GEISTER

Uffrith sah ganz anders aus als früher. Nun gut, es war Jahre her, dass Logen die Stadt zum letzten Mal gesehen hatte, noch dazu bei Nacht, nach der Belagerung. Bethods Carls waren in Gruppen durch die Straßen gezogen, grölend, singend und trinkend. Auf der Suche nach Leuten, die man ausrauben und vergewaltigen konnte, hatten sie alles niedergebrannt, was Feuer fangen wollte. Logen erinnerte sich, wie er in jenem Raum gelegen hatte, nach dem Sieg über Dreibaum, wie er geheult und gegurgelt hatte, als ihn die Schmerzen übermannt hatten. Er erinnerte sich, wie er aus dem Fenster geschielt, den Schein der Flammen gesehen und den Schreien gelauscht hatte. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dort draußen mit den anderen Unheil anzurichten, während er sich damals vielmehr hatte fragen müssen, ob er je wieder aufstehen würde.

Nun, da die Union die Stadt beherrschte, hatte sich einiges geändert, aber es war nicht viel geordneter als früher. Der graue Hafen quoll über vor Schiffen, die zu groß für die kleinen Anleger waren. Soldaten schwärmten durch die engen Straßen und ließen überall Stücke ihrer Ausrüstung fallen. Wagen und Maultiere und Pferde, alle hoch beladen, versuchten sich durch das Gedränge zu quetschen. Verwundete humpelten auf Krücken zum Hafen hinunter oder wurden auf Bahren durch den Nieselregen getragen, während die Neuankömmlinge, die in die andere Richtung strömten, mit großen Augen auf die blutigen Verbände starrten. Hier und dort standen Nordländer – vor allem Frauen, Kinder und alte Männer – in ihren Türen und sahen höchst verwundert auf die große Flut von Fremden, die sich durch ihre Stadt wälzte.

Logen ging schnellen Schrittes die steilen Straßen entlang und drängte sich unter einer Kapuze mit gesenktem Kopf durch die Menge. Dabei hielt er die Fäuste geballt, damit niemand den Stumpf seines fehlenden Fingers bemerkte. Das Schwert, das Bayaz ihm gegeben hatte, trug er in eine Decke gewickelt auf dem Rücken unter seinem Gepäck, damit er niemandem damit Angst machte. Dennoch prickelten seine Schultern bei jedem Schritt, den er tat. Jeden Augenblick erwartete er, dass jemand rief: »Da kommt der Blutige Neuner!«, und dass alles Volk flüchten, schreien und ihn mit Abfall bewerfen würde, die Gesichter vor Entsetzen verzerrt.

Aber das tat niemand. Eine weitere Gestalt, die nicht hierher gehörte, fiel in diesem feuchten Chaos kaum auf, und wenn ihn jemand erkannt hätte, so rechnete er zumindest nicht damit, ihn hier zu sehen. Vermutlich hatten sie alle gehört, dass er irgendwo in weiter Ferne wieder zu Schlamm geworden war, und bestimmt waren alle froh und glücklich darüber. Dennoch hatte es keinen Zweck, länger hier zu bleiben als unbedingt nötig. Er ging auf einen Unionsoffizier zu, der aussah, als ob er etwas zu sagen hätte, schob seine Kapuze zurück und versuchte sich an einem Lächeln.

Seine Mühen brachten ihm einen verächtlichen Blick ein. »Wir haben keine Arbeit für dich, falls es das ist, wonach du suchst.«

»Meine Art von Arbeit habt ihr sowieso nicht.« Logen hielt ihm den Brief hin, den Bayaz ihm mitgegeben hatte.

Der Mann faltete ihn mit misstrauischem Gesichtsausdruck auf und überflog ihn. Dann runzelte er die Stirn und las ihn noch einmal. Schließlich sah er Logen zweifelnd an, und seine Kiefermuskeln mahlten. »Nun gut. Ich verstehe.« Er deutete auf eine Gruppe junger Männer, die nervös und unsicher ein paar Schritt entfernt standen und sich jämmerlich aneinanderdrängten, während der Regen immer stärker wurde. »Es gibt einen Konvoi, der am Nachmittag aufbricht, um die Front zu verstärken. Sie können mit uns reisen.«

»Geht in Ordnung.« Diese verängstigt aussehenden Jungs machten nicht den Eindruck, als ob sie für irgendjemanden eine Verstärkung bedeuten könnten, aber das war ihm egal. Ihn kümmerten seine Weggefährten nicht, solange die Reise Bethod entgegenführte.

 

Die Bäume rauschten auf beiden Seiten der Straße vorüber – dunkelgrün und schwarz, voller Schatten. Vielleicht auch voller Überraschungen. Es war eine harte Art zu reisen. Hart für die Hände, mit denen er sich die ganze Zeit über an den Leitern des Wagens festklammerte, und noch härter für seinen Hintern, der auf dem blanken Holz hin und her gestoßen wurde. Aber sie kamen voran, Stück für Stück, und das, dachte Logen, war die Hauptsache.

Hinter ihnen ratterten weitere Karren in einem langsamen Treck die Straße entlang, beladen mit Männern, Nahrungsmitteln, Kleidung, Waffen und all dem Zeug, das man sonst noch zum Kriegführen brauchte. An jedem hing vorn eine flackernde Laterne, und so zog sich eine Spur aus schwankenden Lichtern durch die Dämmerung, das Tal entlang und den Hügel an seinem Ende hinauf, und markierte den Verlauf der Straße, der sie durch die Wälder folgten.

Logen wandte sich um und besah sich die Unionisten, die sich im vorderen Teil des Karrens zusammengedrängt hatten. Es waren neun junge Burschen, die mit jedem Stoß der Achsen hin und her geschaukelt und geworfen wurden und die so viel Abstand von ihm hielten, wie irgend möglich war.

»Habt ihr schon mal einen Kerl mit so vielen Narben gesehen?«, fragte einer mit leiser Stimme und ging dabei offenbar davon aus, dass er ihre Sprache nicht verstand.

»Wer ist das überhaupt?«

»Keine Ahnung. Ein Nordmann, glaub ich.«

»Das seh ich, dass er ein Nordmann ist, du Idiot. Ich meine, was macht er hier bei uns?«

»Vielleicht ist er ein Kundschafter.«

»Ist aber schon ein ziemlich grobschlächtiger Kerl für einen Kundschafter, oder?«

Logen grinste in sich hinein, während er die Bäume an sich vorüberziehen sah. Er fühlte die kühle Brise auf seinem Gesicht, roch den Nebel, die Erde, die kalte, feuchte Luft. Nie hätte er gedacht, dass er sich freuen würde, wieder im Norden zu sein, aber so war es. Es war gut, sich nach all der Zeit als Fremder an einem Ort wiederzufinden, wo er die Regeln kannte.

Sie lagerten auf der Straße, eine kleine Gruppe von zehn Männern. Eine von vielen, die hier in den Wäldern rasteten, jede eng an ihren Karren gedrängt. Neun Jungs auf der einen Seite eines großen Feuers, über dem ein Topf mit Fleischsuppe köchelte und einen leckeren Geruch verströmte. Logen beobachtete sie, wie sie darin herumrührten, einander von ihrem Zuhause erzählten und darüber redeten, was jetzt wohl auf sie zukäme und wie lange sie hier draußen sein würden.

Nach einer Weile löffelte einer das Essen in Schüsseln und verteilte sie. Nachdem er seine Kameraden versorgt hatte, sah er zu Logen herüber und füllte eine weitere Schüssel. Dann bewegte er sich auf den Nordmann zu, vorsichtig, als nähere er sich einem Wolfsgehege.

»Äh ...« Er hielt die Schüssel auf Armeslänge von sich weg. »Suppe?« Damit machte er seinen Mund weit auf und deutete mit seiner freien Hand hinein.

»Danke, mein Freund«, sagte Logen, als er ihm die Schüssel abnahm, »ich weiß schon, was ich damit machen muss.«

Die jungen Burschen starrten ihn allesamt an, eine Reihe besorgter Gesichter auf der anderen Seite des Feuers, die vom flackernden gelben Licht erhellt wurden, und es schien sie noch misstrauischer zu machen, dass er ihre Sprache verstand. »Sie sprechen die Gemeine Sprache? Das haben Sie sich aber bisher nicht anmerken lassen, wie?«

»Meiner Erfahrung nach ist es besser, wenn man geringer scheint, als man ist.«

»Wenn Sie das sagen«, meinte der Soldat, der ihm die Schüssel gegeben hatte. »Wie heißen Sie denn?«

Logen fragte sich kurz, ob er zu einer Lüge greifen sollte. Irgendein bedeutungsloser Name, von dem nie jemand gehört haben würde. Aber er war nun einmal der, der er war, und früher oder später würde ihn ohnehin jemand erkennen. Davon einmal abgesehen hatte er nie großes Talent zum Lügen gehabt. »Neunfinger-Logen nennt man mich.«

Die Soldaten sahen ihn ausdruckslos an. Sie hatten noch nie von ihm gehört, wie auch. Sie waren Bauernsöhne von weit her, aus der sonnigen Union. So wie sie aussahen, kannten sie gerade mal ihre eigenen Namen.

»Und weswegen sind Sie hier?«, fragte ihn einer.

»Aus demselben Grund wie Sie. Ich bin hier, um zu töten.« Die jungen Kerle wirkten ein wenig erschrocken. »Nicht Sie, keine Sorge. Ich habe noch ein paar Rechnungen zu begleichen.« Er nickte die Straße hinauf. »Mit Bethod.«

Die Soldaten sahen sich an, dann zuckte einer von ihnen die Achseln. »Tja. Solange Sie auf unserer Seite sind, ist ja alles in Ordnung.« Er stand auf und zog eine Flasche aus seinem Rucksack. »Möchten Sie was trinken?«

»Gern.« Logen grinste und hielt ihm seinen Becher hin. »Dazu habe ich noch nie nein gesagt.« Er stürzte die Flüssigkeit in einem Schluck hinunter und leckte sich die Lippen, als er fühlte, wie der Wein seine Kehle wärmte. Der junge Mann schenkte ihm noch einmal nach. »Danke. Geben Sie mir aber nicht zu viel.«

»Wieso?«, fragte der Soldat. »Würden Sie uns dann töten?«

»Sie töten? Wenn Sie Glück haben.«

»Und wenn nicht?«

Logen grinste in seinen Becher hinein. »Dann singe ich.«

Der Soldat lächelte, und einer seiner Kameraden lachte laut. Im nächsten Augenblick schlug ein Pfeil in seine Seite, und er spuckte Blut auf sein Hemd, die Flasche fiel ins Gras, und Wein floss gluckernd ins Gras. Einem der anderen steckte ein Pfeil im Schenkel. Er saß wie erstarrt da und starrte auf den Schaft. »Wo kam das ...« Dann brach Geschrei aus, alle griffen nach ihren Waffen oder warfen sich flach auf den Bauch. Weitere Pfeile zischten über sie dahin; einer traf ins Feuer und ließ einen Funkenreigen aufsteigen.

Logen ließ die Schale mit der Suppe fallen, schnappte sich sein Schwert und rannte los. Er stieß dabei gegen einen der Soldaten und warf ihn um, dann rutschte er aus und wäre selbst beinahe gestürzt. Schnell richtete er sich wieder auf und hielt in vollem Lauf auf die Bäume zu, aus denen die Pfeile gekommen waren. Entweder man rannte direkt auf die Gefahr zu, oder aber man rannte vor ihr davon, und er hatte sich ohne nachzudenken entschieden. Manchmal spielte es gar keine Rolle, welche Wahl man traf, solange man es schnell tat und dann bei seiner Entscheidung blieb. Logen sah einen der Bogenschützen, als er heranstürmte, ein kurzes Aufblitzen heller Haut in der Dunkelheit, als er nach einem weiteren Pfeil griff. Er zog das Schwert des Schöpfers aus seiner abgewetzten Scheide und stieß ein mächtiges Kampfgeschrei aus.

Der Schütze hätte seinen Pfeil abschießen können, bevor Logen ihn erwischte, aber es wäre knapp geworden, und letztlich hatte er nicht die Nerven, stehen zu bleiben und zu warten. Nur wenige Männer können ihre Wahlmöglichkeiten richtig abwägen, wenn der Tod auf sie zugerast kommt. Er ließ den Bogen zu spät fallen und wollte davonrennen, aber Logen hieb ihn nieder, bevor er mehr als zwei Schritte weit gekommen war, und der Mann stürzte schreiend ins Unterholz. Dort drehte er sich auf den Rücken, wobei ihn das Gestrüpp behinderte, und versuchte unter viel Gebrüll sein Messer hervorzuziehen. Logen hob das Schwert, um der Sache ein Ende zu bereiten. Blut sprühte aus dem Mund des Bogenschützen, ein Schauer durchlief seinen Körper, und dann war er still.

»Noch am Leben«, hauchte Logen vor sich hin, duckte sich neben den Toten und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Es wäre wahrscheinlich für alle Beteiligten besser gewesen, wenn er in die andere Richtung gerannt wäre, aber dafür war es nun zu spät. Noch besser wäre es wohl gewesen, wenn er in Adua geblieben wäre, aber dafür war es nun erst recht zu spät.

»Verdammter Norden«, fluchte er flüsternd. Wenn er diese Drecksäcke entkommen ließ, dann würden sie auf dem ganzen Weg bis zur Front nichts als Unheil stiften, und Logen würde keine Mütze Schlaf mehr bekommen, weil er sich ständig Sorgen darum machen musste, einen Pfeil ins Gesicht zu kriegen. Besser war es, dem Gegner aufzulauern, anstatt darauf zu warten, dass er einen selbst überfiel. Das hatte er auf die harte Tour gelernt.

Er konnte die übrigen Männer, die den Hinterhalt gelegt hatten, durchs Gebüsch brechen hören, und er setzte ihnen nach, die Faust fest um den Griff seines Schwertes geklammert. Er tastete sich zwischen den Baumstämmen hindurch und hielt vorsichtig Abstand. Das Licht des Feuers und der Lärm, den die Unionisten machten, wurde hinter ihm immer leiser, bis er tief in die Wälder vorgedrungen war, Kiefern roch und nasse Erde und sich nur noch nach dem Geräusch eilender Männerfüße richten konnte. Das war jedoch nicht besonders schwer. Er verschmolz mit dem Wald, genau, wie er es früher immer getan hatte. Diese Fähigkeit kehrte unvermittelt zu ihm zurück, als sei er jahrelang jede Nacht zwischen Bäumen umhergeschlichen. Stimmen hallten durch die Nacht, und Logen hielt inne und blieb ganz still hinter einem Baum stehen, um zu lauschen.

»Wo ist Drecknase?«

Darauf folgte eine Pause. »Tot, nehm ich an.«

»Tot? Wie das?«

»Sie hatten irgendjemanden dabei, Krähe. Irgend so ein großes Arschloch.« Krähe. Diesen Namen kannte Logen. Und er erkannte jetzt auch die Stimme. Ein Namhafter Mann, der für Kleinknochen gekämpft hatte. Sie waren wohl nicht gerade Freunde gewesen, er und Logen, aber sie waren einander begegnet. Sie hatten in der Schlacht um Carleon mehr oder weniger Seite an Seite gekämpft. Und jetzt waren sie einander wieder nahe, nur wenige Schritte lagen zwischen ihnen, und sie waren mehr als willens, sich gegenseitig umzubringen. Seltsam, wie das Blatt sich manchmal wendet. Ob man mit oder gegen einen Mann kämpft, liegt oft ganz eng beieinander. Näher jedenfalls, als dass man überhaupt nicht kämpft.

»Ein Nordmann, oder?«, ertönte Krähes Stimme.

»Vielleicht. Wer auch immer das war, er versteht sein Geschäft. Der kam richtig schnell über uns. Ich hatte keine Zeit, einen Pfeil loszulassen.«

»Verdammter Drecksack! Den können wir nicht entkommen lassen. Wir werden hier lagern und ihnen morgen folgen. Vielleicht kriegen wir ihn dann, diesen großen Kerl.«

»Ach was, den kriegen wir auf alle Fälle, verdammt noch mal. Mach dir deswegen keine Sorgen. Dem schneide ich den Hals durch, diesem Arschloch.«

»Schön, dass du es so siehst. Bis dahin kannst du nach ihm Ausschau halten, während wir anderen ein bisschen schlafen. Vielleicht hält dich dein Zorn ja dieses Mal wach, was?«

»Klar, Häuptling. Hast ja recht.«

Logen blieb sitzen und beobachtete sie. Durch die Bäume konnte er ein wenig zu ihrem Lager hinübersehen, und er verfolgte, wie vier von ihnen ihre Decken ausbreiteten und sich zum Schlafen einrollten. Der fünfte nahm seinen Platz mit dem Rücken zu den anderen ein und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er hielt Wache. Logen wartete, bis er hörte, dass einer zu schnarchen begann. Regen kam auf und tropfte und rieselte auf die Kiefernäste. Nach kurzer Zeit rann er Logen ins Haar, in die Kleider, das Gesicht hinunter und auf den nassen Boden, tropf tropf tropf. Logen saß da, so still und ruhig wie ein Stein.

Geduld kann eine schreckliche Waffe sein. Eine, die nur wenige Männer wirklich meistern. Es ist eine harte Herausforderung, weiter fest entschlossen ans Töten zu denken, auch wenn man nicht mehr in Gefahr ist und das Blut abkühlt. Aber Logen hatte diesen Kniff stets beherrscht. Und so saß er da, ließ die langsame Zeit verrinnen und dachte an vergangene Tage, bis der Mond hoch am Himmel stand und bleiches Licht mit dem nieselnden Regen durch das Astwerk drang. Licht genug, damit er sehen konnte, was er zu tun hatte.

Er löste seine Beine aus dem Schneidersitz und setzte sich in Bewegung. Vorsichtig tastete er sich zwischen den Baumstämmen entlang, wobei er seine Füße sanft und leise ins Unterholz setzte. Der Regen war sein Verbündeter, denn das Tröpfeln und Prasseln überlagerte das leise Geräusch seiner Stiefel, als er einen Kreis schlug und sich von hinten an den Wächter heranschlich.

Er zog ein Messer hervor. Die nasse Klinge glänzte in den Mondlichtflecken, als er zwischen den Bäumen hervorkam und in ihr Lager schlich. Mitten durch die Reihe der schlafenden Männer ging er, so nahe, dass er sie hätte berühren können. Nahe wie ein Bruder. Der Wächter schniefte und rührte sich schlecht gelaunt, zog sich die nasse Decke um die Schultern, die mit perlenden, schimmernden Regentropfen besetzt war. Logen hielt inne und wartete, sah auf das blasse Gesicht eines Schlafenden hinab, der auf der Seite lag, die Augen geschlossen und den Mund weit geöffnet, und dessen Atem wie dünner Nebel in die feuchte Nachtluft strömte.

Der Wächter saß jetzt still da, und Logen glitt mit angehaltenem Atem ganz nahe hinter ihn. Er streckte die linke Hand aus, reckte die Finger in der klammen Luft und erspürte den richtigen Augenblick. Dann streckte er die rechte Hand aus, die Faust fest um den harten Griff des Messers gekrallt. Er fühlte, wie seine Lippen die zusammengebissenen Zähne freigaben. Jetzt war der richtige Moment gekommen, und wenn er da ist, muss man ohne zu zögern zuschlagen.

Logen griff nach vorn, drückte seine Hand fest auf den Mund des Wächters und schnitt ihm heftig und schnell die Kehle durch, so tief, dass er fühlte, wie die Klinge an die Halsknochen stieß. Der Wächter zuckte und wehrte sich kurz, aber Logen hielt ihn fest, so fest wie eine Geliebte, und sein Opfer brachte nicht mehr als ein leises Gurgeln hervor. Logen spürte, wie Blut über seine Hände strömte, heiß und klebrig. Wegen der anderen machte er sich jetzt noch keine Gedanken. Wenn einer von ihnen aufwachte, würde er nichts weiter sehen als den Umriss eines Mannes in der Dunkelheit, und genau das war es, was sie alle erwarteten.

Es dauerte nicht lange, bis der Wächter erschlaffte, und Logen bettete ihn sanft auf die Seite, wobei sein Kopf ein wenig wackelte. Vier Umrisse zeichnete sich unter ihren nassen Decken ab, hilflos. Vielleicht hatte es einmal eine Zeit gegeben, zu der Logen sich hätte zwingen müssen, eine solche Tat zu vollbringen. Eine Zeit, in der er darüber nachgedacht hätte, ob er auch das Richtige tat. Aber wenn es diese Zeit einmal gegeben hatte, dann war sie nun schon lange vorbei. Im Norden galt der Augenblick, in dem man nachdachte, als genau der, in dem man selbst getötet wurde. Jetzt waren sie lediglich vier Aufgaben, die erledigt werden mussten.

Er schlich sich an den Ersten heran, hob sein blutiges Messer hoch und stach den Mann durch den Mantel direkt ins Herz, während er ihm die freie Hand auf den Mund presste. Er starb leiser, als er geschlafen hatte. Logen näherte sich nun dem Zweiten und wollte es nun genauso machen. Sein Stiefel schlug klappernd an einen Gegendstand aus Metall. Vielleicht eine Wasserflasche. Was auch immer es war, es machte einen Höllenlärm. Die Augen des Schlafenden klappten auf, und er wollte sich aufrichten. Logen rammte ihm das Messer in den Bauch und riss es hoch, so dass er ihm den Bauch aufschlitzte.

Der Mann gab eine Art Keuchen von sich, Mund und Augen weit aufgerissen, und krallte sich in Logens Arm.

»Hä?« Der Dritte setzte sich auf und starrte ihn an. Logen schüttelte den Verletzten ab und zog sein Schwert. »Was zum ...« Der Mann hob instinktiv den Arm, und die matt schimmernde Klinge schlug ihm die Hand kurz unter dem Handgelenk ab und bohrte sich tief in seinen Schädel, während schwarze Blutstropfen in die nasse Luft spritzten. Er fiel nach hinten.

Aber damit hatte der Letzte genug Zeit, sich aus seiner Decke zu wickeln und eine Axt zu greifen. Und nun stand er da, vornübergebeugt, die Beine gespreizt, kampfbereit wie ein Mann, der viel Übung hatte. Krähe. Logen hörte, wie sein Atem zischte, der als weißer Nebel aus seinem Mund drang.

»Du hättest besser mit mir anfangen sollen!«, blaffte er.

Das konnte Logen nicht bestreiten. Er hatte sich darauf konzentriert, sie alle umzubringen, und nicht auf die Reihenfolge geachtet. Aber jetzt war es zu spät, sich deswegen Gedanken zu machen. Er zuckte die Achseln. »Ob am Ende oder am Anfang, es kommt aufs Gleiche raus.«

»Das werden wir ja sehen.« Krähe hob prüfend seine Axt in die feuchte Luft, trat von einem Bein aufs andere und suchte nach einer Lücke in Logens Verteidigung. Logen stand still und hielt den Atem an, ließ das Schwert herabhängen und spürte den Griff kalt und nass in seiner geballten Faust. Er war einer von denen, die sich erst dann bewegten, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. »Sag mir mal deinen Namen, solange du noch die Luft dazu hast. Ich weiß doch immer gern, wen ich getötet habe.«

»Du kennst mich schon, Krähe.« Logen hielt nun die andere Hand hoch und spreizte die Finger. Das Mondlicht glänzte auf seiner blutigen Handfläche und auf dem blutigen Stumpf des fehlenden Fingers. »Wir haben bei Carleon Seite an Seite gekämpft. Hätte nicht gedacht, dass du mich so schnell vergessen würdest. Aber die Dinge entwickeln sich ja oft anders, als man erwartet, nicht wahr?«

Jetzt hatte Krähe aufgehört, sich zu bewegen. Logen konnte kaum mehr als das Schimmern seiner Augen in der Dunkelheit erkennen, aber er erkannte an der Art, wie der andere sich hielt, Angst und Zweifel. »Nein«, flüsterte er und schüttelte im Dunkeln den Kopf. »Das kann nicht sein! Neunfinger ist tot!«

»Ist er das?« Logen holte tief Luft und ließ sie langsam wieder in die feuchte Nacht entweichen. »Dann bin ich wohl sein Geist.«

 

Sie hatten sich eine Art Loch ausgehoben, die Unionisten, in dem sie sich nun verschanzten, und hatten Säcke und Kisten als Wall an den Seiten aufgetürmt. Logen sah, dass sich hin und wieder ein Gesicht über dieser Barriere zeigte, das zum Wald hinüberspähte, und das schwache Licht des fast verlöschenden Feuers schimmerte auf den Spitzen von Pfeilen oder Speeren. Sie hatten sich eingegraben und warteten auf den nächsten Angriff. Nachdem sie vorher schon angespannt gewesen waren, machten sie sich jetzt vermutlich in die Hosen. Höchstwahrscheinlich würde einer von ihnen die Nerven verlieren und auf ihn schießen, sobald er sich zeigte. Die verdammten Unionsbogen hatten eine Vorrichtung, die den Pfeil mit nur einer Berührung von der Sehne schnellen ließ, wenn sie einmal gespannt war. Das hätte noch gefehlt, dass er mitten im Niemandsland ohne Grund erschossen wurde, noch dazu von seinen eigenen Leuten, aber er hatte keine andere Wahl. Es sei denn, dass er zu Fuß zur Front weiter marschieren wollte.

Also räusperte er sich und rief laut: »Jetzt bitte nicht schießen!« Eine Sehne löste sich mit lautem Schwirren, und ein Bolzen drang ein paar Schritt links von ihm in einen Baum. Logen duckte sich auf den matschigen Boden. »Nicht schießen, habe ich gesagt!«

»Wer ist da?«

»Ich bin es, Neunfinger!« Schweigen. »Der Nordmann, der mit auf dem Wagen war!«

Eine lange Pause, und es wurde geflüstert. »In Ordnung! Aber kommen Sie langsam zu uns rüber und halten Sie Ihre Hände so, dass wir sie sehen können!«

»Kein Problem!« Er richtete sich wieder auf und löste sich aus dem Dunkel des Waldes, die Hände hoch erhoben. »Nur bitte nicht auf mich schießen, ja? Das ist Ihr Teil der Abmachung!«

Er ging auf das Feuer zu, die Arme ausgestreckt und jeden Augenblick befürchtend, dass ein Bolzen seine Brust durchbohren würde. Er erkannte die Gesichter der Soldaten, mit denen er gereist war, und das des Offiziers, der die Nachschubkolonne befehligte. Einige von ihnen folgten ihm mit ihren Bogen, als der Offizier langsam über den behelfsmäßigen Wall kletterte und dann in den Graben sprang, der vor dem Feuer ausgehoben worden war, allerdings nicht besonders gut. Auf dem Boden hatte sich eine große Wasserlache gebildet.

»Wo, zur Hölle, sind Sie gewesen?«, donnerte der Offizier zornig.

»Ich habe die Kerle verfolgt, die uns heute Abend angegriffen haben.«

»Und haben Sie sie erwischt?«, fragte einer der Soldaten.

»Allerdings.«

»Und?«

»Tot.« Logen nickte zu der Pfütze auf dem Boden des Lochs hinunter. »Sie müssen also heute Nacht nicht im Wasser schlafen. Ist noch was von der Suppe da?«

»Wie viele waren es?«, bellte der Offizier.

Logen stocherte in der Glut des Feuers, aber der Topf war leer. Das war mal wieder typisch. »Fünf.«

»Sie, ganz allein, gegen fünf?«

»Am Anfang waren es sechs, aber einen habe ich gleich erledigt. Der liegt da hinten irgendwo zwischen den Bäumen.« Logen wühlte einen Kanten Brot aus seinem Rucksack und stippte ihn in den Kessel, in der Hoffnung, zumindest noch ein wenig von der Fleischbrühe zu ergattern. »Dann wartete ich, bis sie schliefen, damit ich jeweils nur einen zugleich gegen mich haben würde. Mit der Taktik habe ich bisher immer Glück gehabt.« Allerdings fühlte er sich nicht so, als hätte er Glück gehabt. Seine Hand war im Licht des Feuers noch immer blutbefleckt. Dunkles Blut saß unter seinen Fingernägeln und war tief in die Linien seiner Hand eingedrungen. »Ich hatte immer Glück.«

Der Offizier sah wenig überzeugt aus. »Woher wissen wir, dass Sie keiner von denen sind? Dass Sie nicht für die spionieren? Dass diese Kerle nicht da draußen darauf warten, dass Sie ihnen ein Zeichen geben, wenn wir besonders verwundbar sind?«

»Sie waren auf der ganzen Fahrt besonders verwundbar«, schnaubte Logen. »Aber es ist eine berechtigte Frage. Ich dachte mir schon, dass Sie so denken würden.« Er zog eine Leinentasche von seinem Gürtel. »Deswegen habe ich Ihnen das hier mitgebracht.« Der Offizier runzelte die Stirn, griff nach dem Beutel und sah misstrauisch ins Innere. Dann schluckte er. »Wie ich schon sagte, es waren fünf. Deswegen sind da fünf Daumen drin. Sind Sie damit zufrieden?«

Der Offizier sah eher aus, als wolle ihm schlecht werden, aber er nickte, die Lippen fest zusammengepresst, und hielt Logen den Beutel mit ausgestrecktem Arm wieder hin.

Logen schüttelte den Kopf. »Die können Sie behalten. Mir fehlt ein Finger. Aber ich habe alle Daumen, die ich brauche.«

 

Der Karren kam mit einem Ruck zum Stehen. Die letzte Wegstunde waren sie nur noch im Schneckentempo vorwärtsgekommen. Jetzt war die Straße, wenn man denn dieses Schlammloch überhaupt so nennen wollte, mit herumwuselnden Männern verstopft. Sie bahnten sich ihren matschigen Weg von einem halbwegs trockenen Fleck zum nächsten, quetschten sich im feinen Regen zwischen steckengebliebenen Wagen und unglücklichen Pferden durch, zwischen aufgestapelten Kisten und Fässern und schlecht aufgebauten Zelten. Logen sah einer Gruppe dreckverschmierter Jungs dabei zu, wie sie sich damit abmühten, einen Karren freizubekommen, der bis zu den Achsen im Morast eingesunken war – ohne großen Erfolg. Es war, als ob man einem Heer dabei zusah, wie es langsam in einem Moor versank. Ein Schiffbruch riesigen Ausmaßes, nur auf dem Land.

Die Zahl von Logens Reisegefährten war auf sieben geschrumpft, zusammengekauert und ausgezehrt; die schlaflosen Nächte und das schlechte Wetter auf der Fahrt hatten ihnen arg zugesetzt. Einer war tot, ein Zweiter war mit einem Pfeil im Bein nach Uffrith zurückgeschickt worden. Kein guter Anfang für ihren Einsatz hier im Norden, aber Logen bezweifelte, dass es von nun an besser werden würde. Er kletterte vom Karren herunter, und seine Stiefel sanken sofort in den von vielen Wagenspuren durchzogenen Matsch. Dann dehnte er seinen Rücken, streckte die schmerzenden Beine und zog seinen Rucksack vom Wagen.

»Viel Glück dann«, sagte er zu den Soldaten. Keiner antwortete. Sie hatten ohnehin seit dem Angriff kaum ein Wort zu ihm gesagt. Offenbar hatte sie die ganze Sache mit den Daumen irgendwie verängstigt. Aber solange sie nichts Schlimmeres zu sehen bekamen als das, konnten sie sich glücklich schätzen, dachte Logen. Er zuckte die Achseln und wandte sich ab, um sich nun selbst einen Weg durch den Schlamm zu bahnen.

Nur ein kleines Stück vor ihm bekam der Offizier von der Nachschubkolonne eine kräftige Standpauke von einem hochgewachsenen, grimmig wirkenden Mann in roter Uniform, der so aussah, als könnte er inmitten des ganzen Durcheinanders derjenige sein, der am ehesten etwas zu sagen hatte. Nach kurzem Hinsehen stellte Logen überrascht fest, dass er ihn kannte. Sie hatten bei einem Fest nebeneinander gesessen, in einer ganz anderen Umgebung, und sich über Kriegsführung unterhalten.

Er sah jetzt älter, sehniger und härter aus. Sein Gesicht trug einen finsteren Ausdruck, und in seinem nassen Haar waren viele graue Strähnen, aber er grinste, als er Logen dort stehen sah, und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Bei den Toten«, sagte er in gutem Nordisch, »aber das Schicksal spielt einem schon lustige Streiche. Ich kenne Euch.«

»Ich Euch auch.«

»Neunfinger, nicht wahr?«

»Stimmt. Und Ihr heißt West und kommt aus Angland.«

»Das stimmt auch. Tut mir leid, dass ich Euch kein besseres Willkommen bieten kann, aber die Truppen sind erst vor einem oder zwei Tagen hier eingetroffen, und wie Ihr seht, sind die Dinge noch nicht so, wie sie sein sollten. Nicht dorthin, Idiot!«, brüllte er einem Fahrer zu, der versuchte, seinen Wagen zwischen zwei andere zu zwängen, obwohl die Lücke dazu nicht annähernd groß genug war. »Gibt es in Eurem verdammten Land eigentlich auch so etwas wie Sommer?«

»Den erlebt Ihr gerade. Habt Ihr nicht schon einen Winter hinter Euch?«

»Hm. Da ist wohl was dran. Was führt Euch überhaupt hierher?«

Logen reichte West den Brief. Der Offizier beugte sich darüber, um das Dokument vor dem Regen zu schützen, und las es mit gerunzelter Stirn.

»Von Lord Schatzmeister Hoff höchstpersönlich unterschrieben, was?«

»Ist das gut?«

West schürzte die Lippen, als er Logen den Brief zurückgab. »Ich würde sagen, das kommt darauf an. Es zeigt, dass Ihr ein paar mächtige Freunde habt. Oder mächtige Feinde.«

»Wahrscheinlich von beidem ein wenig.«

West grinste. »Ich habe festgestellt, dass das oft Hand in Hand geht. Ihr seid zum Kämpfen gekommen?«

»So ist es.«

»Gut. Einen Mann mit Erfahrung können wir hier immer gebrauchen.« Er sah den Rekruten zu, die von den Karren kletterten, und stieß einen langen Seufzer aus. »Wir haben hier leider immer noch viel zu viele, denen genau das fehlt. Ihr solltet Euch am besten den übrigen Nordmännern anschließen.«

»Ihr habt Nordmänner bei Euch?«

»Ja, und es werden täglich mehr. Offenbar sind viele nicht mit der Art zufrieden, wie ihr König sie bisher geführt hat. Vor allem sein Abkommen mit den Schanka schmeckt ihnen nicht.«

»Abkommen? Mit den Schanka?« Logen runzelte die Stirn. Selbst Bethod hätte er nicht zugetraut, dass er einmal so tief sinken würde, aber es war andererseits nicht das erste Mal, dass er selbst in dieser Hinsicht enttäuscht wurde. »Die Plattköpfe kämpfen für ihn?«

»Ganz genau. Er hat Plattköpfe, und wir haben Nordmänner. Es ist schon eine verrückte Welt.«

»Aber wirklich«, sagte Logen kopfschüttelnd. »Wie viele sind denn bei Euch?«

»Nach letzter Zählung ungefähr dreihundert, obwohl sie sich nicht besonders gern zählen lassen.«

»Dann werde ich jetzt dafür sorgen, dass es dreihundertundeiner werden, wenn Ihr mich haben wollt.«

»Sie lagern dort hinten am linken Flügel«, sagte West und deutete auf die dunkle Baumreihe unter dem Abendhimmel.

»In Ordnung. Wer ist ihr Häuptling?«

»Er heißt Hundsmann.«

Logen starrte ihn einen Augenblick an. »Er heißt wie?« »Hundsmann. Kennt Ihr ihn?«

»Das kann man wohl sagen«, flüsterte Logen, und ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht. »Das kann man wohl sagen.«

 

Die Dämmerung zog herauf, schnell gefolgt von der Nacht, und sie hatten gerade das lange Feuer angezündet, als Logen zu ihnen heraufkam. Die Carls, die sich daneben niederließen, waren als schwarze Umrisse ihrer Köpfe und Schultern vor den Flammen zu erkennen. Ihre Stimmen und ihr Gelächter klangen laut in die stille Abendluft, nun, da der Regen aufgehört hatte.

Es war lange her, seit er eine größere Gruppe von Menschen hatte Nordisch sprechen hören, und es klang seltsam in seinen Ohren, obwohl es doch seine Muttersprache war. Hässliche Erinnerungen kamen zurück. Eine Menschenmenge, die ihn anbrüllte, die ihn anfeuerte. Männer, die laut brüllend angriffen, die ihre Siege feierten, die ihre Toten beklagten. Irgendwoher zog der Geruch von gekochtem Fleisch zu ihm. Ein süßer, voller Geruch, der seine Nase kitzelte und seinen Magen knurren ließ.

Eine Fackel war an einem Pfahl am Weg befestigt, und ein gelangweilt aussehender junger Kerl stand mit einem Speer daneben. Er sah Logen misstrauisch an, als er sich näherte. Hatte vermutlich den Kürzeren gezogen, dass er hier Wache halten musste, während die anderen aßen, und er sah auch nicht besonders glücklich aus.

»Was willst du?«, knurrte er.

»Ist der Hundsmann hier?«

»Ja, wieso?«

»Ich muss ihn sprechen.«

»Was, jetzt?«

Ein anderer kam zu ihnen, der das beste Mannesalter schon hinter sich gelassen hatte, ein Krieger mit grauem Haar und lederartigem Gesicht. »Was ist hier los?«

»Ein Neuer«, knurrte der Junge. »Will den Häuptling sprechen.«

Der Alte sah Logen mit zusammengekniffenen Augen an. »Kenne ich dich, Freund?«

Logen hob sein Gesicht, so dass das Licht der Fackel darauf fiel. Es war immer besser, einem anderen in die Augen zu sehen, sich zu zeigen und zu beweisen, dass man keine Angst hatte. So hatte sein Vater es ihm beigebracht. »Ich weiß nicht. Kennst du mich?«

»Woher bist du denn gekommen? Von Schlohmähnes Truppe, oder?«

»Nein. Ich habe allein gearbeitet.«

»Allein? Nun denn. Ich glaube, ich erkenne ...« Die Augen des Alten weiteten sich, sein Kiefer klappte nach unten, und sein Gesicht wurde kalkweiß. »Bei all den verdammten Toten«, hauchte er und stolperte einen Schritt zurück. »Es ist der Blutige Neuner!«

Vielleicht hatte Logen gehofft, dass ihn niemand erkennen würde. Dass sie alle ihn vergessen hätten. Dass sie neue Sorgen hätten und er ein Mann wie jeder andere sein würde. Aber jetzt sah er den Gesichtsausdruck des Alten, der den Anschein erweckte, als wolle er sich gleich in die Hosen machen. Und damit war ihm klar, wie es sein würde. Genau wie früher. Und das Schlimmste daran war: Nun, da Logen erkannt worden war und Angst, Entsetzen und Respekt in den Augen des anderen entdeckte, war er sich nicht sicher, ob ihm genau das nicht tatsächlich auch gefiel. Er hatte es sich verdient, oder nicht? Immerhin waren Tatsachen nun einmal Tatsachen.

Er war der Blutige Neuner.

Der Junge hatte es noch immer nicht begriffen. »Wollt ihr mich verarschen? Als Nächstes erzählt ihr mir wahrscheinlich, dass Bethod persönlich hier vorbeikommt, was?« Aber keiner von ihnen lachte, und Logen hob die Hand und blickte durch die Lücke, die sein Mittelfinger hinterlassen hatte. Der Junge sah von dem Stumpf auf den zitternden alten Mann und wieder zurück.

»Ach du Scheiße«, krächzte er.

»Wo ist dein Häuptling, Kleiner?« Logen erschrak, als er seine eigene Stimme hörte. Flach und tot und kalt wie der Winter.

»Er ist ... er ist ...« Der Junge deutete mit einem bebenden Finger auf die Feuer.

»Gut. Dann such ich ihn eben selbst.« Die zwei machten Logen stolpernd Platz. Als er an ihnen vorbeiging, zeigte er nicht direkt ein Lächeln; es war vielmehr so, dass er die Lippen zurückzog, um seine Zähne zu blecken. Schließlich galt es einen Ruf zu bewahren. »Keine Sorge«, zischte er ihnen ins Gesicht. »Ich bin auf eurer Seite, oder nicht?«

Niemand sagte auch nur ein Wort zu ihm, als er hinter den Carls vorbeiging und auf die Stirnseite des Feuers zuhielt. Ein paar Männer sahen ihn über die Schulter hinweg an, aber er zog nicht mehr Blicke auf sich als jeder Neuankömmling in einem solchen Lager. Sie hatten noch keine Ahnung, wer er war, aber bald würden sie es wissen. Der Junge und der Alte würden es flüsternd weitererzählen, und das Geflüster würde sich rund um das Feuer verbreiten, wie es nun einmal immer war, und dann würden ihn wieder alle ansehen.

Er zuckte zusammen, als sich ein großer Schatten neben ihm bewegte, so groß, dass er ihn zunächst für einen Baum gehalten hatte. Ein riesiger, großer Mann, der sich den Bart kratzte und ins Feuer lächelte. Tul Dum. Den Donnerkopf konnte man nicht verwechseln, noch nicht einmal in diesem Halblicht. Bei einem Mann seiner Größe war das unmöglich. Logen fragte sich wieder einmal aufs Neue, wie es ihm je gelungen war, den Riesen zu besiegen.

In diesem Augenblick fühlte er den seltsamen Drang, den Kopf zu senken und einfach weiterzugehen, in die Nacht zu verschwinden und nie mehr zurückzukehren. Dann würde er nie wieder der Blutige Neuner sein müssen. Dann gäbe es nur einen Frischling und einen alten Mann, die schwören würden, dass sie eines Nachts einen Geist gesehen hatten. Er hätte in die Ferne ziehen und ein neues Leben anfangen können, wo er sein durfte, wer immer er sein wollte. Aber das hatte er schon einmal probiert, und es hatte ihm nicht gut getan. Die Vergangenheit lauerte stets direkt hinter ihm und saß ihm im Nacken. Es war an der Zeit, sich umzudrehen und ihr ins Gesicht zu sehen.

»Alles klar bei euch, Großer?« Tul spähte in der Dämmerung zu ihm hinüber, und orangefarbenes Licht und schwarze Schatten bewegten sich auf seinem kantigen Felsgesicht und seinem dicken Bartteppich.

»Wer ... warte mal ...« Logen schluckte. Jetzt, da er darüber nachdachte, hatte er keine Ahnung, wie die anderen es finden würden, wenn sie ihn plötzlich wiedersahen. Immerhin waren sie, bevor sie Freunde geworden waren, lange genug Feinde gewesen. Jeder von ihnen hatte gegen ihn gekämpft, und jeder hatte gute Gründe dazu gehabt. Dann war er nach Süden abgehauen und hatte sie den Schanka überlassen. Was, wenn er nach einem Jahr Trennung oder mehr nichts als kalte Blicke erntete?

Dann aber schnappte ihn Tul und umfing ihn in einer Umarmung, die ihm sämtliche Knochen knacken ließ. »Du bist am Leben!« Der Riese ließ ihn kurz los, wie um zu überprüfen, dass er auch den Richtigen gepackt hielt, und dann umarmte er ihn erneut.

»Ja, ich bin noch am Leben«, keuchte Logen, der gerade genug Luft in den Lungen hatte, um diese Worte hervorzustoßen. Nun sah es wohl doch nach einem warmen Willkommen aus.

Tul grinste über sein ganzes großes Gesicht. »Komm mit.« Und damit bedeutete er Logen, ihm zu folgen. »Die Jungs werden sich bepissen!«

Ihm schlug das Herz bis zum Hals, als er Tul nachging, zur Stirnseite des Feuers, wo der Häuptling mit jenen Namhaften Männern lagerte, die ihm am nächsten standen. Und dort waren sie, dort saßen sie auf dem Boden. Der Hundsmann saß in der Mitte und raunte Dow leise etwas zu. Grimm kauerte auf der anderen Seite, auf einen Ellenbogen gestützt, und zupfte an der Befiederung seiner Pfeile. Es war, als ob sich nichts verändert hatte.

»Ich hab hier jemanden, der dich sprechen will, Hundsmann«, sagte Tul, der bei seinem Versuch, die Überraschung zu verbergen, ein wenig krächzte.

»Hast du, ja?« Hundsmann sah zu Logen auf, der sich jedoch in den Schatten hinter Tuls breiter Schulter verbarg. »Kann das nicht warten, bis wir gegessen haben?«

»Weißt du, ich glaube nicht.«

»Wieso? Wer ist es denn?«

»Wer es ist?« Tul packte Logen an der Schulter und schubste ihn mit einem Ruck ins Licht des Feuers. »Niemand Besonderes, bloß der verdammte Neunfinger-Logen!« Logens Stiefel glitt im Schlamm aus, fast hätte er sich auf den Hintern gesetzt, und er musste mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sofort verstummten alle Gespräche am Feuer, und alle Gesichter waren auf ihn gerichtet. Zwei lange, fröstelnde Reihen im flackernden Licht, und es war nichts zu hören außer dem seufzenden Wind und dem knisternden Feuer. Der Hundsmann starrte ihn an, als sähe er die Toten umgehen, und sein Mund klappte mit jedem Augenblick weiter und weiter auf.

»Ich dachte, ihr wärt alle umgebracht worden«, sagte Logen, als er wieder sicher stand. »Aber wahrscheinlich kann man auch zu realistisch sein.«

Nun kam Hundsmann langsam auf die Beine. Er streckte die Hand aus, und Logen schlug ein.

Es gab nichts zu sagen. Nicht für Männer, die so viel miteinander erlebt hatten wie sie beide, beim Kampf gegen die Schanka, bei der Überquerung der Berge, in den Kriegen und danach. Lange Jahre. Hundsmann drückte Logen die Hand, und Logen legte seine zweite darüber, und dann packte der Hundsmann ebenfalls seine andere Hand dazu. Sie grinsten einander an und nickten, und alles war wieder genau so, wie es immer gewesen war. Worte waren nicht nötig.

»Grimm. Schön, dich zu sehen.«

»Hm«, brummte Grimm, reichte ihm einen Becher und wandte sich dann wieder seinen Pfeilen zu, als ob Logen eben nur kurz pinkeln gegangen und nun zurückgekommen wäre. Logen musste grinsen. Er hatte nichts anderes erwartet.

»Versteckt sich der Schwarze Dow dahinten vielleicht?«

»Ich hätte mich versteckt, wenn ich gewusst hätte, dass du kommst.« Dow bedachte Logen mit einem Blick, in dem kein reines Willkommen lag. »Wenn das nicht Neunfinger höchstpersönlich ist. Hast du nicht gesagt, er sei über eine Klippe gestürzt?«, bellte er den Hundsmann an.

»Das war’s, was ich gesehen habe.«

»Oh, ich bin auch tatsächlich dort heruntergestürzt.« Logen erinnerte sich an den Wind in seinem Mund, wie Felswände und Schnee um ihn herumgerauscht waren, und an den Aufprall, als ihm das Wasser alle Luft aus den Lungen gedrückt hatte. »Ich bin dort runter, wurde dann aber halbwegs in einem Stück an Land gespült.« Hundsmann machte ihm Platz auf den Fellen, die am Feuer ausgebreitet worden waren. Er setzte sich, und die anderen gesellten sich zu ihm.

Dow schüttelte den Kopf. »Du warst schon immer ein Drecksack, der viel Glück gehabt hat, wenn’s ums Überleben ging. Ich hätte wissen sollen, dass du wieder auftauchen würdest.«

»Ich dachte wirklich, die Plattköpfe hätten euch alle erwischt«, sagte Logen. »Wie seid ihr aus dieser Klemme rausgekommen?«

»Dreibaum hat uns rausgeholt«, sagte Hundsmann.

Tul nickte. »Hat uns über die Berge geführt, dann in wilder Jagd durch den Norden und schließlich bis nach Angland.«

»Und den ganzen Weg über habt ihr wahrscheinlich gezankt wie ein Haufen alter Weiber, stimmt’s?«

Hundsmann grinste in Dows Richtung. »Es wurde schon ein bisschen gemeckert.«

»Wo ist denn Dreibaum überhaupt?« Logen freute sich sehr darauf, ein Wort mit dem alten Krieger zu wechseln. »Tot«, sagte Grimm.

Logen verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Er hatte es schon fast erwartet, weil Hundsmann inzwischen die Gruppe führte. Tul neigte den großen Kopf. »Ist im Kampf gefallen. Hat einen Ausfall geführt, gegen die Schanka. Starb dann im Kampf mit diesem Ding. Diesem Gefürchteten.«

»Verdammtes abartiges Vieh.« Dow rotzte etwas Spucke in den Schlamm.

»Was ist mit Forley?«

»Auch tot«, bellte Dow. »Er ging nach Carleon, um Bethod zu warnen, dass die Schanka über die Berge kämen. Calder ließ ihn töten, rein aus Spaß. Arschloch!« Wieder spuckte er aus. Dow hatte schon immer gern gespuckt.

»Tot.« Logen schüttelte den Kopf. Forley tot und Dreibaum auch, das war eine verdammte Schande. Aber es war noch nicht so lange her, dass er gedacht hätte, sie alle seien wieder zu Schlamm geworden, und von daher war es schon eine gute Sache, dass immerhin noch vier von ihnen auf den Beinen waren. »Tja. Gute Männer, alle beide. Die besten, und so wie es sich anhört, sind sie gut gestorben. So gut jedenfalls, wie es einem Mann eben möglich ist.«

»Joh«, sagte Tul und hob einen Becher. »So gut, wie es eben geht. Auf die Toten.«

Sie alle tranken schweigend, und Logen leckte sich die Lippen, als er das Bier geschmeckt hatte. Es war zu lange her. »Tja, nun ist ein Jahr vergangen«, knurrte Dow. »Wir haben getötet und sind einen langen Weg gekommen, und wir haben in einer verdammt üblen Schlacht gekämpft. Wir haben zwei Männer verloren, und wir haben einen neuen Häuptling. Was, zur Hölle, hast du getrieben, Neunfinger?«

»Nun ja ... das ist eine lange Geschichte.« Logen fragte sich, ob man sie kurz erzählen konnte, aber er war sich nicht sicher. »Ich dachte, die Schanka hätten euch alle erledigt, denn das Leben hat mich gelehrt, stets das Schlimmste zu erwarten. Daher machte ich mich auf nach Süden, und ich geriet an diesen Zauberer. Mit ihm ging ich auf eine Reise, übers Meer in ein fernes Land, um so ein Ding zu finden, das dann, als wir an unserem Ziel ankamen ... gar nicht da war.« Jetzt, wo er das alles erzählte, klang es mehr als nur ein bisschen verrückt.

»Was für’n Ding denn?«, fragte Tul, der völlig verblüfft aus der Wäsche guckte.

»Weißt du was?« Logen saugte an seinen Zähnen und genoss den Geschmack des Biers. »Eigentlich weiß ich das überhaupt nicht.« Sie alle sahen einander an, als hätten sie noch nie eine derart dämliche Geschichte gehört, und Logen musste zugeben, dass das vermutlich der Wahrheit entsprach. »Aber das ist jetzt auch egal. So, wie’s aussieht, ist das Leben gar nicht so schlecht, wie ich immer dachte.« Und damit gab er Tul einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken.

Der Hundsmann blies die Backen auf. »Na, wir sind jedenfalls froh, dass du wieder da bist. Du willst jetzt bestimmt auch wieder deinen Platz einnehmen, oder?«

»Meinen Platz?«

»Du übernimmst doch jetzt wieder den Befehl, oder? Ich meine, du warst doch unser Häuptling.«

»Das war ich vielleicht mal, aber ich habe nicht die Absicht, weiterzumachen. So wie’s aussieht, sind die Jungs doch ganz zufrieden damit, wie es jetzt läuft.«

»Aber du weißt viel mehr als ich darüber, wie man Männer anführt ...«

»Ich weiß nicht, ob das stimmt. Wenn ich zu bestimmen hatte, ging es für die meisten nicht gut aus, oder? Nicht für uns, nicht für die, die mit uns kämpften, und auch nicht für unsere Gegner.« Logen ließ angesichts der Erinnerungen die Schultern hängen. »Ich würd’s wieder machen, wenn du willst, aber lieber noch würde ich dir folgen. Ich hatte meine Zeit, und es war keine gute.«

Der Hundsmann sah aus, als hätte er auf eine andere Antwort gehofft. »Na gut ... wenn du dir sicher bist ...«

»Das bin ich.« Damit klopfte ihm Logen auf die Schulter. »Ist nicht leicht, Häuptling zu sein, was?«

»Nein«, brummte der Hundsmann. »Das ist es verdammt noch mal nicht.«

»Davon mal abgesehen denke ich, dass verdammt viele von den Jungs hier mit mir schon Zwistigkeiten hatten, und die werden sich nicht unbedingt freuen, mich wiederzusehen.« Logen sah auf die harten Gesichter entlang des Feuers, hörte das Gemurmel, in dem immer wieder sein Name auftauchte. Es war zu leise, um zu verstehen, was tatsächlich gesagt wurde, aber er konnte sich schon denken, dass es keine Nettigkeiten waren.

»Sie werden ziemlich froh sein, dich auf ihrer Seite zu haben, wenn es ums Kämpfen geht, mach dir darüber keine Sorgen.«

»Vielleicht.« Es war eine Schande, dass es wohl erst zum Töten kommen musste, damit ihm die Leute überhaupt nur zunicken würden. Jetzt gab es eher scharfe Blicke aus dem Dunkel, und etliche Augen wandten sich wieder ab, wenn er zurückguckte. Es gab nur einen Mann, fast noch ein Junge, der es wagte, ihm in die Augen zu sehen. Einen großen jungen Kerl mit langem Haar, der ein Stück weg vom Feuer saß.

»Wer ist das?«, fragte Logen.

»Wer ist was?«

»Der Bursche da, der mich anstarrt.«

»Das ist Espe.« Hundsmann saugte an seinen spitzen Zähnen. »Der hat verdammt viel Mumm, dieser Espe. Hat mit uns jetzt schon ein paar Mal gekämpft, und er ist ziemlich gut. Als Erstes sollte ich wohl sagen, dass er ein guter Mann ist, dem wir einiges verdanken. Und als Zweites sollte ich hinzufügen, dass er Rasselkopfs Sohn ist.«

Logen fühlte, wie eine Welle der Übelkeit über ihn hinwegschwappte. »Er ist was?«

»Sein anderer Sohn.«

»Der Kleine?«

»Ist schon ziemlich lange her, die ganze Sache. Kleine Jungs werden erwachsen.«

Es mochte lange her sein, aber Espe hatte dennoch nichts vergessen. Das sah Logen sofort. Nichts wurde je vergessen, hier oben im Norden, und er hätte gar nicht erst darauf hoffen sollen, dass es anders sein könnte. »Ich sollte irgendwas zu ihm sagen. Wenn wir zusammen kämpfen müssen ... ich sollte etwas sagen.«

Der Hundsmann verzog das Gesicht. »Vielleicht solltest du das bleiben lassen. An manche Wunden rührt man besser nicht. Iss – und rede morgen früh mit ihm. Im Licht des Tages klingt alles ein wenig angenehmer. Oder vielleicht kommst du bis dahin auch zu dem Schluss, es gar nicht zu tun.«

»Hm«, brummte Grimm.

Logen stand auf. »Wahrscheinlich hast du Recht, aber besser, man geht eine Sache gleich an ...«

»Als sich lange vor ihr zur fürchten.« Der Hundsmann nickte dem Feuer zu. »Hab dich vermisst, Logen, das ist Tatsache.«

»Ich dich auch, Hundsmann, ich dich auch.«

Er ging durch die Dunkelheit, die voller Gerüche nach Rauch und Fleisch und Männern hing, lief hinter den Carls vorbei, die am Feuer saßen. Er merkte, dass sie die Schultern zusammenzogen und miteinander tuschelten, als er an ihnen vorüberging. Er wusste, was sie dachten. Der Blutige Neuner, direkt hinter mir, und es gibt keinen Dreckskerl in der ganzen Welt, den man weniger gern im Rücken haben möchte. Espe beobachtete ihn, als er auf ihn zukam, mit einem Auge, das kalt durch sein langes Haar spähte, und er hatte die Lippen zu einem festen Strich zusammengepresst. Zum Essen hatte er sein Messer gezückt, ein Messer, das sicher auch dazu taugte, einen Mann niederzustechen. Logen sah, wie der Feuerschein auf der Schneide glomm, als er sich neben ihm auf den Boden hockte.

»Du bist also der Blutige Neuner.«

Logen zog eine Grimasse. »Das bin ich wohl.«

Espe nickte und starrte ihn weiter an. »So sieht also der Blutige Neuner aus.«

»Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.«

»O nein, das bin ich nicht. Es ist gut, nach all der Zeit ein Gesicht zu dem Namen zu kennen.«

Logen sah zu Boden und suchte fieberhaft nach einem Weg, wie er die Sache angehen konnte. Nach irgendeiner Art, wie er die Hände bewegen oder das Gesicht verziehen konnte, nach Worten, mit denen er zumindest ansatzweise etwas würde gerade rücken können. »Es waren harte Zeiten damals«, brachte er schließlich hervor.

»Härter als jetzt?«

Logen kaute an seiner Unterlippe. »Na ja, das vielleicht nicht.«

»Die Zeiten sind immer hart, nehme ich an«, sagte Espe mit zusammengebissenen Zähnen. »Das ist keine Entschuldigung dafür, so einen Dünnschiss zu veranstalten.«

»Da hast du recht. Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Ich bin nicht stolz darauf. Weiß auch nicht, was ich jetzt sonst noch sagen könnte, außer dass ich hoffe, dass du es irgendwie von dir wegschieben kannst, wenn wir beide Seite an Seite kämpfen werden.«

»Ich will ehrlich zu dir sein«, sagte Espe, und seine Stimme klang erstickt, als ob er versuchte, nicht loszubrüllen oder zu heulen, oder vielleicht beides. »Es ist ziemlich viel verlangt, das wegzuschieben. Du hast meinen Bruder umgebracht, nachdem du versprochen hattest, Gnade walten zu lassen, und du hast ihm Arme und Beine abgeschlagen und seinen Kopf an Bethods Standarte genagelt.« Seine Knöchel traten weiß hervor, während er den Griff seines Messers umklammerte, und Logen sah, dass es ihn eine Menge Kraft kostete, ihn nicht ins Gesicht zu stechen. Er konnte es ihm nicht verübeln. Kein bisschen. »Mein Vater war danach nie wieder derselbe. Er hatte keinen Mumm mehr. Lange Jahre habe ich davon geträumt, dich umzubringen, Blutiger Neuner.«

Logen nickte langsam. »Na ja, mit dem Traum wirst du nicht der Einzige sein.«

Inzwischen hatte er noch weitere kalte Blicke aufgefangen, die man ihm über die Flammen hinweg zuwarf. Finstere, grimmige Gesichter in den Schatten und im flackernden Licht. Männer, die er nicht kannte, die vor Angst beinahe bebten, und solche, die eine alte Rechnung mit ihm offen hatten. Viel Angst, viele offene Rechnungen. Die Leute, die sich darüber freuten, dass er noch am Leben war, konnte er an einer Hand abzählen. Und das, obwohl ihm ein Finger fehlte. Und das hier war die Seite, für die er kämpfen wollte.

Der Hundsmann hatte recht gehabt. An manche Wunden rührte man besser nicht. Logen stand auf; seine Schultern prickelten, als er zur Stirnseite des Feuers zurückging, wo ihm das Reden leichter fiel. Er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass Espe ihn immer noch genauso gern töten wollte wie zuvor, aber das war keine Überraschung.

Man musste realistisch sein. Es gab wahrhaftig keine Worte, die das hätten geraderücken können, was er getan hatte.