langen Abhang eng aneinander, bildeten ein Rund am Fuß des Hügels und waren mit einer weiteren Mauer umgeben. Der Regen, der gerade erst aufgehört hatte, verlieh all dem einen kalten, harten Glanz. Hundsmann konnte nicht sagen, ob er froh war, wieder hier zu sein. Bisher war es für ihn jedes Mal, wenn er hier aufgetaucht war, übel ausgegangen.
»Hat sich seit der Schlacht vor all den Jahren ganz schön verändert.« Logen sah an seiner ausgestreckten Hand herunter und wackelte mit dem Stummel seines fehlenden Fingers.
»Damals war es nicht von Mauern umgeben.«
»Nein. Allerdings auch nicht von Unionstruppen.«
Hundsmann konnte nicht leugnen, dass ihn dieser Umstand tatsächlich beruhigte. Die Wachposten der Union arbeiteten sich durch die verlassenen Felder rund um die Stadt, eine wackelige Line aus Erdwällen, Pfählen und Zäunen, hinter denen sich Männer bewegten, und das matte Sonnenlicht glänzte hier und da auf einem Stück Metall. Tausende von Männern, gut bewaffnet und rachelüstern, hatten Bethod hier festgesetzt.
»Bist du sicher, dass er da drin ist?«
»Wüsste nicht, wo er sonst sein könnte. Er hat den Großteil seiner besten Leute in den Bergen verloren. Ich denk mal, es sind keine weiteren Freunde mehr übrig.«
»Wir haben alle weniger als früher«, murmelte Hundsmann. »Ich würd sagen, wir bleiben hier eine Weile hocken. Schließlich haben wir Zeit. Jede Menge. Wir bleiben hier hocken und gucken dem Gras beim Wachsen zu und warten darauf, dass Bethod aufgibt.«
»Joh.« Aber Logen sah nicht so aus, als ob er daran glaubte.
»Joh«, sagte Hundsmann. Aufgeben klang auch für ihn so gar nicht nach dem Bethod, den er kannte.
Er wandte den Kopf, als er schnellen Hufschlag von der Straße her hörte. Einer von den Boten mit diesen Helmen, die wie ein empörtes Huhn aussahen, preschte von den Bäumen her auf Wests Zelt zu; sein Pferd war vom schnellen Ritt mit Schweiß bedeckt. Er zügelte es hastig und nervös, fiel in seiner Eile beim Absteigen fast aus dem Sattel, schritt dann unsicher vorbei an den Offizieren, die ihn anglotzten, und verschwand durch die Zelttür. Hundsmann spürte jenes vertraute sorgenvolle Ziehen in seinem Bauch. »Das schmeckt nach schlechten Nachrichten.«
»Was gibt’s auch sonst für welche?«
Dort unten brach nun Unruhe aus, Soldaten schrien und wedelten mit den Armen. »Am besten sehen wir mal nach, was los ist«, murmelte Hundsmann, obwohl er sich lieber in genau die andere Richtung aufgemacht hätte. Crummock stand in der Nähe des Zelts und betrachtete das Durcheinander mit gerunzelter Stirn.
»Irgendwas ist passiert«, sagte der Bergmensch. »Aber ich verstehe nichts von dem, was diese Südländer sagen oder tun. Ich schwöre, sie sind alle völlig irre.«
Tatsächlich ertönten laute, wirre Stimmen aus dem Zelt, als Hundsmann den Stoff des Eingangs zurückschlug. Überall wimmelten Unionsoffiziere herum, die ziemlich durcheinander zu sein schienen. In ihrer Mitte war West, das Gesicht so weiß wie frische Milch, die Fäuste fest geballt.
»Wildzorn!« Hundsmann packte ihn am Arm. »Was, zur Hölle, ist hier los?«
»Die Gurkhisen sind in Midderland eingefallen.« West riss sich los und fing an, Befehle zu brüllen.
»Die wer haben was gemacht?«, brummte Crummock.
»Die Gurkhisen.« Logen zog ein sehr finsteres Gesicht. »Braune Menschen aus dem tiefsten Süden. Ziemlich hart im Nehmen, nach dem, was man hört.«
Pike stieß nun zu ihnen, das verbrannte Gesicht grimmig verzogen. »Sie sind übers Meer gekommen und mit einem ganzen Heer an Land gegangen. Vielleicht haben sie schon Adua erreicht.«
»Jetzt warte mal.« Hundsmann wusste nichts über die Gurkhisen oder über Adua oder Midderland, aber sein schlechtes Gefühl verstärkte sich mit jedem Augenblick. »Was wollt ihr uns damit sagen?«
»Wir sind nach Hause beordert worden. Sofort.« Hundsmann starrte ins Leere. Von Anfang an hätte ihm klar sein müssen, dass es nicht so einfach sein konnte. Er packte West erneut am Arm und ließ seinen dreckigen Zeigefinger in Richtung Carleon zucken. »Wir haben nicht annähernd genug Leute, um diese Stadt zu belagern, wenn ihr abhaut!«
»Ich weiß«, sagte West, »und es tut mir leid. Aber ich kann nichts tun. Gehen Sie zu General Poulder!«, blaffte er einen jungen Mann an, der ein wenig schielte. »Sagen Sie ihm, er soll seine Division sofort für den Abmarsch in Richtung Küste vorbereiten!«
Hundsmann blinzelte, und ihm war schrecklich übel. »Also haben wir die sieben Tage auf den Hohen Höhen umsonst gekämpft? Tul starb, und die Toten mögen wissen, wie viele andere noch, für nichts?« Es überraschte ihn immer wieder, wie schnell etwas auseinanderbrechen konnte, sobald man sich nur ein bisschen darauf stützte. »Das war’s dann also. Zurück in die Wälder, in die Kälte, Laufen und Töten. Ohne Ende.«
»Vielleicht gibt’s ja einen anderen Weg«, sagte Crummock.
»Was für einen Weg?«
Der Häuptling der Bergmenschen hatte ein verschlagenes Grinsen aufgesetzt. »Du weißt es, nicht wahr, Blutiger Neuner?«
»Joh. Ich weiß es.« Logen sah aus wie ein Mann, dem klar ist, dass man ihn aufknüpfen wird, und der schon den Baum erblickt, über dessen Äste man die Schlinge wirft. »Wann musst du aufbrechen, Wildzorn?«
West runzelte die Stirn. »Wir haben hier sehr viele Leute, und die Straße ist ziemlich schmal. Poulders Division morgen, würde ich sagen, und Kroys dann übermorgen.«
Crummocks Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Also werden morgen noch den ganzen Tag hier haufenweise Männer sitzen und sich rund um Bethod eingegraben haben. Männer, die so aussehen, als wollten sie richtig lange bleiben, stimmt’s?«
»So könnte es sein, ja.«
»Gebt mir den morgigen Tag«, sagte Logen. »Gebt mir nur das, und vielleicht kann ich die Dinge ins Lot bringen. Dann komme ich mit euch nach Süden, falls ich noch leben sollte, und bringe alle mit, die ich überzeugen kann. Darauf mein Wort. Wir helfen euch gegen die Gurkhisen.«
»Welchen Unterschied kann ein einziger Tag bedeuten?«, fragte West.
»Joh«, brummte Hundsmann, »was kann ein Tag schon ausmachen?«
Das Problem war, er erriet bereits die Antwort.
Wasser rann unter der alten Brücke hindurch, an den Bäumen vorbei und den grünen Berghang hinab. Weiter in Richtung Carleon. Logen sah ein paar gelben Blättern zu, die auf dem Wasser schwammen, sich immer wieder drehten und an den moosigen Steinen vorbeigetrieben wurden. Er wünschte sich, ebenfalls so davontreiben zu können, aber das war nicht besonders wahrscheinlich.
»Wir haben hier gekämpft«, sagte der Hundsmann. »Dreibaum und Tul, Dow und Grimm und ich. Forley ist in dem Wäldchen dort irgendwo begraben.«
»Willst du hingehen?«, fragte Logen. »Ihm einen Besuch abstatten und nachgucken, ob ...«
»Wofür? Ich glaub nicht, dass mir so ein Besuch guttun würde, und ich bin mir verdammt sicher, dass das bei ihm auch nicht anders ist. Nichts wird ihm noch guttun. So ist es nun mal, wenn man tot ist. Bist du dir sicher, was diese Sache angeht, Logen?«
»Siehst du eine andere Möglichkeit? Die Union wird nicht hier bleiben. Es ist vielleicht unsere letzte Gelegenheit, mit Bethod aufzuräumen. Da haben wir nicht viel zu verlieren, oder?«
»Dein Leben zum Beispiel.«
Logen holte tief Luft. »Mir fallen nicht allzu viele Leute ein, die dem einen besonders großen Wert beimessen würden. Kommst du mit runter?«
Hundsmann schüttelte den Kopf. »Ich glaub, ich bleib hier oben. Von Bethod hab ich fürs Leben genug gesehen.«
»Ist gut. In Ordnung.« Es war, als hätten alle Augenblicke in Logens Leben, alle Dinge, die er gesagt oder getan hatte, alle Entscheidungen, an die er sich kaum noch erinnerte, ihn hierhergeführt. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Vielleicht hatte er nie eine gehabt. Er war wie jene Blätter auf dem Wasser – er wurde mitgerissen, hinunter nach Carleon, und er konnte nichts dagegen tun. Also stieß er seinem Pferd die Fersen in die Seiten und ritt allein den Hang hinunter, dem kleinen Pfad folgend am gurgelnden Bach entlang.
Die ganze Umgebung schien klarere Umrisse zu haben als sonst, als der Tag sich allmählich seinem Ende zuneigte. Er ritt an Bäumen vorbei, deren feuchte Blätter kurz davor standen zu fallen – goldgelb, leuchtend orange, purpurrot, in allen Farben des Feuers. Unten am Boden des Tals hing noch ein kleiner Hauch des Herbstnebels in der schweren Luft und biss in seine Kehle. Die Geräusche des knirschenden Sattels, des klappernden Zaumzeugs und der Hufschläge drangen gedämpft an sein Ohr. Er trottete über die leeren Felder, aufgewühlte Erde mit Unkräutern gespickt, an den Wachposten der Union vorbei, an Gräben und den Reihen angespitzter Pfähle, hübsch in dreifacher Bogenreichweite von den Mauern errichtet. Soldaten in nietenbeschlagenen Jacken und mit Stahlkappen sahen ihn mit düsterer Miene an sich vorüberreiten.
Er zügelte das Pferd und ließ es langsam im Schritt gehen. Dann ritt er klappernd über eine hölzerne Brücke, eine von den neuen, die Bethod hatte errichten lassen, und der Fluss unter ihm gurgelte nach dem herbstlichen Regen. Dann die leichte Steigung empor, während die Mauer über ihm aufragte. Hoch, steil, dunkel und solide sah sie aus. Eine so bedrohliche Mauer, wie er sie selten zuvor gesehen hatte. Oben an den Schießscharten konnte er keine Männer entdecken, aber er ging davon aus, dass dort trotzdem welche standen. Er schluckte, und die Spucke rann seltsam durch seine Kehle, dann richtete er sich im Sattel auf und tat so, als sei er nicht verwundet und zerschlagen nach den sieben Tagen Kampf in den Bergen. Er fragte sich, ob er gleich einen Flachbogen klappern hören, einen kurzen Schmerz fühlen und in den Schlamm fallen würde, tot. Das würde vielleicht ein peinliches Lied abgeben.
»Nun sieh mal einer an!«, ertönte eine tiefe Stimme, und Logen erkannte sie sofort wieder. Wer außer Bethod hätte es denn auch sein können?
Seltsam war allerdings, dass er sich für einen winzigen Augenblick freute, sie zu hören. Bis er sich daran erinnerte, wie viel Blut zwischen ihnen stand. Bis er sich daran erinnerte, wie sehr sie einander hassten. Man kann Feinde haben, denen man niemals selbst gegenübergestanden hat, und davon besaß Logen reichlich. Man kann Männer töten, die man nicht kennt, und auch das hatte er oft getan. Aber man kann einen Mann nicht wirklich hassen, ohne ihn vorher geliebt zu haben, und eine Spur davon bleibt stets zurück.
»Da gucke ich doch von meinen Toren herunter, und wer kommt da aus der Vergangenheit angeritten?«, rief Bethod ihm zu. »Der Blutige Neuner! Ja, ist es denn zu glauben? Ich würde ja ein Fest bereiten, aber leider haben wir hier drin keine Nahrungsmittel übrig!« Er stand da, oben an der Brustwehr, hoch über dem Tor, die Fäuste auf den Stein gestützt. Er verzog nicht verächtlich das Gesicht. Er lächelte auch nicht. Er machte eigentlich gar nichts.
»Wenn das nicht der König der Nordmänner ist!«, rief nun Logen zu ihm hinauf. »Hast du deinen goldenen Hut denn noch?«
Bethod berührte den Reif, den er auf dem Kopf trug, und der große Edelstein auf seiner Stirn leuchtete in der untergehenden Sonne. »Wieso denn nicht?«
»Lass mich überlegen ...« Logen sah nach links und rechts die nackten Mauern entlang. »Na ja, weil dir nichts mehr geblieben ist, worüber du herrschen könntest, soweit ich sehen kann.«
»Hm. Ich würde sagen, wir fühlen uns beide wohl ein wenig einsam. Wo sind deine Freunde, Blutiger Neuner? Diese Mörder, die du so gern um dich hattest. Wo sind der Donnerkopf, Grimm und der Hundsmann und dieser Drecksack, der Schwarze Dow?«
»Sie sind alle erledigt, Bethod. Tot, oben in den Bergen. So tot wie Skarling. Sie und Kleinknochen und Goring und Schlohmähne und noch viele andere.«
Bethod blickte grimmig drein. »Das ist kein Grund zum Feiern, wenn man mich fragt. Da sind einige sehr nützliche Männer wieder zu Schlamm geworden, auf die eine oder andere Art. Ein paar von meinen Freunden und ein paar von deinen. Wenn wir zwei mit von der Partie sind, dann gibt es einfach kein glückliches Ende, oder? Als Freunde bringen wir kein Glück und als Feinde noch weniger. Weswegen bist du hierhergekommen, Neunfinger?«
Logen saß einen Augenblick da und dachte an all die anderen Male, da er das getan hatte, was er nun tun musste. Die Herausforderungen, die er ausgesprochen hatte, und wie sie ausgegangen waren, und es waren keine guten Erinnerungen dabei. Wenn man eins von Logen Neunfinger sagen konnte, dann das – er war etwas zögerlich. Aber es gab keine andere Möglichkeit. »Ich bin hier, um euch zu fordern!«, bellte er, und die Worte hallten von der feuchten, dunklen Mauer zurück und starben in der nebligen Luft einen langsamen Tod.
Bethod warf den Kopf zurück und lachte. Es war ein eher freudloses Lachen, fand Logen. »Bei den Toten, Neunfinger, aber du änderst dich auch nie. Du bist wie ein alter Hund, den man nicht daran hindern kann zu kläffen. Eine Herausforderung? Was haben wir denn noch, worum es sich zu kämpfen lohnt?«
»Wenn ich gewinne, dann öffnest du die Tore und gehörst mir. Als mein Gefangener. Wenn ich verliere, dann packt die Union ihren Kram und segelt nach Hause, und du bist frei.«
Bethods Lächeln verblasste allmählich, und seine Augen verengten sich misstrauisch. Logen kannte diesen Blick von früher. Er wog nun ab und dachte über die möglichen Beweggründe nach. »Das klingt nach einem goldenen Angebot angesichts der Lage, in der ich mich befinde. Kaum zu glauben. Was ist dabei für deine Freunde aus dem Süden drin?«
Logen schnaubte. »Die warten, wenn sie müssen, aber denen bist du ziemlich egal, Bethod. Du bedeutest ihnen nichts, auch wenn du hier vorher so hohe Wellen geschlagen hast. Sie haben dich schon mit Arschtritten quer durch den Norden gejagt, und sie gehen jetzt davon aus, dass du ihnen so oder so keinen Ärger mehr machen wirst. Wenn ich gewinne, bekommen sie deinen Kopf. Wenn ich verliere, können sie früher nach Hause fahren.«
»Ich bedeute ihnen nichts, ja?« Bethod zeigte ein bedauerndes Lächeln. »Ist es schon so weit gekommen, trotz meiner ganzen Bemühungen, all dem Schweiß und den Schmerzen? Bist du glücklich, Neunfinger? Wenn du jetzt siehst, dass all das, wofür du gekämpft hast, wieder zu Staub zerfällt?«
»Wieso nicht? Dafür kannst du niemanden verantwortlich machen außer dir selbst. Du hast uns hierhergeführt. Nimm meine Herausforderung an, Bethod, und dann kann vielleicht wenigstens einer von uns beiden Frieden finden!«
Der König der Nordmänner starrte mit aufgerissenen Augen hinab. »Niemanden, den ich dafür verantwortlich machen kann? Ich? Wie schnell wir alle doch vergessen!« Er packte die Kette, die über seinen Schultern lag, und schüttelte sie. »Glaubst du, ich hätte das hier gewollt?
Glaubst du, ich habe um irgendetwas davon gebeten? Ich wollte nicht mehr als einen zusätzlichen Streifen Land, um mein Volk zu ernähren und um die großen Clans davon abzuhalten, mich auszuquetschen. Ich wollte nur ein paar Siege, auf die ich stolz sein konnte, um meinen Söhnen etwas Besseres zu hinterlassen als das, was ich von meinem Vater bekommen hatte.« Er beugte sich vor, und seine Hände umklammerten die Zinnen. »Wer war es denn, der mich immer noch weiter gedrängt hat? Wer war es, der mich niemals aufhören ließ? Wer war es, der Blut schmecken musste und der sich daran betrank, der dann verrückt wurde und nie genug bekam?« Sein Finger deutete nach unten. »Wer, wenn nicht der Blutige Neuner?«
»So war es nicht«, knurrte Logen.
Bethods Lachen hallte hart im Wind wider. »Nein? Ich wollte mit Schama Ohnherz reden, aber du musstest ihn töten! Ich versuchte bei Heonan zu verhandeln, aber du musstest dort hochklettern, deine Rechnung begleichen und gleich zwölf weitere aufmachen! Frieden, sagst du? Ich habe dich angebettelt, in Uffrith Frieden zu schließen, aber du musstest mit Dreibaum kämpfen! Auf den Knien habe ich dich angefleht, aber du musstest den größten Namen des Nordens herausfordern! Und nachdem du ihn geschlagen hattest, brachst du mir gegenüber dein Wort und ließest ihn leben, als ob es in der ganzen Welt nichts Wichtigeres gäbe als deinen Stolz!«
»So war es nicht«, sagte Logen.
»Es gibt keinen Mann im Norden, der nicht weiß, wie es wirklich war! Frieden? Ha! Was war denn mit Rasselkopf, hm? Ich hätte seinen Sohn gegen ein Lösegeld freigegeben, und dann wären wir alle friedlich nach Hause gezogen, aber nein! Was hast du damals zu mir gesagt? Es ist leichter, die Weißflut aufzuhalten als den Blutigen Neuner! Dann musstest du den Kopf des Jungen an meine Standarte nageln, damit die ganze Welt ihn sieht und die Fehden nie ein Ende finden würden! Jedes Mal, wenn ich dich aufhalten wollte, hast du mich weitergezerrt, immer tiefer und tiefer in den Dreck! Bis es kein Halten mehr gab! Bis es hieß, töten oder getötet werden. Bis ich den ganzen Norden unterjochen musste! Du hast mich zum König gemacht, Neunfinger. Welche andere Wahl hast du mir gelassen?«
»So war es nicht«, flüsterte Logen. Aber er wusste, dass es doch so gewesen war.
»Rede dir selbst nur ein, dass ich der Grund all deiner Ärgernisse bin, wenn es dich glücklich macht! Rede dir ein, ich sei der Gnadenlose, der Mörderische, der Blutrünstige, aber frag dich, von wem ich es gelernt habe. Ich hatte den besten Lehrer! Tu so, als wärest du der gute Mensch, wenn es dir gefällt, der Mann, der nie eine Wahl hatte, aber wir beide wissen, wer du in Wirklichkeit bist. Frieden? Du wirst niemals Frieden haben, Blutiger Neuner. Du bist aus Tod gemacht!«
Logen hätte es gern geleugnet, aber es wären nur noch mehr Lügen gewesen. Bethod kannte ihn wirklich. Bethod verstand ihn. Besser als sonst jemand. Sein schlimmster Feind und doch immer noch sein bester Freund. »Warum hast du mich dann nicht umgebracht, als du die Möglichkeit dazu hattest?«
Der König der Nordmänner runzelte die Stirn, als ob er etwas nicht verstünde. Dann begann er wieder zu lachen. Er schüttelte sich vor Gelächter. »Du weißt nicht, wieso?
Du hast direkt neben ihm gestanden und weißt es nicht? Nichts hast du von mir gelernt, Neunfinger! Nach all diesen Jahren lässt du dich immer noch von jeder Wolke nass regnen, die gerade über den Himmel zieht!«
»Was willst du damit sagen?«, fauchte Logen.
»Bayaz!«
»Bayaz? Was ist mit ihm?«
»Ich war drauf und dran, das Blutkreuz in dich zu schneiden und deine Leiche mitsamt denen der dämlichen Ausgestoßenen deines Gefolges im Moor zu versenken. Das hätte ich wirklich nur allzu gern gemacht, bevor dieser alte Lügner sich bei mir meldete!«
»Und?«
»Ich schuldete ihm noch etwas, und er wollte, dass ich dich gehen lasse. Dieser alte Wichser, der sich in alles einmischt, hat deine wertlose Haut gerettet, sonst nichts!«
»Warum?«, knurrte Logen, der nicht wusste, was er davon halten sollte, aber dem es nicht gefiel, dass er das Ganze so viel später erfuhr als alle anderen.
Aber Bethod kicherte nur in sich hinein. »Vielleicht bin ich für
seinen Geschmack nicht tief genug auf Knien gerutscht. Du bist es,
den er gerettet hat, also solltest du ihn nach den Gründen fragen,
wenn du lange genug lebst. Aber ich denke, das wirst du nicht. Ich
nehme deine Herausforderung an! Hier. Morgen. Bei Sonnenaufgang.«
Er rieb sich die Hände. »Mann gegen Mann, und die Zukunft des
ganzen Nordens hängt in all ihrer Blutigkeit von dem Ergebnis ab!
So wie es auch früher immer war, nicht wahr, Logen? In der guten
alten Zeit? In den sonnigen Tälern unserer Vergangenheit? Wollen
wir zusammen noch einmal die Würfel rollen lassen?« Der König der
Nordmänner trat langsam von den Zinnen zurück. »Einige Dinge haben
sich doch geändert. Ich habe jetzt einen neuen Kämpen! Wenn ich an
deiner Stelle wäre, dann würde ich mich heute von allen
verabschieden und mich darauf vorbereiten, wieder zu Schlamm zu
werden! Denn ... was hast du immer zu mir gesagt?« Sein Lachen
verging langsam in der Dämmerung. »Man muss realistisch
sein!«
»Gutes Stück Fleisch«, sagte Grimm.
Ein warmes Feuer und ein gutes Stück Fleisch waren zwei Dinge, für die man dankbar sein konnte, und es hatte genug Zeiten gegeben, wo Hundsmann viel weniger gehabt hatte. Aber nun, da er sah, wie das Blut von der Hammelkeule tropfte, wurde ihm übel. Es erinnerte ihn an das Blut, das aus Schama Ohnherz gekommen war, als Logen ihn aufgeschlitzt hatte. Es mochte schon Jahre her sein, aber Hundsmann sah es noch so deutlich vor sich, als sei es gestern gewesen. Er konnte das Brüllen der Männer hören, und wie sie ihre Schilde aneinander schlugen. Und er konnte den sauren Schweiß und das frische Blut auf dem Schnee riechen.
»Bei den Toten«, stöhnte Hundsmann, dem der Speichel in den Mund floss, als ob er gleich kotzen müsste. »Wie kannst du jetzt ans Essen denken?«
Dow zeigte beim Grinsen alle Zähne. »Wenn wir hungrig bleiben, hilft Neunfinger das auch nicht. Nichts kann ihm helfen. Das ist doch Sinn und Zweck eines Zweikampfs, oder? Es geht nur um einen einzigen Mann.« Er stach mit seinem Messer in das Fleisch und ließ das Blut zischend ins Feuer tropfen. Dann lehnte er sich nachdenklich zurück. »Meinst du, er schafft es? Wirklich? Erinnerst du dich an dieses Geschöpf?« Ein Geist der elenden Angst, die er im Nebel empfunden hatte, berührte den Hundsmann, und er erschauerte bis in die Zehenspitzen. Er würde es vermutlich nie vergessen, wie dieser Riese aus dem Dunkel getreten war, wie er seine bemalte Faust erhob und wie sie gegen Dreibaums Rippen schlug und dem alten Krieger das Lebenslicht ausblies.
»Wenn es jemand schaffen kann«, knurrte er durch die zusammengebissenen Zähne, »dann wohl Logen, denke ich.«
»Hm«, brummte Grimm.
»Ja schon, aber glaubst du, es wird ihm wirklich gelingen? Das frag ich mich. Das, und was passiert, wenn er es nicht schafft?« Das war eine Frage, über deren Antwort Hundsmann nicht nachdenken wollte. Logen wäre tot, das wäre schon einmal das Erste. Und dann wäre auch die Belagerung zu Ende. Hundsmann hatte nach der Schlacht in den Bergen nicht einmal mehr genügend Leute, um einen Pisspott zu belagern, von der Stadt mit der stärksten Mauer im ganzen Norden gar nicht zu reden. Bethod würde tun können, was ihm gefiel – nach Hilfe suchen, neue Freunde finden und wieder zum Kampf antreten. Eine üblere Zwickmühle gab es nicht.
»Logen schafft es«, flüsterte er, ballte die Fäuste und fühlte, wie der lange Schnitt an seinem Arm brannte. »Er muss einfach.«
Beinahe wäre er in das Feuer gefallen, als ihm eine große, dicke Hand auf den Rücken patschte. »Bei den Toten, so lange Gesichter habe ich ja noch nie an einem Feuer hocken sehen!« Hundsmann verzog gequält das Gesicht. Das Letzte, was er in seiner derzeitigen Laune brauchte, war der verrückte Bergmensch, der in die Nacht hinaus grinste, seine Kinder mit den großen Waffen über den Schultern hinter sich.
Crummock hatte jetzt nur noch zwei, seit einer seiner Söhne in den Bergen getötet worden war, aber das schien ihn nicht zu bekümmern. Er hatte auch seinen Speer eingebüßt, der in irgendeinem Ostländer abgebrochen war, wie er gern erzählte, und daher musste er immer noch keine Waffe selbst tragen. Keines seiner Kinder hatte seit der Schlacht besonders viel gesagt, jedenfalls nicht so, dass Hundsmann es gehört hätte. Nun war nicht mehr davon die Rede, wie viele Männer irgendwer umgebracht haben mochte. Wenn man es aus der Nähe miterlebte, dann verlor man leicht die Begeisterung für das Kriegsgeschäft. Hundsmann wusste nur zu gut, wie das war.
Aber Crummock selbst hatte seine gute Laune nicht im Geringsten eingebüßt. »Wohin hat sich denn Neunfinger verkrochen?«
»Der ist alleine weg. Das macht er immer so vor einem Zweikampf.«
»Mmm.« Crummock strich über die Fingerknochen, die er um den Hals trug. »Spricht sicher mit dem Mond, möchte ich wetten.«
»Er scheißt sich in die Hosen, würde ich mal eher denken.«
»Nun, solange man mit dem Kacken vor dem Zweikampf fertig ist, kann sich darüber doch auch niemand beschweren.« Crummock grinste über sein ganzes Gesicht. »Niemanden liebt der Mond mehr als den Blutigen Neuner, das sag ich euch! Niemanden im ganzen Weltenrund. Er hat gute Aussichten, einen gerechten Kampf zu gewinnen, und das ist das Beste, worauf ein Mann gegenüber diesem Teufelsgeschöpf hoffen kann. Es gibt da nur ein Problem.«
»Nur eins?«
»Es gibt keinen gerechten Kampf, solange diese verdammte Hexe am Leben ist.«
Hundsmann fühlte, wie seine Schultern noch tiefer sackten. »Wie meinst du das?«
Crummock drehte eines der hölzernen Zeichen an seiner Halskette. »Sie wird es bestimmt nicht zulassen, dass Bethod verliert und sie mit ihm. Glaubt ihr das etwa? Eine Hexe, die so schlau ist wie diese? Sie verfügt über alle möglichen Arten der Zauberei, die sie vermischen kann. Alle möglichen Segnungen und Flüche. Dieses Dreckstück könnte den Ausgang des Kampfes auf die verschiedensten Weisen beeinflussen, als ob die Aussichten nicht so schon ungleich genug wären.«
»Wie?«
»Ich meine ja nur: Jemand sollte sie aus dem Weg räumen.«
Hundsmann hatte nicht gedacht, dass ihm noch elender werden könnte. Jetzt wusste er es besser. »Na, dann viel Glück dabei«, flüsterte er.
»Haha, mein Junge, haha. Ich würde es ja nur zu gern selbst tun, aber sie haben da drüben ein schönes langes Stückchen Mauer, und mir liegt das Klettern nicht so.« Crummock klopfte sich mit seiner Pranke auf den fetten Bauch. »Dafür sitzt hier zweimal zu viel Fleisch. Nein, für diese Aufgabe brauchen wir einen kleinen Mann, der aber echte Nüsse hat. Das steht außer Frage, und der Mond weiß es. Einen Mann, der ein Talent dafür besitzt, sich anzuschleichen, sicheren Fußes und scharfen Auges. Wir brauchen jemanden mit schneller Hand und schnellem Verstand.« Er sah den Hundsmann an und grinste. »Nun, wo könnten wir wohl einen solchen Mann finden, was meinst du?«
»Weißt du was?« Hundsmann barg das Gesicht in den Händen. »Ich
habe verdammt noch mal nicht die geringste Ahnung.«
Logen hob die zerbeulte Feldflasche an die Lippen und nahm einen Schluck. Der scharfe Branntwein kitzelte seine Zunge, kitzelte seine Kehle, und er fühlte den altbekannten Drang zu schlucken. Stattdessen beugte er sich vor, spitzte die Lippen und blies den Alkohol in feinem Nebel aus. Ein Feuerball stieg in die kalte Nacht. Er blickte in die Dunkelheit, sah nichts außer den schwarzen Umrissen der Baumstämme und den wabernden schwarzen Schatten, die das Feuer zwischen ihnen aufwarf.
Langsam schwenkte er die Flasche hin und her und hörte den letzten Schluck darin schwappen. Dann zuckte er die Achseln, setzte sie an den Mund und kippte den Rest hinunter, fühlte, wie der Schnaps bis in seinen Magen brannte. Die Geister konnten heute mit ihm teilen. So wie es aussah, würde er sie nach dem morgigen Tag ohnehin nie wieder rufen.
»Neunfinger.« Die Stimme raschelte ihm entgegen wie fallende Blätter.
Ein Geist löste sich aus den Schatten und trat in das Licht des Feuers. Ihm war keine Spur des Wiedererkennens anzumerken, und Logen war ob dessen sehr erleichtert. Auch war nichts Anschuldigendes in ihm, keine Angst und kein Misstrauen. Dem Geist war egal, wer er war oder was er getan hatte.
Logen warf die leere Flasche neben sich auf den Boden. »Ganz allein?«
»Ja.«
»Na, man ist ja nie allein, wenn man ein Lächeln in sich hat.« Der Geist sagte nichts. »Aber ich nehm mal an, Lachen ist etwas für Menschen, nicht für Geister.«
»Ja.«
»Redest wohl nicht gerade viel, was?«
»Ich habe ja nicht dich gerufen.«
»Wohl wahr.« Logen starrte ins Feuer. »Ich muss morgen gegen einen Mann kämpfen. Einen Mann, den man Fenris den Gefürchteten nennt.«
»Er ist kein Mann.«
»Du weißt von ihm?«
»Er ist alt.«
»Nach deiner Zeitrechnung?«
»Nach meiner Zeitrechnung ist gar nichts alt, aber er geht zurück bis in die Alte Zeit und noch weiter. Er hatte damals einen anderen Herrn.«
»Was für einen Herrn?«
»Glustrod.«
Der Name fuhr wie ein Messer in Logens Ohr. Keinen anderen hätte er weniger erwartet oder weniger gern gehört. Der Wind blies kalt durch die Bäume, und die Erinnerung an die hoch aufragenden Ruinen von Aulcus drangen auf ihn ein und ließen ihm eine Gänsehaut über den Rücken kriechen. »Ist wohl nicht sehr wahrscheinlich, dass es ein anderer Glustrod ist als der, der damals beinahe die halbe Welt zerstört hat?«
»Es gibt keinen anderen. Er war es, der all die Zeichen auf die Haut des Gefürchteten schrieb. Zeichen in der Alten Sprache, der Sprache der Teufel, über seine ganze linke Seite. Das Fleisch darunter ist Fleisch aus der Unterwelt. Wo Glustrods Wort geschrieben steht, kann man dem Gefürchteten nicht schaden.«
»Man kann ihm nicht schaden? Gar nicht?« Logen dachte einen Augenblick darüber nach. »Warum hat man ihm die Zeichen nicht auf beide Seiten geschrieben?«
»Frag Glustrod.«
»Dazu werde ich wohl keine Gelegenheit haben.« »Nein.« Eine lange Pause. »Was willst du tun, Neunfinger?«
Logen spähte seitwärts in den Wald. Einfach loszulaufen und nie mehr zurückzublicken, das erschien ihm in diesem Augenblick höchst verlockend. Manchmal kann es doch besser sein, mit der Angst vor etwas zu leben, anstatt dabei zu sterben, dass man die Sache angeht, auch wenn Logens Vater immer etwas anderes zu behaupten pflegte.
»Ich bin schon einmal abgehauen«, murmelte er, »und dann nur im Kreis gerannt. Bethod wartet auf mich am Ende eines jeden Weges.«
»Dann war das unser Gespräch.« Der Geist erhob sich vom Feuer.
»Vielleicht sehe ich dich ja mal wieder.«
»Ich glaube nicht. Die Magie leckt heraus aus dieser Welt, und meinesgleichen schlafen. Ich glaube nicht. Selbst wenn du den Gefürchteten schlagen solltest, und ich glaube nicht, dass es dir gelingt.«
»Willst mir wohl Hoffnung machen, was?«, schnaubte Logen. »Glück sei mit dir.«
Der Geist verschmolz mit der Dunkelheit und war verschwunden. Er hatte Logen kein Glück gewünscht. Solche Dinge kümmerten ihn nicht.