EHRLICHKEIT

Jezal lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, das Laken um die Hüften. Er beobachtete Ardee, die aus dem Fenster sah, und er dankte den Schicksalsgöttinnen dafür, dass irgendein lange schon vergessener Uniformschneider dafür gesorgt hatte, dass die Offiziere der Königstreuen Jacken mit kurzer Taille bekommen hatten. Er dankte ihnen voll tiefstem Ernst, denn im Augenblick trug Ardee nichts anderes als seine Jacke.

Es war unglaublich, wie sehr sich ihr Verhältnis seit diesem kurzen, bitteren Wiedersehen verändert hatte. Seit einer Woche schon hatten sie keine Nacht getrennt verbracht, und seit einer Woche lag ein Dauerlächeln auf seinem Gesicht. Gelegentlich trieb eine Erinnerung an die Oberfläche, unwillkommen und schrecklich unvermittelt, wie ein aufgedunsener Leichnam in einem Teich, während man am Ufer gerade ein Picknick macht – die Erinnerung daran, wie sie ihn gebissen und geschlagen, wie sie geweint und ihn angeschrien hatte. Aber wenn das geschah, dann hielt er an seinem Grinsen fest und sah, wie sie ihn anlächelte, und es gelang ihm schnell wieder, diese unangenehmen Gedanken zurückzudrängen, zumindest für kurze Zeit. Dann gratulierte er sich dazu, dass er erwachsen genug gewesen war, das durchzustehen und nicht vorschnell über sie zu urteilen.

»Ardee«, lockte er sie.

»Hmmm?«

»Komm wieder ins Bett.«

»Warum?«

»Weil ich dich liebe.« Seltsam, je öfter er es sagte, desto leichter wurde es.

Sie stieß einen gelangweilten Seufzer aus. »Das sagst du immer wieder.«

»Weil es stimmt.«

Sie wandte sich um, die Hände auf den Fenstersims hinter sich gestützt; ihr Körper zeichnete sich als dunkler Umriss vor dem hellen Fenster ab. »Und was genau heißt das? Dass du mich seit einer Woche fickst und noch immer nicht genug davon hast?«

»Ich glaube, davon werde ich nie genug bekommen.«

»Tja.« Sie stieß sich vom Fensterbrett ab und tappte über die Dielenbretter. »Ich denke, es würde nichts schaden, das herauszufinden, oder? Jedenfalls nicht mehr, als es uns sowieso schon schadet.« Sie hielt am Fuß des Bettes inne. »Nur eins musst du mir versprechen.«

Jezal schluckte. Er fürchtete ihre Frage, und er fürchtete, was er darauf antworten würde. »Was du willst«, murmelte er und zwang sich zu einem Lächeln.

»Lass mich nie im Stich.«

Sein Lächeln wurde entspannter. Das konnte er leichten Herzens bejahen. Er war immerhin ein geläuterter Mann. »Natürlich. Das verspreche ich.«

»Gut.« Sie kroch auf allen vieren auf das Bett, die Augen fest auf sein Gesicht gerichtet, während er voller Vorfreude unter dem Laken mit den Zehen spielte. Sie richtete sich auf den Knien auf, die Beine über ihm gespreizt, und zog sich mit einem Ruck die Jacke über ihrem Körper glatt. »Nun, Herr Hauptmann, würde ich so bei der Musterung durchgehen?«

»Ich würde sagen ...«, er packte das Vorderteil der Jacke und zog sie zu sich herunter, dann schob er die Hände unter das Kleidungsstück, »... du bist zweifelsohne ...«, damit legte er eine Hand auf ihre Brust und rieb ihre Brustwarze mit dem Daumen, »... der hübscheste Soldat in meiner Kompanie.«

Sie drückte ihren Schritt gegen den seinen, das Laken noch immer dazwischen, und bewegte die Hüften vor und zurück. »Ah, der Herr Hauptmann ist schon wieder bereit zum Angriff ...«

»Für dich? Immer ...«

Ihr Mund leckte und saugte an seinem, verschmierte Spucke auf seinem Gesicht, und er schob eine Hand zwischen ihre Beine. Sie drängte sich eine Weile dagegen, und seine klebrigen Finger glitten schmatzend in sie hinein und wieder heraus. Sie stöhnte und seufzte kehlig, und er tat dasselbe. Dann packte sie das Laken und zog es weg. Er nahm seinen Schwanz in die Hand, und sie bewegte die Hüften so lange hin und her, bis beide die richtige Stellung gefunden hatten. Dann ließ sie sich auf ihn nieder, so dass ihr Haar sein Gesicht kitzelte und ihr keuchender Atem sein Ohr umspielte.

Laut und vernehmlich klopfte es zweimal an die Tür, und beide erstarrten. Das Klopfen wiederholte sich. Ardee hob den Kopf und schob sich das Haar aus dem erhitzten Gesicht. »Was ist denn?«, rief sie mit belegter, rauer Stimme.

»Es ist jemand hier für den Herrn Hauptmann.« Das Dienstmädchen. »Ist er ... ist er noch da?«

Ardees Augen glitten zu Jezal. »Ich denke, ich könnte ihm eine Nachricht zukommen lassen.« Er biss sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken, dann fasste er an ihren Busen und kniff sanft in ihre Brustwarze. Sie schlug ihm die Hand weg. »Wer ist denn da?«

»Ein Heroldsritter!« Jezal merkte, wie sein Lächeln verblasste. Diese Kerle schienen niemals gute Nachrichten zu bringen, noch dazu immer zu den unpassendsten Gelegenheiten. »Lord Marschall Varuz muss dringend mit dem Herrn Hauptmann sprechen. Sie suchen in der ganzen Stadt nach ihm.« Jezal fluchte unterdrückt. Offenbar hatte das Heer endlich gemerkt, dass er zurückgekehrt war.

»Sag ihm, ich werde es dem Herrn Hauptmann ausrichten, wenn ich ihn sehe!«, rief Ardee, und im Flur vor der Zimmertür entfernten sich die Schritte.

»Scheiße!«, zischte Jezal, kaum dass er sicher war, dass das Mädchen nicht mehr vor der Tür stand, obwohl es sicherlich längst begriffen haben musste, was in den letzten Tagen und Nächten vor sich gegangen war. »Ich muss gehen.«

»Jetzt?«

»Jetzt, verdammt sollen sie sein. Wenn ich nicht gehe, suchen sie weiter, und je schneller ich jetzt aufbreche, desto schneller bin ich auch wieder zurück.«

Sie seufzte und drehte sich auf den Rücken, während er aufstand und seine verstreuten Kleidungsstücke im ganzen Zimmer zusammensuchte. Sein Hemd hatte vorn einen Weinfleck, seine Hosen waren zerknautscht und zerknittert, aber sie mussten genügen. Es war ohnehin nicht mehr sein Ziel, in jeder Lebenslage perfekt gekleidet aufzutreten. Er setzte sich aufs Bett, um sich die Stiefel anzuziehen, und fühlte sie hinter sich knien; ihre Hände glitten über seine Brust, ihre Lippen berührten sanft sein Ohr, als sie ihm zuflüsterte: »Also wirst du mich wieder allein lassen, oder? Und wirst nach Angland ziehen, um zusammen mit meinem Bruder die Nordmänner abzuschlachten?«

Jezal beugte sich mit etwas Mühe nach vorn und manövrierte einen Fuß in den Stiefel. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Der Gedanke an das Soldatenleben erschien ihm nicht mehr besonders reizvoll. Er hatte genug Blutvergießen aus nächster Nähe gesehen, um zu wissen, dass es äußerst Angst einflößend war und fürchterlich wehtat. Ruhm und Ehre erschienen ihm angesichts der Gefahren, die man dafür eingehen musste, ein recht geringer Lohn. »Ich denke ernsthaft darüber nach, mein Offizierspatent zurückzugeben.«

»Im Ernst? Und was willst du dann tun?«

»Ich weiß noch nicht genau.« Er wandte den Kopf zu ihr und hob eine Augenbraue. »Vielleicht suche ich mir eine gute Frau und lasse mich irgendwo nieder.«

»Eine gute Frau? Kennst du denn eine?«

»Ich hatte gehofft, dass du vielleicht einen Vorschlag hättest.«

Sie presste die Lippen aufeinander. »Lass mich nachdenken. Muss sie schön sein?«

»Nein, nein, schöne Frauen sind immer so verdammt anspruchsvoll. Eine nette graue Maus wäre mir lieber.« »Klug?«

Jezal schnaubte. »Bloß nicht. Ich bin dafür berüchtigt, ein völliger Hohlkopf zu sein. An der Seite einer klugen Frau würde ich die ganze Zeit wie ein Idiot aussehen.« Er zog sich den anderen Stiefel hoch, löste ihre Hände und stand auf. »Ein glubschäugiges, hirnloses Kalb wäre ideal. Jemand, der mir dauernd recht gibt.«

Ardee klatschte in die Hände. »O ja, ich kann sie an deiner Seite sehen, wie sie wie ein leeres Kleid an deinem Arm baumelt, eine Art Echo, nur in höherer Tonlage. Aber natürlich doch von edlem Blut, würde ich meinen?«

»Natürlich, nur das Beste. In dieser Hinsicht bin ich zu keinem Kompromiss bereit. Und blond muss sie sein, dafür habe ich eine Schwäche.«

»Da bin ich ja so sehr deiner Meinung. Dunkles Haar ist so gewöhnlich, es hat die Farbe von Dreck, von Schlamm, von Unrat.« Sie erschauerte. »Ich fühle mich beschmutzt, wenn ich nur daran denke.«

»Aber vor allem«, fügte er hinzu, während er seinen Degen durch die Schlaufe an seinem Gürtel schob, »muss sie ein ruhiges und ausgeglichenes Gemüt besitzen. Ich habe genug harte Zeiten hinter mir.«

»Natürlich. Das Leben ist schon schwierig genug, auch ohne eine Frau, die ständig Ärger macht. Das ist so würdelos.« Sie hob die Augenbrauen. »Ich werde einmal meinen Bekanntenkreis durchgehen.«

»Hervorragend. In der Zwischenzeit brauche ich meine Jacke zurück, auch wenn du sie mit viel größerer Eleganz trägst, als ich es je könnte.«

»Oh, natürlich, Herr Hauptmann.« Sie zog sich aus und warf ihm die Jacke zu, streckte sich auf dem Bett aus, splitterfasernackt, den Rücken durchgedrückt, die Hände hinter dem Kopf. Dann stellte sie ein Knie auf und bewegte langsam die Hüften hin und her, während sie das andere Bein ausgestreckt hatte und mit dem großen Zeh auf ihn deutete. »Du wirst mich aber nicht allzu lange allein lassen, oder?«

Er betrachtete sie einen Augenblick. »Wag es ja nicht, dich auch nur einen verdammten Zoll von dort wegzubewegen«, raunzte er heiser, dann zog er sich die Jacke über, klemmte seinen Schwanz zwischen den Beinen ein und watschelte vornüber gebeugt aus der Tür. Er hoffte, er würde vor der Besprechung mit dem Lord Marschall wieder schlaff werden, aber er war sich dessen nicht ganz sicher.

 

Wieder einmal fand sich Jezal in einem von Kronrichter Marovias hohen, großen Sälen wieder und stand allein auf dem weitgehend möbelfreien Fußboden vor dem riesenhaften, polierten Tisch, von dessen anderer Seite ihn drei alte Männer grimmig anstarrten.

Als der Schreiber die hohen Türen mit widerhallendem Knall schloss, hatte Jezal das alarmierende Gefühl, all das schon einmal erlebt zu haben. An jenem Tag, an dem man ihn von dem Schiff befohlen hatte, das ihn nach Angland hatte bringen sollen, an dem man ihn von seinen Freunden und seinen ehrgeizigen Zukunftsplänen getrennt und ihn auf eine verrückte, von Anfang an zum Scheitern verurteilte Reise ins Nirgendwo geschickt hatte. Eine Reise, die ihn sein gutes Aussehen und beinahe auch sein Leben gekostet hatte. Es war alles andere als ein erfreuliches Gefühl, jetzt wieder hier zu stehen, und er hoffte inständig, dass er dieses Mal besser davonkommen würde.

So gesehen war es bereits beruhigend, dass der Erste der Magi nicht anwesend war, obwohl er sich einem Gremium gegenübersah, dessen Zusammensetzung ihn auch nicht gerade glücklich machte. Er blickte direkt in die harten, alten Gesichter von Lord Marschall Varuz, Kronrichter Marovia und Lord Schatzmeister Hoff.

Varuz war damit beschäftigt, sich wortreich über Jezals hervorragende Leistungen im Alten Kaiserreich auszulassen. Er hatte offenbar eine Schilderung der Ereignisse gehört, die mit Jezals Erinnerung so gut wie gar nicht übereinstimmte.

»... große Abenteuer im Westen, mit denen er, so wie ich gehört habe, der Union auf fremdem Boden viel Ehre eingebracht hat. Ich war besonders beeindruckt von der Geschichte über Ihren Ausfall auf der Brücke von Darmium. Ist das wirklich so geschehen, wie man mir erzählt hat?«

»Auf der Brücke von Darmium, nun ja, wenn ich ehrlich bin, äh ...« Wahrscheinlich hätte er den alten Narr fragen sollen, wovon zur Hölle er eigentlich sprach, aber Jezal war viel zu sehr damit beschäftigt, an Ardee zu denken, wie sie sich nackt auf dem Bett räkelte. Scheiß auf sein Land. Die Pflicht konnte ihn mal. Wenn er sein Patent augenblicklich zurückgab, konnte er wieder bei ihr im Bett sein, bevor die Stunde um war. »Die Sache ist die ...«

»Das war Ihre Lieblingsgeschichte, ja?«, fragte Hoff und senkte seinen Weinkelch. »Mich hat besonders der Bericht über die Tochter des Kaisers fasziniert.« Er sah Jezal mit einem Augenzwinkern an, das andeutete, dass es sich bei besagter Geschichte um eine etwas schlüpfrige handelte.

»Ehrlich gesagt, Euer Ehren, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie dieses Gerücht entstanden ist. Es ist nichts Derartiges geschehen, das kann ich Ihnen versichern. Die ganze Sache scheint irgendwie völlig übertrieben worden zu sein ...«

»Nun, ein ruhmreiches Gerücht ist zehn enttäuschende Wahrheiten wert, meinen Sie nicht auch?«

Jezal blinzelte. »Nun, äh, ich denke ...«

»So oder so«, unterbrach ihn Varuz, »der Geschlossene Rat hat hervorragende Berichte über Ihr Verhalten im Ausland erhalten.«

»Tatsächlich?«

»Viele verschiedene Berichte, allesamt voll des Lobes.«

Jezal gelang es nicht, ein Grinsen zu unterdrücken, obwohl er sich fragte, von wem derartige Berichte stammen mochten. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Ferro Maljinn von seinen herausragenden Talenten geschwärmt haben mochte. »Nun, meine Herren, Sie sind sehr gütig, aber ich muss ...«

»Aufgrund der Entschlossenheit und des Mutes, den Sie bei der Erfüllung dieser schwierigen und wichtigen Aufgabe bewiesen haben, freue ich mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie mit sofortiger Wirkung in den Rang eines Obersts erhoben wurden.«

Jetzt riss Jezal groß die Augen auf. »Wirklich?«

»So ist es, mein Junge, und es gibt wohl niemanden, der das mehr verdient hätte als Sie.«

An einem Nachmittag zwei Ränge aufzusteigen, das war eine beispiellose Ehre, zumal er in keiner Schlacht gekämpft, kürzlich auch keine anderen Heldentaten begangen oder große Opfer gebracht hatte. Es sei denn, man wollte dabei mitzählen, dass er halbwegs unverrichteter Dinge aus dem Bett der Schwester seines besten Freundes aufgestanden war. Das war ein Opfer, keine Frage, aber keines von der Art, die einem normalerweise die Gunst des Königs einbrachten.

»Ich, äh, ich ...« Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihm die Befriedigung über diese Entwicklung eine leichte Röte ins Gesicht trieb. Eine neue Uniform, noch mehr Tressen und vielleicht auch noch mehr Leute, denen er sagen konnte, was sie tun sollten. Ruhm und Ehre mochten ein geringer Lohn sein, sicher, aber er hatte die Gefahren ja bereits hinter sich, und nun musste er nur noch ja sagen. Hatte er nicht gelitten? Hatte er es nicht verdient?

Er musste nicht allzu lange darüber nachdenken. Im Grunde musste er gar nicht darüber nachdenken. Die Vorstellung, aus dem Heer auszuscheiden und sich irgendwo niederzulassen, rückte in weite Ferne. »Ich fühle mich sehr geehrt, diese ungewöhnliche ... äh ... Ehre annehmen zu dürfen.«

»Dann sind wir ja wohl alle gleichermaßen entzückt«, sagte Hoff säuerlich. »Aber jetzt zum Geschäft. Es ist Ihnen sicherlich bewusst, Oberst Luthar, dass es kürzlich einigen Ärger mit den Bauern gegeben hat?«

Überraschenderweise waren derartige Nachrichten kaum einmal bis in Ardees Schlafzimmer vorgedrungen. »Aber doch sicher nichts Ernstes, Euer Ehren?«

»Nur, wenn Sie einen in vollem Gange befindlichen Aufstand als nichts Ernstes bezeichnen wollten.« »Aufstand?« Jezal schluckte.

»Dieser Kerl, dieser Gerber«, zischte der Lord Schatzmeister. »Seit einigen Monaten zieht er durchs Land und hetzt die Unzufriedenen auf, er sät die Saat der Auflehnung und stachelt die Bauern dazu an, Verbrechen gegen ihre Herren zu begehen, gegen ihre Edelleute, gegen ihren König!«

»Niemand hätte je gedacht, dass es wirklich zu einem offenen Aufstand kommen würde.« Varuz’ Kiefermuskeln mahlten zornig. »Aber nach einer Kundgebung in der Nähe von Keln bewaffnete sich eine Gruppe von Bauern, von diesem Gerber ermutigt, und weigerte sich dann, sich wieder aufzulösen. Es gelang ihnen ein entscheidender Schlag gegen den Grundbesitzer der Gegend, und daraufhin breitete sich der Aufruhr weiter aus. Jetzt haben wir erfahren, dass sie gestern eine beträchtliche Streitmacht unter Lord Finster besiegt, sein Landhaus niedergebrannt und drei Steuereintreiber aufgehängt haben. Sie ziehen durchs Land, hinterlassen eine Spur der Verwüstung und halten dabei auf Adua zu.«

»Verwüstung?«, hauchte Jezal und sah zur Tür. Verwüstung war wirklich ein sehr übles Wort.

»Es ist eine höchst unangenehme Geschichte«, bedauerte Marovia. »Die Hälfte dieser Leute sind ehrliche Männer, ihrem König treu ergeben, die lediglich durch die Gier der Landbesitzer zu diesen Taten getrieben wurden.«

Varuz schnaubte verächtlich. »Für Hochverrat gibt es keine Entschuldigung! Die andere Hälfte besteht aus Dieben, Lumpen und Unzufriedenen. Man sollte sie alle an den Galgen bringen!«

»Der Geschlossene Rat hat seine Entscheidung gefällt«, unterbrach ihn Hoff. »Dieser Gerber hat die Absicht bekundet, dem König eine Liste von Forderungen zu überreichen. Dem König! Neue Freiheiten. Neue Rechte. Jeder Mann sei seinem Bruder gleichberechtigt und ähnlicher gefährlicher Unsinn. Es wird bald bekannt werden, dass sie auf dem Weg hierher sind, und dann bricht Panik aus. Es wird Tumulte geben, einige für die Bauern, andere gegen sie. Die Lage im Land ist schon jetzt überaus bedenklich. Wir sind in zwei Kriege verwickelt, und es steht schlecht um die Gesundheit des Königs, der zudem keinen Erben hat.« Hoff schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass Jezal zusammenzuckte. »Wir müssen verhindern, dass der Pöbel die Stadt erreicht.«

Marschall Varuz verschränkte die Hände. »Wir werden die zwei Regimenter der Königstreuen, die noch in Midderland verblieben sind, aussenden, um dieser Bedrohung zu begegnen. Eine Liste von Zugeständnissen«, er verzog das Gesicht bei diesem Wort, »wurde von uns vorbereitet. Wenn die Bauern sich auf Verhandlungen einlassen und auf ihre Höfe zurückkehren, dann wird man ihr Leben verschonen. Sollte dieser Gerber jedoch keine Vernunft annehmen wollen, dann muss sein sogenanntes Heer aufgerieben werden. In alle Winde verstreut. Aufgelöst.«

»Vernichtet«, sagte Hoff, der mit seinem breiten Daumen an einem Fleck auf der Tischplatte herumrieb. »Und die Anstifter müssen der Inquisition überstellt werden.«

»Bedauerlich«, murmelte Jezal, ohne nachzudenken, und bei der bloßen Erwähnung der Inquisition überfiel ihn ein kalter Schauer.

»Notwendig«, sagte Marovia, der traurig den Kopf schüttelte.

»Aber es wird sich kaum leicht bewerkstelligen lassen.« Varuz sah Jezal über den Tisch hinweg finster an. »In jedem Dorf, in jeder Stadt, auf jedem Feld und auf jedem Hof, an denen sie vorbeigekommen sind, hat sich ihr Heer um neue Rekruten verstärkt. Das Land wimmelt vor Unzufriedenen. Natürlich verfügen sie nicht über Disziplin, und sie sind auch nicht gut ausgerüstet, aber laut unserer letzten Schätzung reden wir von etwa vierzigtausend Aufrührern.«

»Vierzig ... tausend?« Jezal trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er war davon ausgegangen, dass es vielleicht um ein paar Hundert ging, noch dazu mit schlechtem Schuhwerk. Natürlich bestand hier, hinter den sicheren Mauern des Agrionts, keine Gefahr. Aber vierzigtausend, das war doch eine sehr große Zahl aufgebrachter Menschen. Selbst, wenn es sich um Bauern handelte.

»Die Königstreuen bereiten sich schon vor: ein berittenes Regiment, eines mit Fußsoldaten. Jetzt fehlt nur noch ein Kommandant für dieses Unterfangen.«

»Hmm«, brummte Jezal. Er beneidete den Unglücklichen keineswegs um seine Aufgabe, ein Heer zu kommandieren, das einem Haufen Wilder gegenüberstand, fünf zu eins in der Überzahl und dann noch aufgeputscht von Selbstgerechtigkeit und kleinen Siegen, trunken vom Hass auf die Edelleute und das Königshaus, gierig nach Blut und Beute ...

Nun wurden Jezals Augen noch größer. »Ich?«

»Sie.«

Er suchte nach Worten. »Ich möchte nicht ... undankbar erscheinen, bitte verstehen Sie, aber, ich meine, es gibt doch sicher Männer, die dieser Aufgabe besser gewachsen wären. Lord Marschall, Sie selbst haben doch ...«

»Dies sind schwierige Zeiten.« Hoff sah Jezal streng unter seinen buschigen Brauen hervor an. »Sehr schwierige Zeiten. Wir brauchen jemanden ohne ... persönliche Verflechtungen. Wir brauchen ein unbeschriebenes Blatt. Sie erfüllen diese Anforderung hervorragend.«

»Aber ... mit den Bauern verhandeln, Euer Ehren, Lord Kronrichter, Lord Marschall, ich verstehe nichts von solchen Dingen! Ich verstehe nichts von den Gesetzen!«

»Wir wissen durchaus um Ihre Unzulänglichkeiten«, sagte Hoff. »Deswegen wird ein Vertreter des Geschlossenen Rates mit Ihnen kommen. Jemand, der auf all jenen Gebieten unbestrittenen Sachverstand besitzt.«

Eine schwere Hand legte sich plötzlich auf Jezals Schulter. »Ich sagte Ihnen doch, dass wir uns sicher eher früher als später wieder sehen werden, mein Junge!« Jezal wandte langsam den Kopf, und lähmende Verzweiflung breitete sich in seinem Innern aus. Dort stand der Erste der Magi, grinste ihm, nicht einmal auf Armeslänge von ihm entfernt, direkt ins Gesicht und war tatsächlich unvermittelt höchst anwesend. Es war im Grunde keine Überraschung, dass dieser kahle alte Klugscheißer an der ganzen Sache beteiligt war. Befremdliche und schmerzhafte Ereignisse schienen ihm zu folgen wie streunende Hunde dem Metzgerwagen.

»Das Bauernheer, wenn wir es denn so nennen wollen, lagert vier lockere Tagesmärsche von der Stadt entfernt, weit über das Land verstreut, und sucht nach Beute.« Varuz beugte sich mit langem Hals vor und stieß mit einem Finger auf den Tisch. »Sie werden sofort aufbrechen, um es abzufangen. Darin liegen unsere ganzen Hoffnungen, Oberst Luthar. Haben Sie Ihren Befehl verstanden?«

»Jawohl, Lord Marschall«, flüsterte Jezal, der versuchte, zumindest ein kleines bisschen Begeisterung dabei mitschwingen zu lassen, aber kläglich scheiterte.

»Dann sind wir also wieder beisammen, nicht wahr?«, gluckste Bayaz. »Da sollten die besser sehen, dass sie wegkommen, was, mein Junge?«

»Natürlich«, murmelte Jezal niedergeschlagen. Er hatte die Möglichkeit gehabt, all dem den Rücken zu kehren und ein neues Leben anzufangen, doch er hatte sie weggeworfen für einen oder zwei zusätzliche Sterne auf seiner Jacke. Zu spät erkannte er, welch schrecklichen Fehler er gemacht hatte. Bayaz’ Griff um seine Schulter verstärkte sich, zog ihn väterlich zu sich heran und machte keine Anstalten, ihn wieder loszulassen. Es gab wirklich keinen Ausweg mehr.

 

Jezal war in großer Eile, als er sein Quartier verließ, und er fluchte, während er seine Kiste hinter sich herschleppte. Es war wirklich eine fürchterliche Zumutung, dass man ihn sein eigenes Gepäck tragen ließ, aber er hatte es ausgesprochen eilig, wenn er die Union vor dem Irrsinn seiner eigenen Bürger retten wollte. Nur sehr kurz hatte er darüber nachgedacht, zum Hafen zu stürzen und sich auf das erste Schiff zu begeben, das ins weit entfernte Suljuk auslief, bevor er sich zornig von dieser Idee verabschiedet hatte. Er hatte die Beförderung mit offenen Augen angenommen, und nun, so sagte er sich, hatte er keine andere Wahl, als diese Aufgabe irgendwie zu bewältigen. Wenn man etwas tun muss, vor dem man sich fürchtet, dann geht man die Sache besser gleich an, statt lange mit der Angst zu leben, und so. Er drehte den Schlüssel im Schloss, wandte sich um und zuckte zusammen, wie ein kleines Mädchen vor Schreck keuchend. Da wartete jemand in den Schatten gegenüber seiner Tür, und sein Entsetzen vergrößerte sich noch, als er erkannte, wer es war.

Der Krüppel Glokta stand an der Wand, stützte sich schwer auf seinen Stock und grinste auf seine ekelhafte, zahnlose Weise. »Auf ein Wort, Oberst Luthar.«

»Wenn Sie die Sache mit den Bauern meinen, die Angelegenheit ist ganz und gar unter Kontrolle.« Jezal versuchte, die Verachtung, die er empfand, aus seinen Gesichtszügen zu verbannen, aber es gelang ihm nicht. »Sie müssen sich deswegen keine Mühe machen ...«

»Es geht mir nicht um diese Sache.«

»Worum dann?«

»Um Ardee West.«

Der Flur erschien plötzlich sehr leer und sehr still. Die Soldaten, die Offiziere, die Bediensteten, sie alle waren weit weg in Angland. Soweit Jezal wusste, waren nur sie beide hier, ganz allein in der Kaserne. »Ich verstehe nicht, inwieweit Sie das etwas ...«

»Ihr Bruder, unser gemeinsamer Freund Collem West, erinnern Sie sich an ihn? So ein Kerl mit vielen Sorgenfalten im Gesicht und zurückweichendem Haaransatz. Ein wenig aufbrausend.« Jezal fühlte, wie ihm vor Schuldbewusstsein eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Er erinnerte sich natürlich nur allzu gut an West und an sein aufbrausendes Wesen. »Er kam zu mir, kurz bevor er nach Angland in den Krieg zog. Dabei bat er mich, das Wohlergehen seiner Schwester im Auge zu behalten, während er außer Landes sein Leben aufs Spiel setzt. Das versprach ich ihm.« Glokta schlurfte ein wenig näher, und Jezal bekam eine Gänsehaut. »Und ich nehme diese Verantwortung genauso ernst wie jeden Auftrag, den mir der Erzlektor überträgt, das versichere ich Ihnen.«

»Ich verstehe«, krächzte Jezal. Das zumindest erklärte das Erscheinen des Krüppels an Ardees Haustür vor ein paar Tagen, das er bisher gar nicht hatte einordnen können. Aber ihm war deswegen nicht leichter ums Herz. Im Gegenteil.

»Ich glaube kaum, dass Collem West über das, was in den letzten paar Tagen geschehen ist, besonders begeistert wäre, oder was meinen Sie?«

Jezal trat schuldbewusst von einem Fuß auf den anderen. »Ich gebe zu, ich habe sie besucht ...«

»Ihre Besuche«, flüsterte der Krüppel, »sind nicht gut für den Ruf der jungen Frau. Wir haben nun also drei Möglichkeiten. Die erste, und das wäre mir persönlich die liebste, wäre, dass Sie einfach verschwinden, so tun, als seien Sie ihr nie begegnet, und sie niemals wiedersehen.«

»Das ist völlig unakzeptabel«, hörte sich Jezal sagen, und seine Stimme klang überraschend entschlossen.

»Die zweite: Sie heiraten die Dame, und alles ist vergessen.«

Das war ein Weg, den Jezal durchaus in Betracht zog, aber er wollte verdammt sein, wenn er sich von diesem verwachsenen Schatten von einem Mann dazu drängen ließe. »Und die dritte?«, fragte er in, wie er fand, angemessen abfälligem Ton.

»Die dritte?« Eine Folge besonders abstoßender Krämpfe zog seitlich über Gloktas verwüstetes Gesicht. »Ich glaube nicht, dass Sie allzu viel über die dritte erfahren möchten. Sagen wir einfach, dass eine lange Nacht voller Leidenschaft mit einem Kohlebecken und einigen Rasiermessern dazu gehören würde, und ein noch längerer Morgen mit einem Sack, einem Amboss auf dem Grund des Kanals. Sie werden vermutlich zu der Erkenntnis gelangen, dass Ihnen die beiden ersten besser gefallen.«

Bevor er wusste, was er tat, hatte Jezal einen Schritt nach vorn gemacht, so dass Glokta wankend und mit schmerzverzerrtem Gesicht bis zur Wand zurückweichen musste. »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig! Meine Besuche gehen allein mich und die fragliche Dame etwas an, aber nur zu Ihrer Information: Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, sie zu heiraten, und ich warte nur noch auf den richtigen Augenblick!« Jezal stand in der Dunkelheit und konnte selbst kaum glauben, was er da gerade von sich gegeben hatte. Es war doch immer das Gleiche mit seiner großen Klappe, immer wieder brachte sie ihn in Schwierigkeiten.

Gloktas schmales linkes Auge blinzelte. »Ah, die Glückliche.«

Jezal machte unwillkürlich noch eine Bewegung nach vorn, gab dem Krüppel dabei beinahe einen Kopfstoß und drückte ihn hilflos an die Wand. »So ist es! Und deswegen können Sie sich Ihre Drohungen in Ihren verkrüppelten Arsch schieben!«

Selbst derart bedrängt, währte Gloktas Überraschung nur sehr kurz. Dann verzog er das Gesicht zu seinem zahnlosen Grinsen, sein Augenlid zitterte, und eine lange Tränenspur rann über seine ausgezehrte Wange. »Aber, aber, Oberst Luthar, es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, wenn Sie mir derart nahe kommen.« Er strich mit dem Handrücken über Jezals uniformierte Brust. »Zumal Sie höchst unerwartet ein gewisses Interesse an meinem Arsch zeigen.« Jezal fuhr zurück und spürte vor Ekel einen sauren Geschmack im Mund. »Es scheint, dass Bayaz tatsächlich gelang, was Varuz vergeblich versuchte, wie? Er hat Ihnen gezeigt, wo Ihr Rückgrat ist. Meinen Glückwunsch zu Ihrer bevorstehenden Vermählung. Aber ich denke, ich werde meine Rasiermesser dennoch parat halten, nur für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen. Schön, dass wir die Gelegenheit hatten, uns kurz zu unterhalten.« Damit humpelte Glokta auf die Treppen zu, sein Stock klapperte gegen die Dielenbretter, und den linken Stiefel schleifte er nach.

»Das fand ich auch!«, brüllte Jezal ihm nach. Aber nichts wäre weiter entfernt von der Wahrheit gewesen.