ÜBLE SCHULDEN

Herr Superior Glokta,

obwohl wir einander niemals in aller Form vorgestellt wurden, habe ich in den letzten Wochen doch sehr häufig Ihren Namen gehört. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, macht es den Anschein, als ob Sie jeden Raum, in den ich komme, gerade vor mir verlassen haben oder demnächst betreten werden, und als ob jede Verhandlung, die ich führe, durch Ihre Aktionen zusätzlich erschwert wird.
Obwohl unsere Auftraggeber in dieser Sache höchst unterschiedliche Ziele verfolgen, gibt es dennoch keinen Grund, weshalb wir uns nicht wie zivilisierte Menschen benehmen sollten. Möglicherweise können Sie und ich zu einer Übereinkunft kommen, die uns beiden weniger Arbeit und bessere Fortschritte beschert.
Ich werde morgen ab sechs Uhr in dem Schlachthaus nahe den Vier Ecken auf Sie warten. Bitte entschuldigen Sie, dass ich ein derart lautes Plätzchen für unser Treffen gewählt habe, aber ich denke, dass unsere Unterhaltung besser unbelauscht bleiben sollte.
Auch vermute ich, dass sich keiner von uns beiden von etwas Schmutz unter seinen Stiefeln abschrecken lässt.

Harten Morrow
,
Sekretär von Kronrichter Marovia

Selbst wenn man es wohlmeinend betrachtete, stank es hier bestialisch. Offenbar duften ein paar Hundert lebende Schweine weniger süß, als man vermuten möchte. Ihre stinkenden Hinterlassenschaften machten den Boden des schattenumlagerten Lagerhauses rutschig, und der verzweifelte Lärm, den sie veranstalteten, durchdrang die schwere Luft. Sie schnauften und quiekten, grunzten und rempelten sich gegenseitig in den engen Pferchen an, als ob sie spürten, dass das Messer des Schlächters ihnen nicht mehr fern war. Aber, wie Morrow bereits vermutet hatte, war Glokta niemand, der sich von Lärm oder Messern oder auch einem unangenehmen Geruch abschrecken ließ. Immerhin verbringe ich die Tage damit, mich durch sprichwörtlichen Dreck zu wühlen. Wieso also nicht einmal durch richtigen? Der rutschige Untergrund war allerdings ein größeres Problem. Er hinkte mit winzigen Schritten voran, und sein Bein brannte. Man stelle sich vor, ich würde mit Schweinemist besudelt zu diesem Treffen erscheinen. Das würde wohl kaum dazu dienen, den rechten Eindruck furchteinflößender Gewissenlosigkeit zu vermitteln, oder?

Jetzt sah er auch Morrow, der an einem der Pferche lehnte. Wie ein Bauer, der seine preisgekrönte Herde bewundert. Glokta schlurfte mit schmatzenden Stiefeln zu ihm hinüber, schmerzerfüllt und schwer atmend, während ihm der Schweiß über den Rücken rann. »Nun, Morrow, Sie wissen aber einem Mädchen das Gefühl zu geben, dass es etwas ganz Besonderes ist.«

Marovias Sekretär grinste ihm entgegen. Er war ein kleiner Mann mit rundem Gesicht und Augengläsern. »Superior Glokta, darf ich Ihnen als Erstes versichern, dass ich vor Ihren Leistungen in Gurkhul den größten Respekt habe, ebenso wie vor Ihren Verhandlungsmethoden, und ...«

»Ich bin nicht hier, um Komplimente auszutauschen, Morrow. Wenn Sie nichts Wichtigeres zu sagen haben, dann könnte man das vielleicht auch an einem Ort erledigen, wo es besser riecht.«

»Und zweifelsohne in angenehmerer Gesellschaft. Gut, dann zum Geschäft. Wir leben in schwierigen Zeiten.« »So weit kann ich Ihnen folgen.«

»Veränderungen. Unsicherheit. Unzufriedenheit unter den Bauern ...«

»Es ist wohl schon ein wenig mehr als Unzufriedenheit, meinen Sie nicht?«

»Dann reden wir von mir aus von Aufständen. Hoffen wir, dass das Vertrauen des Geschlossenen Rates in Oberst Luthar gerechtfertigt ist und dass er die Rebellen vor den Toren aufhalten kann.«

»Ich würde nicht darauf bauen, dass sein Leichnam einen Pfeil aufhalten könnte, aber ich nehme an, der Geschlossene Rat hatte gute Gründe für seine Wahl.«

»So ist es doch immer. Obwohl die Mitglieder natürlich nicht stets einer Meinung sind.« Sie sind im Grunde nie einer Meinung. Das ist sozusagen die Grundregel dieser dämlichen Institution. »Aber es sind jene, die ihnen dienen«, Morrow sah bedeutungsschwer über den Rand seiner Augengläser, »die unter ihrer mangelnden Einigkeit leiden müssen. Vor allem wir beide, denke ich, sind einander schon viel zu sehr auf die Zehen getreten.«

»Hm«, brummte Glokta voll Verachtung und bewegte seine tauben Zehen im Stiefel hin und her. »Ich hoffe, dass Ihre Füße noch nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn Sie meinetwegen humpeln müssten. Haben Sie vielleicht eine Lösung für unser Problem?«

»Das kann man wohl sagen.« Morrow sah lächelnd auf die Schweine, die quiekten und grunzten und sich übereinander drängten. »Wir hatten Schweine auf dem Bauernhof, auf dem ich aufwuchs.« Ach du liebe Güte, bloß jetzt keine Lebensbeichte. »Es war meine Aufgabe, sie zu füttern. Dazu musste ich morgens so früh aufstehen, dass es noch dunkel war und der Atem weiß wie Raureif vor dem Gesicht stand.« Ah, und dann malt er ein so stimmungsvolles Bild! Der junge Morrow, bis zu den Knien im Dreck, wie er den Schweinen beim Fressen zusieht und von einer Flucht aus seinem Dasein träumt, von einem aufregenden, kühnen Leben in der schimmernden großen Stadt! Morrow grinste zu ihm empor, und das schummrige Licht glänzte auf seinen Brillengläsern. »Wissen Sie, diese Viecher würden alles fressen. Sogar Krüppel.«

Ah. Daher weht der Wind.

In diesem Augenblick entdeckte Glokta einen Mann, der sich verstohlen aus der entlegensten Ecke des Lagers auf sie zu bewegte. Er war ein grobschlächtig aussehender Kerl in einem zerlumpten Mantel, der sich in den Schatten hielt. Einen Arm hielt er an seine Seite gepresst, die Hand unter dem Ärmel verborgen. Gerade so, als ob er dort ein Messer versteckt, und das nicht einmal sehr geschickt. Besser wäre es, mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf uns zuzukommen und das Messer deutlich sichtbar zu tragen. Es gibt Hunderte von Gründen, in einem Schlachthaus eine Klinge bei sich zu haben. Aber nur einen, sie zu verstecken.

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und verzog das Gesicht, als sein Hals knackte. Ein weiterer Mann, der dem ersten durchaus ähnelte, schlich aus dieser Richtung auf ihn zu. Glokta hob die Augenbrauen. »Ein paar Halsabschneider? Wie wenig einfallsreich.«

»Vielleicht nicht besonders einfallsreich, aber Sie werden sicher feststellen, dass sie durchaus ihren Zweck erfüllen.«

»Also soll ich in einem Schlachthaus abgeschlachtet werden, wie, Morrow? Bei den Metzgern niedergemetzelt! Sand dan Glokta, Herzensbrecher, Gewinner des Turniers, Held des gurkhisischen Krieges, von einem Dutzend Schweinen ausgeschissen!« Er schnaubte vor Lachen und musste sich daraufhin ein wenig Rotz von seiner Oberlippe wischen.

»Es freut mich, dass Ihnen der Aberwitz daran gefällt«, sagte Morrow, der ein wenig irritiert wirkte.

»Aber ja doch. An die Schweine verfüttert. Das ist so offensichtlich, dass ich ganz ehrlich zugeben muss, es nicht erwartet zu haben.« Glokta stieß einen langen Seufzer aus. »Aber etwas nicht zu erwarten und nicht darauf vorbereitet zu sein, das sind zwei verschiedene Dinge.«

Die Bogensehne war über den Lärm der Schweine nicht zu hören. Der grobschlächtige Mann schien zunächst einfach nur auszurutschen und ohne Grund sein schimmerndes Messer fallen zu lassen, bevor er selbst zu Boden stürzte. Dann sah Glokta den Bolzen, der in seiner Seite steckte. Das ist nun wirklich keine große Überraschung, aber dennoch ist es jedes Mal wieder ein bisschen wie Zauberei.

Der gedungene Mörder am anderen Ende des Lagerhauses trat entsetzt einen Schritt zurück und übersah dabei Praktikalin Vitari, die lautlos über das Gatter des leeren Pferchs hinter ihm stieg. Metall blitzte in der Dunkelheit auf, als sie die Sehnen auf der Rückseite seines Knies durchtrennte und ihn niederstürzen ließ, und sein Schrei verstummte sofort, als sie ihm ihre Kette fest um den Hals zog.

Severard ließ sich links neben Glokta leichtfüßig von den Dachbalken fallen, so dass der Dreck schmatzend unter seinen Stiefeln nachgab. Er schlenderte mit dem Flachbogen über der Schulter zu dem Mann, den er niedergeschossen hatte, und schubste das Messer, das jenem aus der Hand gefallen war, mit dem Fuß in die Dunkelheit. »Ich schulde dir fünf Mark«, rief er Frost zu. »Verdammt, hab ich doch glatt sein Herz verfehlt. Die Leber vielleicht?«

»Leher?«, grunzte der Albino, der aus den Schatten auf der anderen Seite des Lagerhauses hervortrat. Der Verletzte mühte sich auf die Knie und umklammerte dabei den Schaft, der aus seiner Seite ragte, das verzerrte Gesicht dreckbeschmiert. Frost hob seinen Stock, als er an ihm vorüberkam, und gab ihm einen harten Schlag auf den Hinterkopf, der seine Schreie mit einem Knacken beendete und ihn mit dem Gesicht nach vorn in den Dreck sinken ließ. Vitari hatte ihren Gegner währenddessen niedergerungen, kniete auf seinem Rücken und zog die Kette fest um seinen Hals. Seine Gegenwehr wurde schwächer und schwächer und verebbte schließlich ganz. Ein bisschen mehr totes Fleisch auf dem Boden des Schlachthauses.

Glokta sah wieder zu Morrow. »Wie schnell sich die Dinge ändern, was, Harlen? Den einen Augenblick sucht jeder deine Nähe. Und im nächsten?« Er tippte mit der schmutzigen Spitze seines Stocks gegen seinen verkrüppelten Fuß. »Im nächsten bist du erledigt. Es ist eine harte Lektion.« Das sollte ich aus eigener Erfahrung wissen.

Marovias Sekretär wich zurück; er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und streckte eine Hand vor sich aus. »Nun warten Sie ...«

»Wieso?« Glokta schob die Unterlippe vor. »Glauben Sie wirklich, dass wir nach all dem noch richtig gute Freunde werden können?«

»Vielleicht können wir zu einer ...«

»Es stört mich nicht, dass Sie versucht haben, mich zu ermorden. Aber es so dumm anzustellen – wir sind doch beide Profis, Morrow. Es beleidigt mich, dass Sie ernsthaft glaubten, mit so etwas bei mir Erfolg zu haben.«

»Ich bin verletzt«, raunte Severard.

»Getroffen«, sang Vitari, und ihre Kette rasselte in der Dunkelheit.

»Hödlich beweidicht«, knurrte Frost und trieb Morrow wieder zum Gatter zurück.

»Sie hätten weiterhin Hoff den besoffenen Arsch lecken sollen. Oder vielleicht wären Sie sogar am besten auf dem Bauernhof geblieben, bei Ihren Schweinen. Harte Arbeit, am frühen Morgen und so, mag sein. Aber auch so kann man seinen Lebensunterhalt verdienen.«

»Warten Sie! Warten Sieeeeeeurgh.«

Severard hatte Morrows Schulter von hinten gepackt, ihm sein Messer seitlich in den Hals gerammt und ihm so ruhig, als ob er einen Fisch ausnähme, die Kehle herausgeschnitten.

Blut spritzte über Gloktas Schuhe, und er taumelte zurück, wobei ein heftiger Schmerz sein zerstörtes Bein hinaufschoss. »Scheiße!«, zischte er durch seine Zahnlücken hindurch, kam ins Stolpern und wäre beinahe mit dem Hintern in den Dreck gefallen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich gerade rechtzeitig noch an dem Gatter neben sich festzuhalten. »Hätten Sie ihn nicht einfach erwürgen können?«

Severard zuckte die Achseln. »Das Ergebnis ist dasselbe, oder nicht?« Morrow fiel auf die Knie, die Brille schief auf dem Gesicht, und griff mit einer Hand nach seinem durchgeschnittenen Hals, während Blut auf seinen Hemdkragen blubberte.

Glokta sah den Schreiber auf den Rücken kippen, ein Bein ruckartig in die Luft gestreckt, während sein Absatz lange Schlieren in den stinkenden Schmutz zog. Tut mir das leid für die Schweine auf dem Bauernhof. Nie werden sie den jungen Morrow wieder über den Hügel kommen sehen, zurück von seinem schönen Leben in der großen, schimmernden Stadt, sein Atem wie Raureif in der kalten, kalten Morgenluft ...

Die Zuckungen des Sekretärs wurden schwächer und schwächer, und endlich lag er still. Glokta hielt sich kurz an dem Gatter fest und blickte auf den Toten. Wann ist es geschehen, dass ich ... so geworden bin? Wahrscheinlich Schritt für Schritt. Eine Tat zieht die nächste nach sich, auf einem Pfad, den wir nicht gewählt haben, den wir aber gehen müssen, und für jeden Schritt gibt es Gründe. Wir tun, was wir tun müssen, wir tun, was man uns sagt, wir tun, was uns das Einfachste erscheint. Wir lösen immer ein elendes Problem nach dem andern, wie sonst könnten wir auch vorgehen? Und dann eines Tages halten wir inne und stellen fest, dass wir ... so geworden sind.

Er sah auf das Blut, das auf seinem Stiefel glänzte, rümpfte die Nase und wischte es an Morrows Hosenbein ab. Nun gut. Ich würde mich ja gern länger diesen philosophischen Überlegungen hingeben, aber ich muss weitere Beamte bestechen, Edelleute erpressen, Stimmen fangen, Sekretäre ermorden und Liebhaber bedrohen. So viele Messer, die in der Luft gehalten werden wollen. Immer, wenn eines klappernd auf den dreckigen Boden fällt, muss ein anderes hoch hinauffliegen, so dass die rasiermesserscharfe Klinge stets über unseren Köpfen schwebt. Es wird einfach nicht leichter.

»Unsere Zaubererfreunde sind wieder in der Stadt.« Severard hob seine Maske leicht an und kratzte sich dahinter. »Die Magi?«

»Der Erste dieser Drecksäcke sogar und seine kühne Gruppe von Helden. Er, sein aalglatter Lehrling und diese Frau. Und auch der Wegkundige. Behalten Sie die Leute im Auge und schauen Sie, ob wir nicht ein Ferkel von der Rotte trennen können. Es ist höchste Zeit, dass wir herausfinden, was sie vorhaben. Haben Sie noch immer Ihr hübsches Anwesen unten am Wasser?«

»Natürlich.«

»Gut. Vielleicht gelingt es uns einmal, den Ereignissen einen Schritt voraus zu sein, und wenn Seine Eminenz dann Antworten verlangt, können wir sie ihm sofort präsentieren.« Damit mir mein Herr und Meister endlich einmal den Kopf tätschelt.

»Was sollen wir mit denen hier machen?«, fragte Vitari und deutete mit einer Bewegung ihres stachlig frisierten Kopfes auf die Leichen.

Glokta seufzte. »Offenbar fressen Schweine wirklich alles.«

 

Dunkelheit senkte sich über die Stadt, als Glokta auf seinem zermalmten Bein die leerer werdenden Straßen zum Agriont hinaufhumpelte. Die Ladenbesitzer schlossen allmählich ihre Türen, die Hausbesitzer zündeten ihre Lampen an, Kerzenlicht drang durch die Spalten in den Fensterläden hinaus auf die schummrigen Gässchen. Glückliche Familien kommen nun wohl zum fröhlichen Abendessen zusammen. Liebende Väter mit ihren hübschen Frauen, ihren süßen Kindern und einem ausgefüllten und bedeutungsvollen Leben. Meine herzlichsten Glückwünsche.

Er drückte seine verbliebenen Zähne in das wunde Zahnfleisch, während er sich bemühte, weiter zügig voranzuschreiten. Der Schweiß durchtränkte ihm das Hemd, und sein Bein schmerzte bei jedem ruckartigen Schritt mehr und mehr. Aber ich werde wegen dieses nutzlosen Klumpens toten Fleisches keine Pause machen. Der Schmerz kroch vom Knöchel zum Knie hinauf, vom Knie zur Hüfte, von der Hüfte in sein verdrehtes Rückgrat und schließlich bis in seinen Schädel. So viel Mühe, um einen Schreibtischtäter der mittleren Ebene umzubringen, der sowieso nur ein paar Gebäude vom Haus der Befragungen entfernt gearbeitet hat. Das ist doch verdammte Zeitverschwendung, nicht wahr, es ist eine verdammte ...

»Superior Glokta?«

Ein Mann trat auf ihn zu, voller Respekt, das Gesicht in den Schatten. Glokta sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Kenne ich ...«

Es war gut eingefädelt, das war nicht zu leugnen. Er war sich des anderen Kerls noch nicht einmal bewusst, bevor ihm ein Sack über den Kopf gezogen wurde und man ihm einen Arm auf den Rücken drehte, um ihn dann hilflos vorwärtszuschubsen. Er stolperte, griff nach seinem Stock und hörte, wie er klappernd auf das Pflaster fiel.

»Aargh!« Ein heftiger Krampf erfasste seinen Rücken, als er erfolglos versuchte, den Arm freizubekommen, dann aber gezwungen war, ihn schlaff sinken zu lassen. Er keuchte vor Schmerz unter dem Sack. Schnell hatten seine Gegner ihm die Handgelenke zusammengebunden, und er spürte, wie sich kräftige Hände unter seine Achseln schoben. Dann wurde er in schnellem Schritt davongeschleift, wobei ihn je ein Mann an einer Seite packte und seine Füße kaum das Pflaster berührten. So schnell bin ich seit einer ganzen Weile nicht mehr gelaufen. Ihr Griff war nicht ruppig, aber unnachgiebig hart. Echte Könner. Eine viel bessere Klasse Halsabschneider als jene Gestalten, die Morrow sich geleistet hat. Wer auch immer das hier angezettelt hat, ist kein Narr. Also, wer mag es gewesen sein?

Sult selbst oder einer von Sults Feinden? Einer seiner Rivalen im Rennen um den Thron? Kronrichter Marovia? Lord Brock? Irgendjemand aus dem großen Offenen Rat? Oder könnten es auch die Gurkhisen sein? Die waren ja nie meine größten Freunde. Das Bankhaus von Valint und Balk vielleicht auch, die endlich ihre Schulden einfordern wollen? Oder habe ich vielleicht den jungen Hauptmann Luthar falsch eingeschätzt? Oder könnte es ganz einfach Superior Goyle sein, der keine Lust mehr hat, sich seine Arbeit mit einem Krüppel zu teilen? Es war eine recht hübsche Liste, nun, da er darüber nachdachte.

Er hörte die Schritte der anderen um sich herum widerhallen. Enge Gässchen. Er hatte keine Ahnung, wie weit sie gegangen sein mochten. Sein Atem erfüllte den Sack, keuchend, rau, kehlig. Das Herz klopft, die Haut prickelt unter kaltem Schweiß. Vor Aufregung. Sogar vor Angst. Was haben sie wohl mit mir vor? Man wird nicht auf offener Straße abgefangen, um mit Beförderungen, Leckereien oder zärtlichen Küssen bedacht zu werden. Leider. Ich weiß, wieso man einen Menschen auf der Straße abfängt, besser als die meisten anderen Leute.

Es ging ein paar Treppen hinunter, wobei die Spitzen seiner Stiefel hilflos gegen die Stufen stießen. Dann ertönte das Geräusch einer schweren Tür, die mit viel Kraft geschlossen wurde. Schritte hallten durch einen gefliesten Flur. Wieder schloss sich eine Tür. Er fühlte, wie man ihn ohne viel Federlesens auf einen Stuhl fallen ließ. Und nun werden wir zweifelsohne herausfinden, was uns Gutes oder Schlechtes bevorsteht.

Mit einem Ruck wurde der Sack von seinem Kopf gezogen, und Glokta blinzelte, als ihm das grelle Licht in die Augen stach. Ein weißer Raum, viel zu hell erleuchtet. Räume dieser Art sind mir bedauerlicherweise wohlvertraut. Und dennoch sehen sie von dieser Seite des Tisches wesentlich hässlicher aus. Jemand saß ihm gegenüber. Jedenfalls der verschwommene Umriss eines Jemands. Er schloss ein Auge, konzentrierte sich auf das andere, und sein Blick klärte sich.

»Sieh da«, murmelte er. »Welch eine Überraschung.« »Eine angenehme doch, wie ich hoffe.«

»Das werden wir wohl noch herausfinden.« Carlot dan Eider hatte sich verändert. Und ganz offenkundig ist ihr das Exil nicht gerade schlecht bekommen. Ihr Haar war wieder nachgewachsen – noch nicht zu voller Länge, aber doch schon so weit, dass es sich auf sehr vorteilhafte Weise frisieren ließ. Die Würgemale um ihren Hals waren verblasst, und es waren nur noch ganz schwache Zeichen davon zu erkennen, dass ihre Wange einst von Schorf bedeckt gewesen war. Sie hatte das Sackleinen der Verräter gegen die Reisekleidung einer vermögenden Dame getauscht, und diese stand ihr äußerst gut. Juwelen glänzten an ihren Fingern und schimmerten an ihrem Hals. Sie wirkte wieder genauso reich und elegant wie bei ihrem ersten Treffen. Und außerdem lächelte sie. Das Lächeln eines Spielers, der alle Trümpfe in seinen Händen hält. Wieso lerne ich es nie? Tue nie jemandem etwas Gutes. Schon gar nicht einer Frau.

Eine kleine Schere lag vor ihr in bequemer Reichweite auf dem Tisch. Eine Schere von der Art, wie sie von reichen Frauen zum Nagelschneiden verwendet wurde. Aber sie taugt natürlich ebenso gut dazu, die Haut von den Sohlen eines Mannes zu ziehen, seine Nasenlöcher zu erweitern, ihm die Ohren abzuschneiden, einen Streifen nach dem anderen, ganz langsam ...

Glokta fand es höchst schwierig, den Blick von diesen polierten kleinen Klingen zu lösen, die im hellen Lampenlicht glitzerten. »Ich dachte, ich hätte Ihnen verboten, je zurückzukehren«, sagte er, aber seiner Stimme fehlte die übliche Autorität.

»Das taten Sie. Aber dann dachte ich ... wieso denn nicht? Ich habe Vermögen in dieser Stadt, auf das ich nicht verzichten wollte, und außerdem gibt es hier auch gute Möglichkeiten für neue Geschäfte, die ich gern nutzen möchte.« Sie nahm die Schere zur Hand, schnitt ein winziges Stück von einem bereits perfekt geformten Daumennagel und betrachtete das Ergebnis mit gerunzelter Stirn. »Und es ist ja sicherlich auch nicht so, dass Sie jemandem verraten würden, dass ich hier bin, oder?«

»Meine Sorgen um Ihre Sicherheit haben sich allesamt erledigt«, seufzte Glokta. Die Sorgen um meine eigene wachsen allerdings mit jedem Augenblick. Selbst einen schon sehr verkrüppelten Mann kann man weiter zerstören. »Mussten Sie sich denn tatsächlich so viel Mühe machen, nur um mir Ihre Reisepläne mitzuteilen?«

Ihr Lächeln wurde, wenn überhaupt, noch etwas breiter. »Ich hoffe, meine Männer haben Ihnen nicht wehgetan. Sie hatten den Auftrag, sanft mit Ihnen umzugehen. Zumindest jetzt noch.«

»Eine sanfte Entführung ist und bleibt aber eine Entführung, meinen Sie nicht auch?«

»Entführung ist so ein hässliches Wort. Wieso betrachten wir es nicht lieber als eine Einladung, der Sie nicht widerstehen konnten? Zumindest habe ich Ihnen Ihre Kleidung gelassen, nicht wahr?«

»Dieser Gefallen dürfte eine Gnade für uns beide darstellen, das kann ich Ihnen versichern. Eine Einladung wozu, wenn ich fragen darf? Abgesehen von einer schmerzhaften Rempelei und einem kurzen Gespräch?«

»Es verletzt mich, dass Ihnen das allein nicht genügt. Aber es gibt tatsächlich noch etwas, nun, da Sie mich darauf ansprechen.« Sie schnitt sich noch einen kleinen Nagelhalbmond ab, und ihre Augen huschten zu den seinen. »Eine kleine Schuld, die noch aus der Zeit in Dagoska übrig ist. Ich fürchte, ich werde nicht ruhig schlafen können, bevor sie nicht beglichen wurde.«

Ein paar Wochen in einer schwarzen Zelle und Bekanntschaft mit einer Würgekette, die beinahe zum Tod geführt hätte? Welche Art der Wiedergutmachung wird sie wohl von mir verlangen? »Dann bitte«, zischte Glokta durch seine zahnlosen Kiefer, und sein Augenlid zuckte, als er den Scherenblättern bei ihrem Schnipp-schnipp-schnipp zusah. »Ich kann die Spannung kaum noch ertragen.«

»Die Gurkhisen kommen.«

Das hatte er nicht erwartet. Kurz stutzte er. »Hierher?«

»Ja. Nach Midderland. Nach Adua. Zu Ihnen. Sie haben im Geheimen eine Flotte gebaut. Gleich nach dem letzten Krieg haben sie damit begonnen, und nun ist sie fertig. Schiffe, die allem, was die Union zu bieten hat, durchaus gleichkommen.« Sie warf die Schere wieder auf den Tisch und stieß einen langen Seufzer aus. »Das habe ich jedenfalls gehört.«

Eine gurkhisische Flotte. Ganz, wie mein mitternächtlicher Besucher Yulwei mir gesagt hat. Gerüchte und Geister – vielleicht. Aber Gerüchte sind nicht unbedingt Lügen. »Wann werden sie hier sein?«

»Das kann ich nicht sagen. Ein derartiges Unterfangen bedarf ausgezeichneter Organisation. Aber die Gurkhisen waren schon immer viel besser organisiert als wir. Deswegen ist es ja eine solche Freude, mit ihnen Geschäfte zu machen.«

Meine eigenen Geschäfte mit diesem Volk waren zwar weniger angenehm, aber lassen wir das einmal so stehen. »In welcher Zahl werden sie anrücken?«

»In sehr großer, könnte ich mir vorstellen.«

Glokta schnaubte. »Vergeben Sie mir, wenn ich die Worte einer überführten Verräterin mit einer gewissen Skepsis betrachte, zumal Sie sich nicht gerade in Einzelheiten ergehen.«

»Wie Sie meinen. Sie sind hier, weil ich Sie warnen, und nicht, weil ich Sie überzeugen will. Aber ich glaube, so viel schulde ich Ihnen dafür, dass Sie mir mein Leben gelassen haben.«

Welch wunderbar altmodische Einstellung. »Und das ist alles?«

Sie spreizte ihre Finger. »Kann eine Dame sich nicht die Nägel schneiden, ohne Unwillen zu erregen?«

»Hätten Sie mir nicht einfach schreiben können?«, fauchte Glokta. »Dann hätten Sie es mir erspart, unter den Armen wund gerieben zu werden.«

»Ach, kommen Sie. Sie haben auf mich nie den Eindruck gemacht, als seien Sie ein Mann, der ein bisschen Wundreiben übel nimmt. Davon abgesehen hatten wir so die Gelegenheit, eine durch und durch angenehme Bekanntschaft noch einmal zu erneuern. Und Sie müssen mir einen kleinen Augenblick des Triumphs zugestehen, nach all dem, was ich in Ihren Händen durchgemacht habe.«

Nun, das ist wohl wirklich so. Ich wurde oft genug auf weniger angenehme Weise bedroht, und sie hat zumindest mehr Geschmack, als sich mit mir in einem Schweinestall zu verabreden. »Dann kann ich jetzt einfach gehen?«

»Hat jemand einen Stock aufgehoben?« Niemand sprach. Eider lächelte zufrieden und zeigte Glokta dabei ihre perfekten weißen Zähne. »Nun, dann können Sie wahrscheinlich einfach davonkriechen. Wie klingt das?«

Besser als die Aussicht darauf, nach ein paar Tagen auf dem Grund eines Kanals an dessen Oberfläche aufzusteigen, aufgedunsen wie eine große, blasse Nacktschnecke und stinkend wie alle Gräber in der Stadt zusammen. »So gut wie unter den Umständen möglich. Ich frage mich jedoch das eine. Was wird mich davor zurückhalten, meine Praktikalen die Witterung eines teuren Parfüms aufnehmen zu lassen, nachdem wir hier fertig sind, damit sie beenden können, was sie damals in Dagoska begonnen haben?«

»Es ist typisch für Sie, so etwas zu sagen.« Sie seufzte. »Ich sollte Sie davon in Kenntnis setzen, dass ein alter und sehr vertrauenswürdiger Geschäftspartner von mir einen versiegelten Brief überreicht bekam. Im Falle meines Todes würde dieses Schreiben dem Erzlektor übersandt, den es genauestens über die Einzelheiten meiner Verurteilung in Dagoska informieren würde.«

Glokta lutschte schlecht gelaunt an seinem Zahnfleisch. Genau das, was ich brauche – noch ein Messer, das in der Luft gehalten werden will. »Und was geschieht, wenn Sie ganz ohne meine Beteiligung in die Grube fahren? Wenn ein Haus über Ihnen zusammenstürzt? Oder wenn Sie an einem Stückchen Brot ersticken?«

Sie riss die Augen auf, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »In diesen Fällen ... nehme ich an ... würde der Brief trotzdem abgeschickt, auch wenn Sie unschuldig sind.« Sie stieß ein hilfloses Lachen aus. »Die Welt ist leider in keiner Hinsicht so edel, wie sie meiner Meinung nach sein sollte, und ich vermute, dass mir die Einwohner Dagoskas, die versklavten Söldner und die niedergemetzelten Unionssoldaten, die Sie für Ihre verlorene Sache kämpfen ließen, diesbezüglich zustimmen würden.« Sie lächelte so freundlich, als ob sie sich übers Gärtnern unterhielten. »Die Lage wäre vermutlich einfacher für Sie, wenn Sie mich damals einfach hätten erwürgen lassen.«

»Sie lesen meine Gedanken.« Aber dazu ist es nun zu spät. Ich habe eine gute Tat vollbracht, und natürlich ist dafür ein Preis zu zahlen.

»Aber sagen Sie mir doch, bevor sich unsere Wege zum, wie wir beide nur hoffen können, letzten Male trennen – haben Sie mit dieser Wahlgeschichte zu tun?«

Glokta fühlte sein Auge zucken. »Meine Aufgaben berühren diese Angelegenheit in der Tat.« Sagen wir, ich bin in jedem wachen Augenblick damit beschäftigt.

Carlot dan Eider lehnte sich verschwörerisch nah zu ihm herüber, die Ellenbogen auf dem Tisch, das Kinn in die Hände gestützt. »Wer wird der nächste König der Union, was meinen Sie? Wird es Brock? Ischer? Oder jemand ganz anderes?«

»Es ist noch ein wenig zu früh, das sagen zu können. Ich arbeite noch daran.«

»Dann humpeln Sie mal los.« Sie schob die Unterlippe vor. »Und es wäre wahrscheinlich besser, wenn Sie unser kleines Treffen Seiner Eminenz gegenüber nicht erwähnten.« Sie nickte, und Glokta spürte, wie man ihm wieder den Sack über den Kopf stülpte.