DIE BESTEN FEINDE

»Klopf, klopf.« »Nicht jetzt!«, wütete Oberst Glokta. »Ich muss noch diese ganzen Papiere hier durcharbeiten!« Es waren wohl zehntausend Geständnisse, die auf seine Unterschrift warteten. Sein Schreibtisch bog sich unter den hohen Stapeln, und die Spitze seines Federkiels war weich wie Butter. Mit der roten Tinte sahen seine Zeichen wie dunkle Blutflecke aus, die über das blasse Papier gespritzt waren. »Verdammt noch mal!«, tobte er, als er das Tintenfass mit dem Ellenbogen umwarf und die Tinte über die Papierstapel rann und mit einem stetigen Tropf, Tropf, Tropf auf den Boden leckte.

»Sie werden später Zeit für Ihre Geständnisse haben. Und zwar reichlich.«

Der Oberst runzelte die Stirn. Die Luft hatte sich entschieden abgekühlt. »Sie schon wieder! Stets zur unpassendsten Zeit!«

»Sie erinnern sich also an mich?«

»Ich glaube schon ...« Um der Wahrheit die Ehre zu geben, fiel es dem Oberst nicht leicht, genau einzugrenzen, woher die Erinnerung kam. Das Bild einer Frau, die in einer Ecke saß, stieg in seinem Gedächtnis auf, aber er konnte ihr Gesicht nicht erkennen.

»Der Schöpfer stürzte brennend ... er ward auf der Brücke zerschmettert ...« Die Worte klangen vertraut, aber Glokta konnte nicht sagen, woher. Alte Geschichten, Unsinn. Er verzog gequält das Gesicht. Verdammt, sein Bein tat weh.

»Ich glaube schon ...« Die Selbstsicherheit, die er sonst immer zeigte, schien zu verfliegen. Das Zimmer war nun eiskalt, und er konnte den weißen Atem sehen, der vor seinem Gesicht aufstieg. Unsicher erhob er sich von seinem Stuhl, als sein unwillkommener Besuch näher trat; sein Bein pochte wütend. »Was wollen Sie?«, brachte er heraus.

Das Gesicht kam nun ans Licht. Es war niemand anders als Mauthis, der Mann vom Bankhaus Valint und Balk. »Den Samen, Herr Oberst.« Und er lächelte auf seine freudlose Art. »Ich will den Samen.«

»Ich ... ich ...« Gloktas Rücken stieß gegen die Wand. Er konnte nicht weiter zurück.

»Den Samen!« Jetzt war es das Gesicht von Goyle, von Sult, von Severard, aber sie alle verlangten dasselbe. »Den Samen! Ich verliere die Geduld!«

»Bayaz«, flüsterte er, kniff die Augen zusammen, und Tränen quollen unter den Lidern hervor. »Bayaz weiß es ...«

»Klopf, klopf, Foltermeister.« Wieder die zischende Stimme der Frau. Eine Fingerspitze stieß schmerzhaft gegen seinen Kopf. »Wenn der alte Lügner das wüsste, dann wäre er schon mein. Nein. Sie werden ihn finden.« Er konnte vor Angst nicht sprechen. »Sie werden ihn finden, oder ich werde den Preis dafür aus Ihrem zerquälten Fleisch reißen. Also, klopf, klopf, Zeit, um aufzuwachen.«

Der Finger stieß wieder gegen seinen Schädel und grub sich seitlich in seinen Kopf wie eine Dolchklinge. »Klopf, klopf, Krüppel!«, zischte ihm die hässliche Stimme ins Ohr, und ihr Atem war so kalt, dass er auf seiner bloßen Wange brannte. »Klopf, klopf!«

 

Klopf, klopf.

Einen kurzen Augenblick lang wusste Glokta kaum, wo er war. Er schoss mit einem Ruck in die Höhe, kämpfte mit den Laken, sah sich mit wildem Blick um und fühlte sich auf jeder Seite von drohenden Schatten umfangen. Sein eigener jämmerlicher Atem zischte in seinem Kopf. Dann passte plötzlich alles zueinander. Meine neue Wohnung. Eine angenehme Brise bewegte die Vorhänge in der schwülwarmen Nacht und zog durch das eine Fenster, das offen stand. Glokta sah, wie sich der Schatten auf der gegenüberliegenden Wand bewegte. Es fiel gegen den Rahmen und schwang wieder auf, dann schloss es sich wieder.

Klopf, klopf.

Er schloss die Augen und stieß einen langen Seufzer aus. Dann ließ er sich schmerzgeplagt ins Bett zurücksinken, streckte die Beine aus und bewegte seine Zehen dem Krampf entgegen. Jedenfalls jene Zehen, die mir die Gurkhisen gelassen haben. Es war nur wieder ein Traum. Alles ist ...

Und dann fiel es ihm ein, und er riss die Augen weit auf. Der König ist tot. Morgen wählen wir einen neuen.

 

Die dreihundertundzwanzig Blätter hingen leblos von ihren Nägeln. In den vergangenen Wochen waren sie zerknitterter, abgenutzter, fettiger und schmieriger geworden. Genau wie dieses Geschäft insgesamt immer mehr zu Drecksarbeit geworden ist. Viele waren tintenverschmiert, mit zornig dahingekritzelten Notizen bedeckt, mit Einfügungen und Ausstreichungen versehen. Nachdem Männer gekauft und verkauft, bedroht und erpresst, bestochen und verlockt worden waren. Viele zeigten auch Löcher und Risse, wo Wachs entfernt, hinzugefügt, mit anderer Farbe ersetzt worden war. je nachdem, wie sich die Bündnisse veränderten, Versprechen gebrochen wurden und das Pendel einmal hierhin und einmal dorthin ausschlug.

Erzlektor Sult stand da und starrte die Zettel an wie ein Schäfer seine ungehorsame Herde. Sein weißer Mantel war zerknittert, das weiße Haar zerrauft. Glokta hatte noch nie zuvor erlebt, dass Sult äußerlich keinen perfekten Anblick bot. Jetzt schmeckt er offenbar endlich Blut. Sein eigenes. Am liebsten würde ich lachen, wenn mein Mund nicht auch von diesem schrecklich salzigen Geschmack erfüllt wäre.

»Brock hat fünfundsiebzig«, zischte Sult an sich selbst gewandt, während seine weiß behandschuhten Hände hinter seinem Rücken aneinander zupften. »Brock hat fünfundsiebzig. Ischer hat fünfundfünfzig. Skald und Barezin, beide jeder vierzig. Brock hat fünfundsiebzig ...« Immer wieder murmelte er die Zahlen vor sich hin, als seien sie eine Beschwörung, um ihn vor dem Bösen zu bewahren. Oder vielleicht auch vor dem Guten. »Ischer hat fünfundfünfzig ...«

Glokta musste ein Lächeln unterdrücken. Brock, dann Ischer, dann Skald und Barezin, während sich die Inquisition und die Gerichtsbarkeit über Brosamen streiten. So sehr wir uns auch bemüht haben, liegen die Dinge immer noch ganz ähnlich wie vor dem Beginn dieses hässlichen Tanzes. Wir hätten genauso gut außer Landes fliehen und uns den ganzen Ärger sparen können. Vielleicht ist es dafür noch nicht zu spät ...

Glokta räusperte sich geräuschvoll, und Sults Kopf fuhr herum. »Haben Sie etwas beizutragen?«

»Gewissermaßen, Euer Eminenz.« Glokta sprach in einem so dienstbeflissenen Ton, wie ihm irgend möglich war. »Ich erhielt kürzlich eine ... sehr beunruhigende Information.«

Sult warf ihm einen finsteren Blick zu und nickte mit dem Kopf zu den Papieren hinüber. »Noch beunruhigender als das da?«

Mindestens genauso sehr. Immerhin wird, wer auch immer die Wahl gewinnt, nur für sehr kurze Zeit feiern können, wenn die Gurkhisen eine Woche später erscheinen und uns alle abschlachten. »Mir kam zu Ohren, dass ... die Gurkhisen einen Überfall auf Midderland vorbereiten.«

Es folgte eine kurze, unangenehme Pause. Wohl kaum eine besonders vielversprechende Reaktion, aber jetzt haben wir schon die Segel gesetzt. Was bleibt uns also anderes übrig, als direkt ins Auge des Sturms zu steuern?

»Einen Überfall?«, fragte Goyle verächtlich. »Womit denn das?«

»Es ist nicht das erste Mal, dass man mir gesagt hat, sie besäßen eine Flotte.« Versuchen wir jetzt also verzweifelt, das leckgeschlagene Schiff auf Kurs zu halten. »Eine beträchtliche Flotte, die im Geheimen nach dem letzten Krieg gebaut wurde. Wir könnten jetzt noch leicht Vorbereitungen treffen, und wenn dann die Gurkhisen kommen ...«

»Und falls Sie sich irren?« Der Erzlektor hatte ein äußerst finsteres Gesicht aufgesetzt. »Von wem haben Sie diese Information?«

Ach du liebe Zeit, nein, das geht nun gar nicht. Carlot dan

Eider? lebendig? Wie kann das sein? Wasserleiche unten am Kai gefunden ... »Eine anonyme Quelle, Herr Erzlektor.«

»Anonym?« Seine Eminenz warf ihm aus zusammengekniffenen Augen einen brennenden Blick zu. »Und Sie verlangen von mir, dass ich in einer Zeit wie dieser vor den Geschlossenen Rat trete und seinen Mitgliedern das unbestätigte Geschwätz Ihrer anonymen Quelle präsentiere?« Die Wellen schlagen über das Deck ...

»Ich wollte Euer Eminenz lediglich auf die Möglichkeit hinweisen ...«

»Wann werden sie kommen?« Das zerrissene Segeltuch schlägt in den Windböen hin und her ...

»Mein Informant hat mir nicht ...«

»Wann werden sie an Land gehen?« Die Seeleute stürzen schreiend aus den Wanten ...

»Wie gesagt, Euer Eminenz, ich kann nicht ...« Das Steuerruder bricht in meinen zitternden Händen ...

Glokta verzog gequält das Gesicht und beschloss, lieber gar nichts mehr zu sagen.

»Dann unterlassen Sie es bitte, uns mit derartigen Gerüchten abzulenken«, schnappte Sult, die Lippen verächtlich gekräuselt. Das Schiff versinkt in den gnadenlosen Wellen, die kostbaren Warnungen, die es trägt, ziehen es in die Tiefe, und seinen Kapitän wird niemand vermissen. »Wir haben dringendere Probleme als eine Legion gurkhisischer Phantome!«

»Natürlich, Euer Eminenz.« Und wenn die Gurkhisen kommen, wen werden wir dann hängen? Oh, natürlich Superior Glokta. Wieso hat der verdammte Krüppel denn auch nichts gesagt?

Sults Gedanken zogen jedoch schon wieder ihre wohlbekannten Kreise. »Wir haben einunddreißig Stimmen und Marovia hat irgendwas über zwanzig. Einunddreißig. Das reicht nicht, um etwas auszurichten.« Er schüttelte grimmig den Kopf, und seine blauen Augen zuckten über die Zettel. Als ob man, wenn man diese Blätter mit Blicken durchbohrt, irgendeine Möglichkeit entdecken könnte, um etwas an jener schrecklichen Berechnung zu ändern. »Nicht einmal annähernd.«

»Es sei denn, dass wir mit Kronrichter Marovia zu einer Übereinkunft kämen.« Wieder folgte eine Pause, die sogar noch unangenehmer war als die letzte. Ach du meine Güte. Ich muss das laut ausgesprochen haben.

»Eine Übereinkunft?«, zischte Sult.

»Mit Marovia?«, quiekte Goyle, dem die Augen triumphierend aus dem Kopf quollen. Wenn alle sicheren Möglichkeiten erschöpft sind, dann muss man eben Risiken eingehen. War es nicht das, was ich mir sagte, als ich auf die Brücke ritt, auf deren anderer Seite die Gurkhisen warteten? Nun denn, begeben wir uns noch einmal in den Sturm ...

Glokta holte tief Luft. »Marovias Sitz im Geschlossenen Rat ist nicht sicherer als der aller anderen Parteien. Wir mögen gegeneinander gearbeitet haben, aber das geschah gewissermaßen aus Gewohnheit. Was diese Wahl betrifft, verfolgen wir dieselben Ziele. Wir wollen einen schwachen Kandidaten und das alte Gleichgewicht beibehalten. Gemeinsam haben Sie mehr als fünfzig Stimmen. Das könnte durchaus reichen, um die Waage zu unserem Vorteil ausschlagen zu lassen.«

Goyle sah ihn voller Verachtung an. »Mit diesem heuchlerischen Bauernfreund zusammenarbeiten? Haben Sie den Verstand verloren?«

»Halten Sie den Mund, Goyle.« Sult starrte Glokta einen langen Augenblick an, die Lippen nachdenklich geschürzt. Denkt er vielleicht gerade über meine Bestrafung nach? Wird er mich wieder mit Worten ohrfeigen? Oder vielleicht echte Schläge vorziehen? Oder wird meine Leiche im Wasser an den Kais ... »Sie haben Recht. Gehen Sie und reden Sie mit Marovia.«

Sand dan Glokta, erneut zum Helden geworden!

Goyle klappte der Kiefer herunter. »Aber ... Euer Eminenz!«

»Die Zeit, in der wir Stolz zeigen konnten, ist lange vorbei!«, bellte Sult. »Wir müssen jede Gelegenheit ergreifen, um Brock und die anderen vom Thron fernzuhalten. Wir müssen Kompromisse eingehen, so sehr sie uns auch schmerzen mögen, und wir müssen Verbündete gewinnen, wo immer wir sie finden können. Gehen Sie!«, zischte er über seine Schulter, verschränkte die Arme und wandte sich wieder den knisternden Zetteln zu. »Handeln Sie eine Vereinbarung mit Marovia aus.«

Glokta erhob sich steifbeinig aus seinem Sessel. Es ist ja eine Schande, eine derart angenehme Gesellschaft zu verlassen, aber wenn die Pflicht ruft ... Er warf Goyle ein besonders knappes, zahnloses Lächeln zu, dann nahm er seinen Stock auf und humpelte auf die Tür zu.

»Und – Glokta!« Mit schmerzverzogenem Gesicht wandte er sich noch einmal um. »Marovias Ziele und die unseren mögen für eine Weile dieselben sein. Aber wir können ihm nicht trauen. Bewegen Sie sich mit größter Vorsicht.«

»Natürlich, Euer Eminenz.« Das tue ich immer. Welche andere Möglichkeit hat man auch, wenn jeder Schritt schmerzt?

 

Das private Arbeitszimmer des Kronrichters war groß wie eine Scheune, und die Decke war mit alten Stuckgirlanden überzogen, in denen dichte Schatten lagerten. Zwar war es erst später Nachmittag, aber die schweren Efeu ranken vor den Fenstern und die dicke Schmutzschicht auf den Scheiben tauchten den Saal in ständiges Zwielicht. Auf jeder Fläche stapelten sich schwankende Papierberge. Aufeinandergetürmte, ledergebundene Folianten. Sammlungen staubiger Pergamentstücke, die mit wichtigtuerischer, verschnörkelter Schrift bedeckt waren, mit riesenhaften Siegeln aus rotem Wachs und schimmerndem Gold versehen. So, wie es aussah, lagerten hier Gesetze im Wert des ganzen Königreichs. Und wahrscheinlich ist es auch genauso.

»Superior Glokta, guten Abend.« Marovia selbst saß an einem langen Tisch nahe dem leeren Kamin. Alles war für das Abendessen gedeckt, ein flackernder Kandelaber ließ jede Schüssel und jeden Teller in der Düsternis glänzen. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich esse, während wir uns unterhalten? Zwar äße ich lieber in meinen gemütlichen Privatgemächern, aber ich stelle fest, dass ich meine Mahlzeiten immer häufiger hier zu mir nehme. Es ist so viel zu tun, verstehen Sie? Und einer meiner Sekretäre scheint noch dazu unangekündigt Urlaub genommen zu haben.« Eine kleine Reise auf den Boden des Schlachthauses, bei der er einen Umweg über die Eingeweide einer Herde Schweine einschlug. »Würden Sie mir beim Essen Gesellschaft leisten?« Marovia deutete auf ein großes Bratenstück, das in der Mitte beinahe noch roh war und in blutiger Soße schwamm.

Glokta leckte über sein leeres Zahnfleisch, als er sich auf einen Stuhl Marovia gegenüber schob. »Ich würde nur zu gern, Euer Gnaden, aber die Gesetze der Zahnheilkunde halten mich leider davon ab.«

»Ah, natürlich. Diese Gesetze lassen sich nicht beugen, nicht einmal von einem Kronrichter. Sie haben mein tief empfundenes Mitgefühl, Herr Superior. Eine schöne Scheibe Fleisch, je blutiger, je besser, gehört zu meinen größten Freuden. Man darf ihm die Flamme nur einmal kurz zeigen, sage ich immer zu meinem Koch. Nur ganz kurz.« Wie witzig. Meine Praktikalen weise ich auch stets an, ganz genau so anzufangen. »Und welchem Umstand schulde ich diesen unerwarteten Besuch? Kommen Sie aus eigenem Antrieb oder auf Drängen Ihres Dienstherrn, meines geschätzten Kollegen aus dem Geschlossenen Rat, Erzlektor Sult?«

Ihres bitteren Todfeindes aus dem Geschlossenen Rat, meinen Sie? »Seine Eminenz weiß, dass ich hier bin.«

»Weiß er das, ja?« Marovia schnitt sich eine weitere Scheibe ab und bugsierte sie tropfend auf seinen Teller. »Und mit welcher Botschaft hat er Sie zu mir geschickt? Hat es vielleicht irgendetwas mit den Vorgängen zu tun, die sich morgen im Offenen Rat abspielen werden?«

»Sie verderben mir die Überraschung, Euer Gnaden. Darf ich offen sprechen?«

»Wenn Sie wissen, wie das geht ...«

Glokta zeigte dem Kronrichter sein leeres Grinsen. »Diese Sache mit der Wahl ist unglaublich schlecht fürs Geschäft. Die Zweifel, die Unsicherheit, die Sorgen. Schlecht für jedermanns Geschäft.«

»Für einige mehr als für die anderen.« Marovias Messer schrammte quietschend über den Teller, als er einen Streifen Fett vom Rand des Fleisches abtrennte.

»Natürlich. Besonders gefährdet sind jene, die im Geschlossenen Rat sitzen, und auch jene, die in ihrem Auftrag handeln. Es ist unwahrscheinlich, dass sie weiterhin derartig freie Hand haben werden, wenn Männer wie Brock oder Ischer auf den Thron gewählt würden.« Einige von uns könnten wohl sogar erwarten, dass sie in diesem Fall das Ende der Woche nicht mehr erleben würden.

Marovia spießte eine Karottenscheibe mit der Gabel auf und sah sie schlecht gelaunt an. »Eine beklagenswerte Lage. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn Raynault oder Ladisla noch am Leben wären.« Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Zumindest, wenn Raynault noch lebte. Aber die Wahl wird morgen stattfinden, ganz gleich, wie viele Haare wir uns deswegen vorher ausreißen. Nun ist es auch schwer geworden, noch einen Weg ausfindig zu machen, der aus dieser verfahrenen Situation herausführt.« Er sah von der Karotte zu Glokta. »Oder hätten Sie einen Vorschlag?«

»Sie, Euer Ehren, kontrollieren zwischen zwanzig und dreißig Stimmen im Offenen Rat.«

Marovia zuckte die Achseln. »Ich habe gewissen Einfluss, das kann ich nicht leugnen.«

»Der Erzlektor verfügt selbst über dreißig Stimmen.« »Wie schön für Seine Eminenz.«

»Nicht unbedingt. Wenn Sie einander bekämpfen, wie Sie es immer getan haben, werden Ihre Stimmen nichts ausrichten. Der eine für Ischer, der andere für Brock, und es macht keinerlei Unterschied.«

Marovia seufzte. »Ein trauriges Ende unserer bisher so großartigen Laufbahnen.«

»Es sei denn, Sie würden Ihre Kräfte bündeln. Dann verfügten Sie gemeinsam über sechzig Stimmen. Fast so viele wie jene, über die Brock gebietet. Das würde reichen, um aus Skald, Barezin, Heugen oder sogar einem völlig Unbekannten einen König zu machen, je nachdem, wie es läuft. Jemand, der in Zukunft wesentlich leichter zu beeinflussen wäre. Jemand, der den Geschlossenen Rat behält, so wie er ist, statt einen neuen zu wählen.«

»Einen König, der uns alle glücklich macht, wie?«

»Wenn Sie einem bestimmten Mann den Vorzug geben, dann könnte ich Seine Eminenz davon unterrichten.« Noch mehr Treppen, noch mehr Überredungskünste, noch mehr Enttäuschungen. Hätte ich doch nur ein eigenes Dienstzimmer, in dem ich den ganzen Tag gemütlich sitzen könnte, während schleimende Arschlöcher meine Treppenstufen emporschnaufen, um über meine Beleidigungen zu lächeln, meine Lügen aufzusaugen und um meine giftige Unterstützung zu betteln.

»Soll ich Ihnen sagen, was mich glücklich machen würde, Superior Glokta?«

Und nun kommen wir zu den Überlegungen des nächsten machtgierigen alten Sacks. »Wenn Sie möchten, Euer Gnaden.«

Marovia warf das Besteck auf seinen Teller, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß einen langen, müden Seufzer aus. »Ich hätte am liebsten überhaupt keinen König. Mir wäre es am liebsten, jeder Mann wäre vor dem Gesetz gleich, könnte bei der Verwaltung seines Landes mitbestimmen und seine eigenen Anführer wählen. Ich hätte am liebsten keinen König, keine Edelleute und einen Geschlossenen Rat, der von den Bürgern selbst gewählt würde und ihnen auch verantwortlich wäre. Ein Geschlossener Rat, der allen offen stünde, sozusagen. Was halten Sie davon?«

Ich glaube, einige Leute würden sagen, dass das sehr nach Hochverrat klingt. Alle anderen hielten es vermutlich schlicht für Irrsinn. »Ich denke, Euer Gnaden, dass Ihre Vorstellung reine Phantasie ist.«

»Wieso das?«

»Weil die große Mehrheit der Menschen lieber gesagt bekommt, was zu tun ist, als eine eigene Entscheidung zu treffen. Gehorsamkeit ist einfach.«

Der Kronrichter lachte. »Vielleicht haben Sie recht. Aber die Dinge werden sich ändern. Dieser Aufstand hat mich davon überzeugt. Die Dinge werden sich ändern, in kleinen Schritten.«

»Ich bin sicher, Lord Brock auf dem Thron wäre ein kleiner Schritt, den keiner von uns gern sehen würde.«

»Lord Brock hat in der Tat sehr genaue Vorstellungen, vor allem, was seine eigene Person betrifft. Sie vertreten Ihre Sache sehr überzeugend, Herr Superior.« Marovia lehnte sich weiter zurück, die Hände über dem Bauch gefaltet, und sah Glokta mit zusammengekniffenen Augen an. »Nun gut. Sie können Erzlektor Sult berichten, dass wir dieses Mal gemeinsame Interessen verfolgen. Wenn sich ein neutraler Kandidat mit genügend Unterstützung präsentiert, dann werde ich meine Stimmen mit seinen zusammenwerfen. Wer hätte das gedacht? Der Geschlossene Rat vereint.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Es sind wahrlich seltsame Zeiten.«

»Das sind sie sicherlich, Euer Gnaden.« Glokta kam mühsam auf die Beine und verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als er das Gewicht auf sein brennendes Bein verlagerte und durch den düsteren, widerhallenden Raum zur Tür humpelte. Dennoch seltsam, wie gelassen es unser Kronrichter nimmt, dass er morgen seine Stellung verlieren könnte. Selten habe ich einen Mann mit mehr Ruhe gesehen. Er hielt inne, als er den Türgriff berührte. Man könnte beinahe glauben, er weiß etwas, von dem wir noch nichts wissen. Man könnte beinahe glauben, er hätte schon einen Plan.

Er wandte sich noch einmal um. »Kann ich Ihnen vertrauen, Herr Kronrichter?«

Marovia sah ruckartig auf, das Tranchiermesser in der Hand. »Was für eine herrlich kuriose Frage von einem Mann in Ihrem Beruf. Ich würde sagen, Sie können mir insoweit vertrauen, dass ich in meinem eigenen Interesse handeln werde. Eben so weit, wie ich Ihnen vertraue, dass Sie dasselbe tun. Weiter als das reicht unsere Vereinbarung nicht. Und das sollte sie auch nicht. Sie sind ein kluger Mann, Herr Superior, Sie bringen mich zum Lächeln.« Damit wandte er sich wieder seinem Braten zu, stach mit einer Gabel hinein und ließ das Blut herausrinnen. »Sie sollten sich einen anderen Dienstherrn suchen.«

Glokta schlurfte hinaus. Ein hübscher Vorschlag. Aber ich habe schon zwei mehr, als mir lieb ist.

 

Der Gefangene war von ausgemergeltem, sehnigem Körperbau, wie immer nackt und mit einem Sack über dem Kopf, die Hände hinter dem Rücken sicher zusammengebunden. Glokta sah zu, als Frost ihn aus den Zellen in den Raum mit der Kuppeldecke brachte; seine stolpernden Füße patschten auf den kalten Boden.

»Er war nicht allzu schwer zu erwischen«, sagte Severard. »Er hatte sich schon vor einer Weile von den anderen getrennt, aber seitdem hing er in der Stadt herum wie alter Pissgeruch. Wir haben ihn gestern Nacht aufgelesen.«

Frost schleuderte den Gefangenen auf einen Stuhl. Wo bin ich? Wer hält mich gefangen? Was wollen sie? Ein schrecklicher Moment, kurz bevor die Arbeit beginnt. Das Entsetzen und die Hilflosigkeit, das übelkeiterregende Gefühl einer Vorahnung. Meine eigene Erinnerung daran wurde kürzlich wieder aufgefrischt, von der entzückenden Magisterin Eider. Allerdings hat man mich unbelästigt wieder freigelassen. Der Gefangene saß da, den Kopf zu einer Seite geneigt; das Sackleinen bewegte sich im Rhythmus seines hastigen Atmens vor dem Mund hin und her. Ich bezweifle doch sehr, dass er dasselbe Glück haben wird.

Gloktas Augen glitten zögernd zu dem Gemälde über dem verhüllten Kopf des Gefangenen. Unser alter Freund Kanedias. Das gemalte Gesicht starrte ihn finster von der Deckenkuppel an, die Arme ausgebreitet, hinter ihm das farbenfroh lodernde Feuer. Der Schöpfer stürzte brennend ... Er wog den schweren Hammer nachdenklich in der Hand. »Dann lasst es uns mal hinter uns bringen.« Severard riss den Leinensack mit theatralischem Schwung herunter.

Der Wegkundige blinzelte ins helle Lampenlicht, ein wettergegerbtes Gesicht, gebräunt und von tiefen Falten durchzogen, mit rasiertem Kopf wie ein Priester. Oder wie ein geständiger Verräter natürlich.

»Ihr Name ist Bruder Langfuß?«

»Ja, so ist es! Vom erlauchten Orden der Wegkundigen! Ich versichere Ihnen, dass ich mich keines Verbrechens schuldig gemacht habe!« Die Worte sprudelten aus ihm heraus. »Ich habe nichts Ungesetzliches getan, o nein.

Das wäre auch gar nicht meine Art. Ich kann mir keinen Grund denken, weshalb ich auf diese grobe Weise behandelt werden sollte! Keinen einzigen!« Sein Blick glitt nach unten, und er sah den Amboss, der auf dem Boden zwischen ihm und Glokta glänzte, dort, wo sonst der Tisch gestanden hätte. Seine Stimme ging eine volle Oktave höher. »Der Orden der Wegkundigen ist äußerst angesehen, und ich bin ein Mitglied von sehr gutem Ruf! Von ausgezeichnetem Ruf! Das Auffinden von Wegen ist das erste meiner vielen bemerkenswerten Talente, ja, so ist es, das erste von ...«

Glokta schlug mit dem Hammer gegen die Oberseite des Ambosses; der dröhnende Ton hätte die Toten wecken können. »Klappe! Halten!« Der kleine Mann blinzelte und glotzte, aber er hielt die Klappe. Glokta sank wieder in seinen Sessel, knetete den verdorrten Schenkel, und der Schmerz kroch prickelnd den Rücken empor. »Haben Sie eine Ahnung, wie müde ich bin? Oder wie viel ich zu tun habe? Der Schmerz, den ich jeden Morgen beim Aufstehen empfinde, macht einen gebrochenen Mann aus mir, noch bevor der Tag begonnen hat, und der jetzige Augenblick ist für mich besonders anstrengend. Daher ist es mir vollständig gleichgültig, ob Sie weiterhin gehen, ob Sie sehen oder für den Rest Ihres unglaublich kurzen, unglaublich schmerzerfüllten Lebens Ihre Scheiße bei sich behalten können. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Der Wegkundige sah mit großen Augen zu Frost empor, der ihn wie ein übergroßer Schatten überragte. »Ich verstehe«, flüsterte er.

»Gut«, sagte Severard.

»Fffehr gupp«, sagte Frost.

»Wirklich sehr gut«, sagte Glokta. »Berichten Sie mir, Bruder Langfuß, zählt zu Ihren bemerkenswerten Talenten auch eine übermenschliche Widerstandskraft gegen Schmerz?«

Der Gefangene schluckte. »Das kann ich nicht behaupten.«

»Dann sind die Regeln unseres Spiels ganz einfach. Ich stelle eine Frage, und Sie beantworten diese, und zwar korrekt und vor allem kurz und knapp. Ist das klar?«

»Ich verstehe vollkommen. Ich rede nur, um mich in aller Kürze ...«

Frosts Faust prallte in seinen Bauch, und er klappte mit hervorquellenden Augen zusammen. »Verstehen Sie«, zischte Glokta, »dass Ihre Antwort eben einfach Ja hätte lauten sollen?« Der Albino ergriff den Fuß des keuchenden Wegkundigen und zerrte ihn auf den Amboss. Oh, kaltes Metall an der empfindlichen Fußsohle. Wirklich unangenehm, aber es könnte noch so viel schlimmer werden. Und irgendetwas lässt mich ahnen, dass es wohl auch noch so kommen wird. Frost ließ eine Schelle um Langfuß’ Knöchel zuschnappen.

»Ich muss mich für die Einfallslosigkeit entschuldigen«, seufzte Glokta. »Zu unserer Verteidigung kann ich nur anführen, dass es so schwierig ist, sich jedes Mal wieder etwas Neues auszudenken. Ich meine, den Fuß eines Mannes mit einem Vorschlaghammer zu zerschmettern, das ist so ...«

»Fffampawieloff?«, schlug Frost vor.

Glokta hörte ein kurzes Auflachen, das hinter Severards Maske hervordrang, und er spürte, dass sich auch sein Mund zu einem Grinsen verzog. Er hätte wirklich ein Possenreißer werden sollen, kein Folterknecht. »Phantasielos! Ganz genau. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Sollten wir nicht bekommen haben, was wir brauchen, nachdem wir unterhalb Ihrer Knie alles zu Brei geschlagen haben, dann werden wir sehen, ob uns für den Rest Ihrer Beine nicht noch etwas Besseres einfällt. Wie hört sich das an?«

»Aber ich habe nichts getan!«, kreischte Langfuß, der gerade wieder zu Atem kam. »Ich weiß nichts! Ich habe ...«

»Vergessen Sie ... das alles. Es ist jetzt bedeutungslos.« Glokta lehnte sich langsam und bedrohlich nach vorn und ließ dabei die Spitze des Hammerkopfes sanft gegen das Eisen neben dem Fuß des Navigators klopfen. »Ich möchte, dass Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit ... auf meine Fragen ... und auf Ihre Zehen ... und auf diesen Hammer richten. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wenn Ihnen das jetzt noch nicht leicht fällt. Glauben Sie mir – wenn der Hammer einmal trifft, dann wird es für Sie kein Problem sein, alles andere aus Ihren Gedanken zu verbannen.«

Langfuß starrte auf den Amboss, und seine Nasenflügel bebten, als er hastig ein- und ausatmete. Endlich wird ihm bewusst, in welch ernster Lage er sich befindet.

»Nun zu den Fragen«, sagte Glokta. »Sie sind mit dem Mann bekannt, der sich selbst als Bayaz, Erster der Magi, ausgibt?«

»Ja! Bitte! Ja! Bis vor kurzem war er mein Dienstherr.«

»Gut.« Glokta regte sich in seinem Stuhl und versuchte, eine bequemere Haltung zu finden, während er sich nach vorn beugte. »Sehr gut. Sie haben ihn auf einer Reise begleitet?«

»Ich fand für ihn den richtigen Weg!«

»Was war Ihr Ziel?«

»Die Insel Schabulyan am Ende der Welt.«

Glokta ließ den Kopf des Hammers wieder gegen den Amboss klopfen. »Ach, kommen Sie, kommen Sie. Das Ende der Welt? Das ist doch wohl nur reine Phantasie?«

»Es ist wahr! Es ist wahr! Ich habe es gesehen! Mit meinen eigenen Füßen stand ich auf dieser Insel!«

»Wer reiste mit Ihnen?«

»Einer war ... Logen Neunfinger, aus dem fernen Norden.«

Ah ja, der mit den Narben und den fest zusammengepressten Lippen. »Ferro Maljinn, eine Kanteserin.« Die, mit der unser Freund Superior Goyle so viel Ärger hatte. »Jezal dan Luthar, ein ... ein Offizier der Union.« Ein aufgeblasener Dummkopf. »Malacus Quai, Bayaz’ Lehrling.« Der magere Lügner mit der Hautfarbe eines Grottenolms. »Und dann noch Bayaz selbst!«

»Sie waren zu sechst?«

»Nur zu sechst!«

»Eine lange und schwierige Reise. Was gab es am Ende der Welt, das eine derartige Mühe lohnte, von Wasser einmal abgesehen?«

Langfuß’ Lippen bebten. »Nichts!« Glokta verzog das Gesicht und stupste den großen Zeh des Wegkundigen mit dem Hammerkopf an. »Es war nicht da! Das, wonach Bayaz suchte! Es war nicht da! Er sagte, man habe ihn hereingelegt!«

»Was war es, von dem er dachte, dass es sich dort befand?«

»Er sagte, es sei ein Stein!«

»Ein Stein?«

»Die Frau hat ihn gefragt. Er sagte, es sei ein Stein ... ein Stein von der Anderen Seite.« Der Wegkundige schüttelte den nass geschwitzten Kopf. »Eine unheilige Vorstellung! Ich bin froh, dass wir etwas Derartiges nicht fanden. Bayaz nannte es den Samen!«

Glokta fühlte, wie das Grinsen von seinem Gesicht schmolz. Der Samen. Ist das jetzt Einbildung, oder ist der Raum kälter geworden? »Was hat er sonst noch davon erzählt?«

»Nur Mythen und Unsinn!«

»Sagen Sie es mir trotzdem.«

»Geschichten über Glustrod und das zerstörte Aulcus, und vom Gestaltannehmen und Gesichterstehlen! Davon, wie man zu Teufeln spricht und wie man sie herbeiruft. Von der Anderen Seite.«

»Was sonst noch?« Glokta versetzte Langfuß’ Zeh einen festeren Stups mit dem Hammer.

»Ah! Ah! Er sagte, der Samen sei etwas aus der Unterwelt! Er sei ein Überbleibsel aus der Zeit vor der Alten Zeit, als die Dämonen auf der Erde wandelten! Er sagte, er sei eine große und mächtige Waffe! Er wollte sie benutzen, gegen die Gurkhisen! Gegen den Propheten!« Eine Waffe aus der Zeit vor der alten Zeit. Wie man Dämonen herbeiruft und eine andere Gestalt annimmt. Kanedias schien grimmiger denn je von der Wand herabzusehen, und Glokta verzog das Gesicht. Er erinnerte sich an den albtraumhaften Besuch im Haus des Schöpfers, an die Lichtmuster auf dem Fußboden und an die sich bewegenden Ringe in der Dunkelheit. Er wusste noch, wie er auf das Dach getreten war und hoch über der Stadt gestanden hatte, ohne auch nur eine einzige Treppenstufe gegangen zu sein.

»Sie haben ihn nicht gefunden?«

»Nein! Er war nicht da!«

»Und dann?«

»Das war alles! Wir kamen über die Berge zurück. Wir bauten ein Floß und fuhren auf dem großen Aos bis zum Meer. In Calcis bestiegen wir ein Schiff, und jetzt sitze ich vor Ihnen!«

Glokta kniff die Augen zusammen und betrachtete sorgsam das Gesicht seines Gefangenen. Da gibt es noch mehr. Das kann ich sehen. »Was verschweigen Sie mir?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt! Ich habe kein Talent, mich zu verstellen!« Damit zumindest spricht er die Wahrheit. Seine Lügen sind offenkundig.

»Wenn Ihr Dienstverhältnis beendet ist, wieso sind Sie dann noch in der Stadt?«

»Weil ... weil ...« Die Augen des Wegkundigen huschten durch den Raum.

»Oh, meine Güte, nein.« Der schwere Hammer krachte mit Gloktas ganzer verkrüppelter Stärke herab und zerquetschte Langfuß’ großen Zeh mit einem dumpfen Schlag. Der Wegkundige starrte seinen Fuß an, und seine Augen quollen aus ihren Höhlen. Ah, dieser herrliche, entsetzliche Augenblick zwischen dem Anstoßen des Zehs und dem Einsetzen des Schmerzes. Jetzt kommt er. Jetzt kommt ... Langfuß stieß einen lauten Schrei aus, wand sich in seinem Stuhl, das Gesicht vor Schmerz verzerrt.

»Ich kenne das Gefühl«, sagte Glokta, der gequält dreinblickte, während er die eigenen verbliebenen Zehen in seinem schweißnassen Stiefel hin und her bewegte. »Ich kenne es, wirklich und wahrhaftig, und ich fühle mit Ihnen. Erst der blendende Blitz des Schmerzes, dann kriecht die Übelkeit und schwindelerregende Schwäche des zerschmetterten Knochens im Körper hoch, danach beginnt das Bein langsam zu pochen, und der Schmerz zieht das Wasser aus den Augen und lässt den ganzen Körper erzittern.« Langfuß keuchte und winselte, Tränen glitzerten auf seinen Wangen. »Und was kommt danach? Wochenlanges Humpeln? Monatelanges verkrüppeltes Hinken? Und wenn der nächste Schlag Ihren Knöchel trifft?« Glokta tippte mit der Seite des Hammerkopfes gegen Langfuß’ Schienbein. »Oder gleich direkt Ihre Kniescheibe, was dann? Werden Sie je wieder gehen können? Ich kenne diese Empfindungen gut, das können Sie mir glauben.« Wie kann es dann sein, dass ich sie jetzt anderen Menschen zufüge? Er zuckte mit den verdrehten Schultern. Das Leben ist voller Geheimnisse. »Noch einmal?« Und damit hob er den Hammer erneut.

»Nein! Nein! Warten Sie!«, heulte Langfuß. »Der Priester! Gott helfe mir, ein Priester kam zu unserem Orden! Ein gurkhisischer Priester! Er sagte, dass der Erste der Magi eines Tages nach einem Wegkundigen fragen würde und dass man ihn dann davon unterrichten solle. Und dass er auch zu erfahren wünschte, was anschließend geschah! Er stieß Drohungen aus, schreckliche Drohungen, und wir konnten nicht anders, wir mussten gehorchen! Ich habe in der Stadt auf einen anderen Wegkundigen gewartet, der ihm die Nachrichten überbringen soll! Erst heute Morgen habe ich diesem Mann all das erzählt, was ich auch Ihnen berichtet habe! Ich stand im Begriff, Adua zu verlassen, das schwöre ich!«

»Wie lautete der Name des Priesters?« Langfuß sagte nichts. Seine feuchten Augen waren geweitet, der Atem fuhr zischend durch seine Nase. Oh, wieso müssen sie mich immer wieder so auf die Probe stellen? Glokta sah auf den Zeh des Wegkundigen. Er schwoll bereits an und hatte sich verfärbt, an den Seiten zeigten sich schwarze Blutblasen, der Nagel hatte ein dunkles Lila angenommen, das am Rand zornig rot leuchtete. Glokta stieß hart das Ende des Hammergriffs auf den verwundeten Zeh. »Der Name des Priesters! Der Name! Der Name! Der ...«

»Aaargh! Mamun! Gott helfe mir! Sein Name lautete Mamun!« Mamun. Yulwei hat von ihm erzählt, damals in Dagoska. Der erste Lehrling des Propheten. Gemeinsam brachen sie das Zweite Gebot, gemeinsam verzehrten sie das Fleisch von Menschen.

»Mamun. Ich verstehe. Nun.« Glokta beugte sich vor und reckte den Hals, wobei er das hässliche Kribbeln ignorierte, das über seine verdrehte Wirbelsäule lief. »Was macht Bayaz hier?«

Langfuß starrte ihn mit leerem Blick an, und ein langer Speichelfaden hing von seiner Unterlippe. »Ich weiß es nicht!«

»Was will er hier bei uns? Was will er in der Union?«

»Ich weiß es nicht! Ich habe Ihnen alles erzählt!«

»Es verursacht mir heftige Qual, mich so weit vorzubeugen. Und das wird mir allmählich lästig.« Glokta runzelte die Stirn und hob den Hammer, dessen polierter Kopf schimmerte.

»Ich suche nur Wege von hier nach dort! Ich suche nur Wege! Bitte! Nein!« Langfuß kniff die Augen zusammen, die Zunge zwischen die Zähne gepresst. Jetzt kommt der Schlag. Jetzt kommt er. Jetzt kommt er ...

Glokta warf den Hammer scheppernd auf den Boden und lehnte sich zurück, dann bewegte er seine schmerzenden Hüften schaukelnd hin und her, um das dumpfe Pochen zu verdrängen. »Nun gut«, seufzte er, »ich gebe mich damit zufrieden.«

Der Gefangene öffnete erst ein verkniffenes Auge, dann das andere. Er sah voll Hoffnung auf. »Dann kann ich gehen?«

Severard lachte leise hinter seiner Maske. Selbst Frost gab eine Art Zischen von sich. »Natürlich können Sie gehen.« Glokta zeigte sein leeres Lächeln. »Sie können wieder unter Ihren Sack gehen.«

Das Gesicht des Wegkundigen wurde schlaff vor Entsetzen. »Gott erbarme sich meiner.«

Wenn es einen Gott gibt, dann kennt er kein Erbarmen.