DER KREIS

Der Tag brach an, ein graues Ahnen, ein ganz leichter Anflug von Helligkeit auf den erhabenen Umrissen der Mauern von Carleon. Die Sterne waren am steinernen Himmel verblasst, aber der Mond hing noch dort, ein kleines Stück über den Baumspitzen, und schien fast so nahe, als könnte man einen Pfeilschuss darauf wagen.

West hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan und war in jenes seltsame Reich nervöser, traumartiger Wachheit geglitten, das hinter der völligen Erschöpfung lauert. Eine Weile hatte er in der schweigenden Dunkelheit gesessen, nachdem alle Befehle gegeben worden waren, und hatte sich im Licht einer einzigen Lampe daran versucht, einen Brief an seine Schwester zu schreiben. Um Entschuldigungen herauszukotzen. Um Vergebung einzufordern. Er hatte dagesessen, er konnte selbst nicht sagen, wie lange, und die Feder hatte über dem Papier geschwebt, aber die Worte hatten einfach nicht kommen wollen. Er hatte ihr alles sagen wollen, was er fühlte, aber als es dann so weit war, hatte er gar nichts gefühlt. Die warmen Tavernen von Adua, Kartenspiele im sonnigen Hof, Ardees schiefes Lächeln. Es kam ihm vor, als sei all dies tausend Jahre her.

Die Nordmänner waren bereits wieder geschäftig. Sie kürzten das Gras im Schatten der Mauern, und das Klappern ihrer Scheren beschwor auf seltsame Weise die Erinnerung an die Gärtner im Agriont herauf. Ein Kreis, dessen Durchmesser etwa ein Dutzend Schritt maß, wurde bis auf die Wurzeln heruntergeschnitten. Vermutlich war das der Platz, auf dem der Zweikampf stattfinden würde. Der Platz, auf dem sich in den nächsten ein oder zwei Stunden das Schicksal des ganzen Nordens entscheiden würde. Es erinnerte ihn sehr an einen Fechtring, wenn man davon absah, dass er schon bald mit Blut getränkt sein würde.

»Eine barbarische Sitte«, brummte Jalenhorm, dessen Gedanken offenbar in eine ähnliche Richtung gingen.

»Tatsächlich?«, knurrte Pike. »Ich dachte gerade so bei mir, dass es doch eigentlich sehr zivilisiert ist.«

»Zivilisiert? Zwei Männer, die einander vor den Augen einer großen Menge abschlachten?«

»Besser, als wenn sich eine ganze Schar von Leuten abschlachtet. Man löst ein Problem, indem nur ein einziger Mann getötet wird? Das erscheint mir eine gute Art und Weise, um einen Krieg zu beenden.«

Jalenhorm fröstelte und blies warmen Atem in die hohlen Hände. »Trotzdem. So viel hängt jetzt von zwei Männern ab, die gegeneinander kämpfen. Was, wenn Neunfinger verliert?«

»Dann wird Bethod frei abziehen können, nehme ich an«, sagte West unglücklich.

»Aber er hat die Union überfallen! Er hat den Tod Tausender Menschen verursacht! Er verdient, bestraft zu werden!«

»Die Menschen bekommen nur selten das, was sie verdienen.« West dachte an Prinz Ladisla, dessen Knochen draußen in der Einöde verrotteten. Manchmal blieben schreckliche Verbrechen unbestraft, und andere wurden allein aus einer Laune des Schicksals heraus reich belohnt. Er hielt überrascht inne.

Ein Mann saß allein am Hang, den Rücken der Stadt zugewandt. Ein Mann in einem abgewetzten Mantel und so sehr in sich zusammengesunken, so ruhig und still im Dämmerlicht, dass West ihn beinahe übersehen hätte. »Ich komme gleich nach«, sagte er, als er vom Weg abbog. Das Gras, das von einem blassen Pelz aus Frost überzogen war, knirschte bei jedem Schritt leise unter seinen Füßen.

»Nimm dir einen Stuhl.« Der Atem dampfte zart um Neunfingers verdüstertes Gesicht.

West ließ sich neben ihm auf die kalte Erde sinken. »Bist du bereit?«

»Schon zehn Mal habe ich so etwas getan. Kann nicht sagen, dass ich je bereit gewesen wäre. Weiß auch nicht, ob man sich überhaupt auf so was vorbereiten kann. Für mich ist es am besten, habe ich bisher festgestellt, wenn ich einfach da sitze, die Zeit vorüberkriechen lasse und versuche, mir nicht in die Hosen zu machen.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass es ziemlich peinlich wäre, mit nassem Schritt in den Ring zu treten.«

»Joh. Ist aber trotzdem immer noch besser als ein gespaltener Kopf.«

Das war zweifelsohne richtig. West hatte natürlich früher schon von diesen Zweikämpfen der Nordmänner gehört. In Angland flüsterten sich schon die Kinder blutrünstige Geschichten über diese Duelle zu. Aber er hatte kaum eine richtige Vorstellung davon, wie sie tatsächlich abliefen. »Wie geht diese Sache vor sich?«

»Es wird ein Kreis markiert. An seinem Rand stellen sich Männer mit ihren Schilden auf, die Hälfte von der einen, die andere Hälfte von der anderen Seite, und sie sorgen dafür, dass niemand den Kreis verlässt, bevor die Sache nicht erledigt ist. Dann treten zwei Männer in den Kreis. Der, der nachher tot ist, hat verloren. Es sei denn, dass jemand es sich in den Kopf gesetzt hat, Gnade walten zu lassen. Glaub aber irgendwie nicht, dass das heute der Fall sein wird.«

Auch das war nicht zu leugnen. »Und womit wirst du kämpfen?«

»Jeder bringt eine Waffe mit. Das kann alles Mögliche sein. Dann wird ein Schild gedreht, und der Gewinner schnappt sich die Waffe, die er haben will.«

»Das heißt, du könntest letztendlich mit dem kämpfen, was dein Gegner mitgebracht hat?«

»Kann passieren. Schama Ohnherz habe ich mit seinem eigenen Schwert getötet, und ich wurde mit dem Speer aufgespießt, den ich selbst zum Kampf mit Harding Grimm mitbrachte.« Er rieb sich den Bauch, als ob ihn die Erinnerung an dieser Stelle schmerzte. »Aber es tut auch nicht mehr weh, wenn man mit dem eigenen Speer aufgeschlitzt wird statt mit dem von jemand anderem.«

West legte sich nachdenklich die Hand auf den Bauch. »Nein.« Sie saßen noch ein Weilchen länger schweigend da.

»Ich würde dich gern um einen Gefallen bitten.«

»Nenne ihn.«

»Würdest du mit deinen Freunden für mich den Schildwall bilden?«

»Wir?« West blinzelte zu den Carls, die im Schatten der Mauer standen. Ihre großen runden Schilde sahen so schwer aus, dass sie wahrscheinlich kaum zu heben und noch schlechter zu gebrauchen waren. »Bist du sicher? Ich habe mein ganzes Leben lang noch nie so ein Ding in der Hand gehabt.«

»Mag sein, aber du weißt, auf welcher Seite du stehst. Unter denen da sind verdammt wenige Leute, denen ich vertrauen kann. Die meisten versuchen sich immer noch einig zu werden, wen sie mehr hassen, mich oder Bethod. Da würde es reichen, wenn mir einer einen Schubs nach links gibt, wenn ich einen nach rechts brauche, oder mich fallen lässt, wenn ich gestützt werden muss. Und dann sind wir alle erledigt. Besonders ich.«

West blies die Backen auf. »Wir werden tun, was wir können.«

»Gut. Gut.«

Das kalte Schweigen zog sich hin. Über den schwarzen Bergen und den schwarzen Bäumen ging der Mond allmählich unter und verblasste.

»Sag mal, Wildzorn. Glaubst du, dass ein Mann für das, was er getan hat, bezahlen muss?«

West hob ruckartig den Kopf, und der unsinnige und scheußliche Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass Neunfinger von Ardee sprach oder von Ladisla, oder von beiden. Auf alle Fälle schienen die Augen des Nordmanns in dem Halblicht anklagend zu leuchten – aber dann spürte West, dass die Welle der Angst wieder verebbte. Neunfinger sprach natürlich von sich selbst, wie es jeder tut, wenn er die Möglichkeit dazu bekommt. Schuldbewusstsein lag in seinen Augen, keine Anschuldigung.

Jeder Mann hat seine eigenen Fehler, die ihm keine Ruhe lassen.

»Vielleicht.« West räusperte sich; seine Kehle war trocken. »Manchmal. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich haben wir alle mal Dinge getan, wie wir bedauern.«

»Joh«, sagte Neunfinger. »Wahrscheinlich.«

Sie saßen schweigend nebeneinander und sahen zu, wie das Licht über den Himmel leckte.

 

»Lass uns gehen, Häuptling!«, zischte Dow. »Lass uns verdammt noch mal gehen!«

»Ich sage, wann es so weit ist!«, gab der Hundsmann kurz angebunden zurück, während er die taubesetzten Zweige zur Seite bog und zu den Mauern hinübersah, die vielleicht hundert Schritt entfernt am Ende einer feuchten Wiese aufragten. »Jetzt ist viel zu viel Licht. Wir warten noch, bis der verdammte Mond ein bisschen tiefer steht, und dann laufen wir rüber.«

»Es wird aber nicht mehr dunkler werden! Bethod kann kaum noch allzu viele Leute bei sich haben, nachdem wir seine Leute in den Bergen erledigt haben, und die Mauer da drüben ist ziemlich lang. Die werden sich dünn wie Spinnweben darauf verteilt haben.«

»Es reicht aber einer, der ...«

In diesem Augenblick rannte Dow los, stürmte über das Feld und war auf dem niedrigen Gras so gut zu sehen wie ein Kackhaufen auf einer Schneefläche.

»Scheiße!«, zischte Hundsmann hilflos.

»Hm«, brummte Grimm.

Sie konnten nichts tun, nur zusehen und warten, dass Dow mit Pfeilen gespickt wurde. Darauf, dass die ersten Schreie erschollen, dass die Fackeln angezündet, der Alarm ausgelöst und ihr ganzer schöner Plan in die Kackgrube gekippt wurde. Dann eilte Dow das letzte Stück des Abhangs hinauf und verschwand in den Schatten unterhalb der Mauer.

»Er hat’s geschafft«, sagte Hundsmann.

»Hm«, brummte Grimm.

Eigentlich war es ja eine gute Sache, aber dem Hundsmann war trotzdem nicht froh ums Herz. Er musste jetzt dieselbe Strecke überwinden, und er hatte einfach nie so viel Glück wie Dow. Er sah Grimm an, und der zuckte die Achseln. Gemeinsam schossen sie unter den Bäumen hervor, und ihre Füße trommelten auf die weiche Wiese. Grimm hatte längere Beine und bekam allmählich einen Vorsprung. Der Boden war wesentlich weicher, als Hundsmann erwartet ...

»Gah!« Sein Knöchel gab nach, und er flog nach vorn, klatschte auf den sumpfigen Untergrund und rutschte auf dem Gesicht ein Stück voran. Hastig richtete er sich wieder auf, kalt und keuchend, und dann rannte er den Rest des Wegs mit nassem Hemd, das an seiner Haut klebte. Er stolperte den Hang hinauf bis zum Fuß der Mauer und beugte sich nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt, atmete schwer und spuckte Gras aus.

»Sah aus, als hättest du da unten eine Bauchlandung gemacht, Häuptling.« Dows Grinsen war ein weißer Halbmond in den Schatten.

»Du verrückter Drecksack!«, zischte Hundsmann, und Jähzorn flackerte heiß in seiner kalten Brust auf. »Du hättest uns allen den Tod bringen können!«

»Na, dafür ist ja immer noch Zeit.«

»Pssst.« Grimm bedeutete ihnen mit einer Handbewegung zu schweigen. Hundsmann drückte sich eng an die Mauer, und die Besorgnis trieb ihm den Zorn schnellstens aus. Er hörte von oben Männer, die sich bewegten, und sah den Schimmer einer Lampe, der sich langsam über die Mauern ausbreitete. Er wartete, ganz ruhig, und nichts war zu hören außer Dows gedämpftem Atem neben ihm und dem Schlagen seines eigenen Herzens, bis die Männer über ihnen weiterzogen und alles wieder still war.

»Sag mir nicht, dieser kleine Lauf hätte dein Blut jetzt nicht in Wallung gebracht, Häuptling«, flüsterte Dow.

»Wir können von Glück sagen, dass es noch nicht aus uns herausströmt.«

»Und jetzt?«

Hundsmann biss die Zähne zusammen, während er versuchte, sich den Dreck vom Gesicht zu wischen. »Jetzt warten wir.«

 

Logen stand auf, rieb den Tau von seinen Hosen und sog in einem langen Atemzug die kühle Luft ein. Es war nicht mehr zu leugnen, dass die Sonne nun wahrlich und unübersehbar am Himmel stand. Vielleicht versteckte sie sich noch im Osten hinter Skarlings Berg, aber die hohen schwarzen Türme waren an den Rändern schon in Gold getaucht, die dünnen Wolken glühten an der Unterseite rosafarben, und der kalte Himmel nahm ein blasses Blau an.

»Besser, man geht die Sache gleich an, statt lange mit der Angst davor zu leben.« Er erinnerte sich daran, wie sein Vater ihm das gesagt hatte. In der verräucherten Halle, während der Feuerschein auf sein zerfurchtes Gesicht fiel, mit erhobenem Zeigefinger. Logen erinnerte sich auch, wie er es seinem eigenen Sohn gesagt hatte, lächelnd, unten am Fluss, als er dem Kleinen beigebracht hatte, wie man Fische kitzelt. Vater und Sohn, beide inzwischen tot, Schlamm und Asche. Niemand würde nach Logen noch diese Weisheit lernen, wenn er nicht mehr da war. Niemand würde ihn besonders vermissen, vermutete er. Aber was machte das schon? Es spielt doch überhaupt keine Rolle, was Menschen von einem denken, nachdem man wieder zu Schlamm geworden ist.

Er bog die Finger um den Griff von Kanedias’ Schwert, fühlte, wie die eingeritzten Rillen seine Handfläche kitzelten. Langsam zog er es aus der Scheide und senkte den Arm, ließ die Schultern kreisen und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. Noch ein kalter Atemzug, ein und aus, dann setzte er einen Fuß vor den anderen und ging durch die Menge, die sich in einem weiten Bogen um das Tor versammelt hatte. Eine Mischung aus Hundsmanns Carls und Crummocks Bergmenschen und ein paar Unionssoldaten, die vom Dienst beurlaubt worden waren, um dabei zuzusehen, wie sich die verrückten Nordländer gegenseitig umbrachten. Manche riefen ihm etwas zu, als er an ihnen vorbeikam, und alle wussten sie, dass bei dieser Sache viele Leben mehr auf dem Spiel standen als nur Logens eigenes.

»Es ist Neunfinger!«

»Der Blutige Neuner.«

»Mach der Sache ein Ende!«

»Bring den Drecksack um!«

Sie hatten ihre Schilde, alle Männer, die Logen ausgewählt hatte, damit sie für ihn den Schildwall bildeten, und sie standen in einem ernsten Knäuel in der Nähe der Mauer. West war darunter, und Pike, und Rotkapp, sogar Espe. Logen fragte sich, ob er mit ihm einen Fehler gemacht hatte, aber er hatte dem Mann in den Bergen das Leben gerettet, und das sollte zumindest ein wenig zählen. Ein wenig war natürlich ein dünner Faden, um das eigene Leben daran zu knüpfen, aber immerhin etwas. Sein Leben hatte an einem dünnen Faden gehangen, solange er sich erinnern konnte.

Crummock-i-Phail fiel neben ihm in denselben Schritt. Sein großer Schild sah an dem dicken Arm klein aus; die andere Hand ruhte locker auf seinem Bauch. »Freust du dich auf den Kampf, Blutiger Neuner? Ich tue es, das kann ich dir sagen!«

Hände klopften auf seine Schultern, Stimmen äußerten ermunternde Worte, aber Logen sagte nichts. Er sah weder nach links noch nach rechts, als er sich bis in den abgemähten Kreis vorarbeitete. Er fühlte, wie die Männer hinter ihm die Reihen schlossen, hörte, wie sie ihre Schilde in einem Halbkreis rund um die Fläche mit dem abgeschnittenen Gras aufstellten und dabei den Toren von Carleon entgegenblickten. Dahinter drängte sich die Menge der Übrigen zusammen. Die Leute flüsterten miteinander. Reckten die Hälse, um etwas zu sehen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, das war Tatsache. Aber andererseits hatte es dieses Zurück nie gegeben. Sein ganzes Leben lang war er diesem Tag entgegengegangen. Logen blieb in der Mitte des Kreises stehen und wandte sein Gesicht zu den Zinnen der Festung empor.

»Es ist Sonnenaufgang!«, brüllte er. »Lasst uns anfangen!«

Schweigen folgte, als die Worte verhallten, und der Wind wirbelte einige lose Blätter über das Gras. Das Schweigen hielt so lange, dass Logen schon hoffte, niemand würde antworten. Dass sie alle im Schutze der Nacht irgendwohin abgehauen wären und es gar keinen Zweikampf geben würde.

Dann erschienen Gesichter oben an der Mauer. Eins hier, eins dort, dann viele, die schließlich in beiden Richtungen, soweit Logen sehen konnte, die Brustwehr säumten. Hunderte von Leuten – Krieger, Frauen, sogar Kinder, die man auf die Schultern genommen hatte. Jeder in der Stadt, so wie es aussah. Metall kreischte, Holz knarrte, und die hohen Tore schwangen ganz langsam auf; der Schein der aufgehenden Sonne drang durch den Spalt und brach schließlich breit durch das offene Tor. Männer marschierten in zwei Reihen hinaus. Carls, mit harten Gesichtern und verfilztem Haar, in schweren, rasselnden Kettenpanzern, bemalte Schilde am Arm.

Logen kannte einige von ihnen. Ein paar gehörten zu Bethods engstem Kreis und waren von Anfang an bei ihm gewesen. Harte Männer, die mehr als einmal den Schildwall für Logen gestellt hatten, damals, vor langer Zeit. Sie bildeten ihre eigene Hälfte des Rings und schlossen damit den Kreis. Eine Mauer aus Schilden – Tiergesichter, Bäume und Türme, fließendes Wasser, gekreuzte Äxte, alle vernarbt und abgestoßen von Hunderten früherer Kämpfe. Alle waren nach innen gerichtet, zu Logen. Ein Käfig aus Menschen und Holz, und hinaus kam man nur, indem man tötete. Oder selbst tot war, natürlich.

Ein schwarzer Schatten erstand im hellen Tor. Wie ein Mensch, nur größer; er schien bis ganz an den Torsturz zu reichen. Logen hörte Schritte. Donnernde Schritte, wie fallende Ambosse. Eine seltsame Angst bemächtigte sich seiner. Eine kopflose Panik, als sei er wieder unter Schnee gefangen aufgewacht. Er zwang sich, nicht über seine Schulter zu Crummock zu blicken, sondern nach vorn zu sehen, während Bethods Kämpe in die Morgendämmerung hinaustrat.

»Bei den verdammten Toten«, hauchte Logen.

Zuerst dachte er, dass ihm das Licht einen Streich spielte und sein Gegner nur deshalb so groß aussah. Tul Duru Donnerkopf war schon ein gewaltiger Drecksack gewesen, keine Frage: so groß, dass viele ihn einen Riesen genannt hatten. Aber er hatte immer noch wie ein Mensch ausgesehen. Fenris der Gefürchtete ragte so hoch auf, dass er wie etwas ganz anderes wirkte. Wie von einer anderen Rasse. Ein wahrer Riese, der aus den alten Geschichten getreten und zu Fleisch geworden war. Zu ziemlich viel Fleisch.

Sein Gesicht zuckte, als er voranschritt, und der große kahle Kopf ruckte von einer Seite zur anderen. Sein grinsender Mund verzog sich verächtlich, und mal kniff er die Augen zusammen, mal schienen sie aus ihren Höhlen zu treten. Eine Hälfte seines Körpers war blau. Das konnte man nicht anders sagen. Eine saubere Linie verlief quer über sein Gesicht und teilte die blaue von der blassen Haut. Sein riesiger rechter Arm war weiß. Sein linker war blau, von der Schulter bis zu den Spitzen seiner enormen Finger. In dieser Hand trug er einen Sack, der bei jedem Schritt vor und zurück schwang und so ausbeulte, als ob er mit Hämmern gefüllt sei.

Ein paar von Bethods Schildträgern wichen ihm mit gequälten Gesichtern aus. Sie wirkten wie Kinder neben ihm und blickten drein, als ob der Tod höchstselbst ihnen in den Nacken hauchte. Der Gefürchtete trat in den Kreis, und nun erkannte Logen, dass das Blau aus lauter Schriftzeichen bestand, ganz wie der Geist es ihm gesagt hatte. Verdrehte Symbole, die über seine gesamte linke Seite gekritzelt worden waren – über die Hand, den Arm, das Gesicht, sogar die Lippen. Die Worte Glustrods, in der Alten Zeit geschrieben.

Der Gefürchtete hielt mit etwas Abstand inne, und ein elender Schrecken schien von ihm auszugehen und über die schweigende Menge zu schwappen. Es war, als ob ein großes Gewicht sich auf Logens Brust senkte und ihm den Mut herauspresste. Aber die Aufgabe war im Grunde genommen ganz einfach. Wenn die bemalte Seite des Gefürchteten nicht verletzt werden konnte, dann würde Logen in die andere hineinschlagen müssen, und zwar tief. Er hatte schon einige harte Männer in diesem Kreis besiegt. Zehn der härtesten Ärsche im ganzen Norden. Das war nur einer mehr. Jedenfalls versuchte er sich das einzureden.

»Wo ist Bethod?« Eigentlich hatte er die Worte laut herausbrüllen wollen, aber es klang mehr wie ein zahmes, trockenes Quäken.

»Ich kann dir bestens von hier oben beim Sterben zusehen!« Der König der Nordmänner stand auf den Zinnen oberhalb des offenen Tores, gut gekleidet und guter Dinge, und Schneebleich und einige Wächter waren an seiner Seite. Falls er in der letzten Nacht Mühe gehabt hatte, Schlaf zu finden, so merkte Logen nichts davon. Die morgendliche Brise zerstrubbelte sein Haar und den dicken Pelz, den er um die Schultern trug, und der Diamant auf seiner Stirn funkelte hell. »Schön, dass du gekommen bist! Ich hatte schon befürchtet, du würdest vielleicht abhauen!« Bethod stieß einen lässigen Seufzer aus, und sein Atem dampfte in der prickelnden Luft. »Es ist Morgen, wie du gesagt hast. Lasst uns anfangen.«

Logen sah in die hervorquellenden, zuckenden, verrückten Augen des Gefürchteten und schluckte.

»Wir haben uns hier versammelt, um Zeugen eines Zweikampfes zu sein!«, brüllte Crummock. »Ein Zweikampf, der diesem Krieg ein Ende machen und das Blut begleichen soll, das da steht zwischen Bethod, der sich seit einiger Zeit König der Nordmänner nennt, und Wildzorn, der für die Union spricht. Wenn Bethod gewinnt, wird die Belagerung aufgehoben, und die Union zieht aus dem Norden ab. Wenn Wildzorn gewinnt, dann werden die Tore Carleons geöffnet und Bethod seiner Gnade überantwortet. Spreche ich wahr?«

»Das tust du«, sagte West, und seine Stimme klang klein über den großen Platz.

»Ja.« Oben auf der Mauer machte Bethod eine lässige Handbewegung. »Komm zur Sache, dicker Mann.«

»Dann stellt euch vor, ihr Kämpen«, brüllte Crummock, »und nennt eure großen Taten!«

Logen trat einen Schritt vor. Es war ein schwerer Schritt, und er hatte das Gefühl, als ob ihm ein starker Wind ins Gesicht bliese, aber er tat ihn trotzdem, warf den Kopf zurück und sah dem Gefürchteten in sein zuckendes Gesicht. »Ich bin der Blutige Neuner, und die Männer, die ich tötete, sind ohne Zahl.« Die Worte erklangen leise und tot. Es lag kein Stolz in seiner leeren Stimme, aber auch keine Furcht. Nur kalte Tatsache. Kalt wie der Winter. »Zehn Herausforderungen habe ich ausgesprochen, und ich habe sie alle gewonnen. In diesem Kreis schlug ich Schama Ohnherz, Rudd Dreibaum, Harding Grimm, Tul Duru Donnerkopf, den Schwarzen Dow und viele mehr. Wenn ich die Namhaften Männer auflisten sollte, die ich wieder zu Schlamm werden ließ, dann wären wir bei Sonnenaufgang morgen früh noch hier. Es gibt keinen Mann im Norden, der meine Taten nicht kennt.«

Im Gesicht des Riesen tat sich nichts. Nicht mehr als sonst zumindest. »Mein Name ist Fenris der Gefürchtete. Meine großen Taten liegen alle in der Vergangenheit.« Er hielt seine bemalte Hand hoch und presste die großen Finger zusammen, so dass die Sehnen auf seinem riesigen blauen Arm wie verknotete Baumwurzeln hervortraten. »Mit diesen Symbolen zeichnete mich der große Glustrod als seinen Auserwählten. Mit dieser Hand zerstörte ich die Statuen von Aulcus. Heute töte ich kleine Menschen in kleinen Kriegen.« Logen konnte ein ganz kurzes Zucken der mächtigen Schultern wahrnehmen. »So ist der Lauf der Welt.«

Crummock sah Logen an und hob die Brauen. »Nun denn. Welche Waffen habt ihr für den Kampf mitgebracht?«

Logen hob das schwere Schwert, das Kanedias für seinen Kampf gegen die Magi geschmiedet hatte, und hielt es ins Licht. Eine Schrittlänge mattes Metall, dessen Schneide ein wenig im blassen Sonnenaufgang schimmerte. »Diese Klinge.« Er bohrte das Schwert zwischen ihnen in den Boden und ließ es dort stecken.

Der Gefürchtete warf seinen Sack klappernd hin und ließ ihn weit aufklaffen. Es lagen schwarze, mit Dornen und Nieten beschlagene, vernarbte und zerbeulte Platten darin. »Diese Rüstung.« Logen betrachtete das schwere schwarze Eisen und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Wenn der Gefürchtete den Schilddreh gewann, dann konnte er sich das Schwert nehmen, und Logen blieb eine nutzlose Rüstung übrig, die für ihn viel zu groß war. Was würde er dann tun? Sich darunter verstecken? Er konnte nur hoffen, dass ihm das Glück noch ein kleines bisschen länger treu blieb.

»Nun denn, meine Schönen.« Crummock stellte seinen Schild auf dem Rand auf und hielt ihn an der Seite fest. »Zeichnung oder blank, Neunfinger?«

»Zeichnung.« Crummock gab dem Schild einen Stoß, so dass er sich drehte. Immer wieder wirbelte er herum – Zeichnung, blank, Zeichnung, blank. Hoffnung und Verzweiflung wechselten sich ebenso ab. Das runde Holz wurde langsamer und kam schließlich ins Trudeln. Dann fiel es um, die blanke Seite zeigte nach oben, die Riemen fielen klatschend gegen den Schild.

So viel zum kleinen bisschen Glück.

Crummock verzog gequält das Gesicht. Er sah den Riesen an. »Du hast die Wahl, mein Großer.«

Der Gefürchtete nahm die Klinge des Schöpfers und zog sie aus dem Boden. Sie wirkte wie ein Spielzeug in seiner riesigen Hand. Seine hervorquellenden Augen rollten zu Logen hinüber, und sein großer Mund verzog sich zu einem verqueren Lächeln. Dann warf er Logen das Schwert vor die Füße, und es fiel in den Dreck.

»Nimm dein Messer, kleiner Mann.«

Dünn trug die Brise den Lärm erhobener Stimmen. »Aha«, zischte Dow viel zu laut für Hundsmanns Nerven, »sie fangen an!«

»Das hör ich!«, raunzte ihn Hundsmann an, der das Seil in lockeren Schlingen aufrollte, die sich leicht werfen lassen würden.

»Du weißt, was du damit tust, ja? Wäre schön, wenn du es nicht auf mich drauffallen lassen würdest.«

»Tatsächlich?« Hundsmann ließ den Wurfanker vor und zurück schwingen, um ein Gefühl für das Gewicht zu bekommen. »Und ich dachte gerade, wenn das Ding nicht an den Zinnen hängen bleibt, sondern deinen Klotzkopf erwischt, dann wäre es zumindest das Zweitbeste, was passieren kann.« Er wirbelte den Anker nun in einem Kreis um den Kopf, vergrößerte den Radius, ließ etwas mehr Seil durch die Finger gleiten, dann gab er noch einmal Schwung und ließ das Metallstück davonsausen. Der Anker rauschte durch die Luft, glatt und sauber, das Seil entrollte sich hinter ihm, und dann verschwand er hinter den Zinnen. Hundsmann zuckte zusammen, als er hörte, wie er auf dem Wehrgang aufschlug, aber es kam niemand. Dann zog er am Seil. Zunächst gab es nach, einen Schritt oder zwei, und dann saß es fest. Fühlte sich so solide an wie ein Fels.

»Beim ersten Mal«, sagte Grimm.

Hundsmann nickte, auch wenn er es selbst kaum glauben konnte. »Wie stehen unsere Aussichten? Wer ist der Erste?«

Dow grinste ihn an. »Der, der das Seil in der Hand hält, würde ich sagen.«

Während der Hundsmann den Aufstieg begann, merkte er, dass er über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, auf die ein Mann beim Klettern getötet werden konnte. Der Wurfanker konnte sich lösen, so dass er herabstürzte. Das Seil konnte durchscheuern und reißen, mit gleichem Ausgang. Jemand hatte den Anker gesehen und wartete nur darauf, dass er ganz oben ankam, bevor das Seil gekappt wurde. Oder sie lauerten auf den Zinnen auf ihn, um ihm dort die Kehle durchzuschneiden. Oder sie riefen gerade ein Dutzend großer Kerle zusammen, um den Idioten gefangen zu nehmen, der es wagte, ganz allein in die Stadt zu klettern.

Seine Stiefel schrammten über den rauen Stein, das Hanfseil stach ihm in die Handflächen, seine Armmuskeln brannten von der Anstrengung, und die ganze Zeit über gab er sich alle Mühe, so leise wie möglich zu atmen. Die Zinnen kamen näher, dann noch näher, und dann hatte er sie erreicht. Er krallte sich mit den Fingern an den Steinen fest und spähte über die Brustwehr. Sie war leer, in beiden Richtungen. Er ließ sich über die Zinnen rutschen und zog ein Messer, für alle Fälle. Von wegen, man kann nie zu viele Messer haben, und so weiter. Dann überprüfte er, ob der Wurfanker auch wirklich fest saß, und beugte sich über die Zinnen; er sah Dow, der zu ihm aufblickte. Grimm hatte bereits das Seil in den Händen und einen Fuß gegen die Mauer gestützt, bereit, ihm zu folgen. Hundsmann bedeutete ihm, er solle losklettern, sah, wie er sich aufmachte, eine Hand über die andere, und Dow hielt das Seil unten fest, damit es nicht so sehr hin und her schaukelte. Schon war er die Mauer halb empor ...

»Was, zur Hölle ...«

Hundsmann warf den Kopf nach links. Nicht weit entfernt standen zwei Hörige, die gerade aus einer Tür im nächstgelegenen Turm auf die Brustwehr getreten waren. Sie starrten ihn an, und er starrte zurück, für eine Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam.

»Hier hängt ein Seil!«, brüllte er, fuchtelte mit seinem Messer herum und tat so, als versuche er, es vom Wurfanker loszuschneiden. »Da versucht so ein Arsch, hier hochzuklettern!«

»Bei den Toten!« Einer kam angerannt und sah zu Grimm hinab, der noch am Seil hing. »Da kommt tatsächlich einer hoch!«

Der andere zog sein Schwert. »Macht euch keine Sorgen wegen dem.« Er hob die Waffe grinsend und wollte das Seil durchtrennen. Dann hielt er inne. »Sag mal – wieso bist du so dreckverschmiert?«

Hundsmann stach ihn, so tief er konnte, in die Brust, wieder und wieder. »Iiiiiiiiiieeeeee!«, heulte der Hörige, das Gesicht verzerrt; er taumelte gegen die Brustwehr und ließ sein Schwert über die Zinnen fallen. Nun rückte sein Kumpel nach, der einen großen Streitkolben trug. Hundsmann duckte sich und ließ den ersten Schlag ins Leere laufen, aber der Hörige stemmte sich mit der Schulter gegen ihn, so dass Hundsmann auf den Rücken fiel und mit dem Kopf gegen die Mauer prallte.

Der Streitkolben fiel klappernd auf den Boden, und dann rangen sie miteinander; der Hörige trat und schlug, während Hundsmann versuchte, seine Hände um die Kehle des Gegners zu bekommen und ihn daran zu hindern, laut zu schreien. Sie rollten erst in die eine, dann in die andere Richtung, kamen mühsam wieder hoch und taumelten den Wehrgang entlang. Der Hörige rammte Hundsmann die Schulter unter die Achselhöhle, schob ihn gegen die Zinnen und versuchte, ihn über die Mauer zu werfen.

»Scheiße«, keuchte Hundsmann, als seine Füße die Fühlung mit dem Boden verloren. Er spürte, wie sein Hintern über die rauen Steine rutschte, aber er hielt weiter fest, die Hände an der Kehle des Hörigen, so dass es jenem nicht gelang, tief Luft zu holen. Hundsmann rutschte noch einen Zoll höher und spürte, wie ihm der Kopf zurückgedrückt wurde, bis schon fast etwas mehr von seinem Gewicht auf der falschen Seite der Brustwehr lag als auf der richtigen.

»Rüber mit dir, du Arschloch«, krächzte der Hörige, der das Kinn von Hundsmanns Händen wegzog und ihn ein Stück weiter schob, »rüber mit dir ...« Seine Augen weiteten sich. Er taumelte zurück, und ein Pfeil stak in seiner Seite. »Oh, ich kann nicht ...« Ein zweiter traf ihn in den Hals, und er machte einen hastigen Schritt und wäre von der Mauer gefallen, wenn Hundsmann nicht seinen Arm gepackt und ihn auf den Boden der Brustwehr gezogen hätte, wo er ihn festhielt, bis er seine letzten Atemzüge ausgehaucht hatte.

Als er erledigt war, kam Hundsmann auf die Beine und stand gebeugt und keuchend über dem Leichnam. Grimm eilte zu ihm und versicherte sich, dass so schnell niemand hier auftauchen würde. »Alles in Ordnung?«

»Nur einmal. Nur ein einziges Mal möchte ich gern Hilfe bekommen, bevor ich kurz davor stehe, abgemurkst zu werden.«

»Besser, als wenn du danach erst welche bekommst.« Hundsmann musste zugeben, dass da etwas dran war. Er beobachtete, wie Dow sich über die Zinnen schwang und auf den Wehrgang sprang. Der Hörige, den Hundsmann erstochen hatte, atmete noch, jedenfalls so gerade eben, und lag neben dem Wurfanker auf dem Boden. Dow schlug ihm mit der Axt ein Stück von seinem Schädel weg, als er an ihm vorbeiging, so gelassen, als wolle er Holz spalten.

Er schüttelte den Kopf. »Da lasse ich euch beide für zehn Atemzüge aus den Augen, und schon ist was passiert. Zwei Tote, was?« Dow beugte sich hinunter, schob zwei Finger in die Löcher, die Hundsmanns Messer gerissen hatte, zog sie wieder heraus und schmierte sich das Blut über eine Seite seines Gesichts. Er sah grinsend auf. »Was meint ihr, was können wir mit zwei Toten wohl anfangen?«

 

Der Gefürchtete schien den ganzen Kreis auszufüllen, eine Hälfte nackt und blau, die andere in schwarzes Eisen gekleidet, ein Ungeheuer, das sich aus alten Legenden befreit hatte. Es gab keinen Schutz vor seinen großen Fäusten, keinen Schutz vor der Angst, die er auslöste. Schilde klapperten und stießen aneinander, Männer brüllten und bellten, ein Meer verschwommener Gesichter, vor blinder Wut verzerrt.

Logen schlich am Rand der kurz geschnittenen Grasfläche entlang und versuchte, sich möglichst leichtfüßig zu bewegen. Schön, er war kleiner, aber er war schneller und schlauer. Jedenfalls hoffte er das. Er musste es sein, sonst wäre er in Kürze wieder Schlamm. Beweg dich, geh in Deckung, roll zur Seite, geh ihm aus dem Weg und nutze den richtigen Augenblick. Vor allem aber: Lass dich nicht erwischen. Sich nicht erwischen zu lassen, das war das Wichtigste.

Der Riese kam aus dem Nichts auf ihn zu, und seine große tätowierte Faust verschwamm wie ein blauer Blitz. Logen sprang zur Seite, aber sie streifte dennoch seine Wange und erwischte ihn an der Schulter, so dass er ins Stolpern geriet. So viel zum Sich-nicht-erwischen-Lassen. Ein Schild, und zwar kein wohlmeinender, gab ihm einen Schubs gegen den Rücken und er stolperte mit dem Kopf voran in die andere Richtung. Er fiel nach vorn, verletzte sich beinahe mit dem eigenen Schwert, rollte sich verzweifelt weg und sah, wie der riesige Stiefel des Gefürchteten auf den Boden krachte und Erde dort aufspritzte, wo kurz zuvor noch sein Schädel gewesen war.

Logen rappelte sich gerade noch rechtzeitig auf, um die blaue Hand wieder auf sich zuschießen zu sehen. Er duckte sich darunter hindurch und stach nach dem tätowierten Fleisch des Gefürchteten, als er daran vorbeiwirbelte. Das Schwert des Schöpfers drang in den Schenkel des Riesen wie ein Spaten in Torf. Das riesige Bein knickte ein, und der Gefürchtete brach auf sein gerüstetes Knie. Es hätte ein entscheidender Schlag sein müssen, direkt durch die großen Adern, aber es trat kaum mehr Blut aus, als wenn sich der Hüne beim Rasieren geschnitten hätte.

Aber wenn eins nicht klappt, probiert man es eben auf andere Weise. Mit wildem Gebrüll schlug Logen nach dem kahlen Kopf seines Gegners. Die Klinge hieb klappernd gegen den rechten Arm des Riesen, den er gerade rechtzeitig erhoben hatte. Dann schrammte sie über den schwarzen Stahl und glitt ab, ohne etwas bewirkt zu haben, schlug auf die Erde und brachte Logens Hand zum Zittern.

»Uff!« Das Knie des Gefürchteten prallte in seinen Bauch, so dass er sich zusammenkrümmte und davonstolperte. Er musste unbedingt husten, hatte aber nicht genug Luft dazu. Der Riese hatte schon wieder einen sicheren Stand eingenommen, die bewehrte Hand schwang zurück, ein Klumpen schwarzen Eisens, so groß wie ein Männerkopf. Logen tauchte seitlich weg, rollte über das kurze Gras und fühlte den Luftzug, als der große Arm über ihn hinwegfuhr. Er krachte in die Schildmauer, wo Logen noch kurz zuvor gestanden hatte, zersplitterte einen der Schilde und warf den Mann, der ihn festgehalten hatte, aufheulend um.

Offenbar hatte der Geist recht gehabt. Der bemalten Seite war nichts anzuhaben. Logen duckte sich, wartete gerade so lange, bis der lähmende Schmerz in seinem Bauch so weit nachgelassen hatte, dass er wieder atmen konnte, und versuchte sich einen Trick zu überlegen. Aber ihm fiel nichts ein. Der Gefürchtete wandte Logen nun sein zuckendes Gesicht zu. Hinter ihm lag der Mann am Boden, den er soeben gefällt hatte, und wimmerte unter den Trümmern seines Schilds. Die Carls zu beiden Seiten zögerten ein wenig, bevor sie aufeinander zugingen, um die Lücke zu schließen.

Der Riese machte einen langsamen Schritt nach vorn, und Logen trat unter Schmerzen einen Schritt zurück.

»Noch am Leben«, flüsterte er leise vor sich hin. Aber wie lange noch, das war schwer zu sagen.

 

West hatte sich sein ganzes Leben lang noch nie so verängstigt, aufgeregt und gleichzeitig so lebendig gefühlt.

Nicht einmal, als er das Turnier gewonnen und der ganze große Marschallsplatz ihm applaudiert hatte. Nicht einmal, als er die Mauern von Ulrioch gestürmt und durch Staub und Durcheinander bis ins warme Sonnenlicht durchgebrochen war.

Seine Haut prickelte vor Hoffnung und Entsetzen. Seine Hände zuckten hilflos bei jeder Bewegung, die Neunfinger machte. Seine Lippen murmelten sinnlose Ratschläge und stumme Ermunterung. Neben ihm standen aneinandergedrängt und ebenfalls bebend Pike und Jalenhorm, die sich zudem heiser schrien. Hinter ihnen brüllte die Menge, die sich mit gereckten Hälsen und viel Gedränge bemühte, die Kämpfenden zu sehen. Die Leute von Carleon lehnten sich über die Mauern, schrien und stießen die Fäuste in die Luft. Der Schildwall gab den Bewegungen in seinem Innern nach und stand nie still, wich zurück oder trat vor, während die Kämpen vorpreschten oder zurückfielen.

Und beinahe die ganze Zeit über war es Neunfinger, der zurückfiel. Er war nach allgemeinem Maßstab ein großer, ungeschlachter Kerl, aber in dieser entsetzlichen Gesellschaft wirkte er winzig, schwach und zerbrechlich. Und noch schlimmer war, dass offenbar etwas sehr Seltsames hier vor sich ging. Etwas, das West nur als Zauberei bezeichnen konnte. Große Wunden, tödliche Wunden schlossen sich vor seinen Augen in der blauen Haut des Gefürchteten. Dieses Geschöpf war kein Mensch. Es konnte nur ein Teufel sein, und sobald es ihn selbst überschattete, spürte West eine Furcht, als stünde er direkt am Abgrund der Hölle.

Er zog eine verzweifelte Grimasse, als Neunfinger hilflos gegen die Schildmauer am anderen Ende des Kreises prallte. Der Gefürchtete hob seine bewehrte Faust zu einem Schlag, der mit Sicherheit ausreichte, um einen Schädel in Stücke zu schlagen. Aber er traf nichts als Luft. Neunfinger war im letzten Augenblick davongehuscht und ließ das Eisen um Haaresbreite an seinem Kinn vorbeidonnern. Sein schweres Schwert fuhr herab und prallte mit lautem Klingen von der gepanzerten Schulter des Gefürchteten ab. Der Riese stolperte zurück, und Neunfinger setzte nach, die bleichen Narben auf seinem starren Gesicht angespannt.

»Ja!«, zischte West, und die Männer um ihn herum bekundeten lauthals ihre Unterstützung.

Der nächste Hieb prallte kreischend gegen die gepanzerte Seite des Riesen, hinterließ einen langen, hellen Kratzer und wühlte einen Placken Erde auf. Der letzte Stoß hackte tief in die bemalten Rippen und ließ einen Nebel Blut hervorsprühen, während der Gefürchtete aus dem Gleichgewicht geriet. West klappte der Mund auf, als der große Schatten über ihn fiel. Der Gefürchtete prallte gegen seinen Schild wie ein gefällter Baum und zwang ihn bebend in die Knie, und er schwankte unter dem enormen Gewicht, während sein Magen vor Entsetzen und Ekel rebellierte.

Und dann sah er es. Eine der Schnallen der nietenbeschlagenen und dornenbewehrten Rüstung direkt über dem Knie des Riesen befand sich nur wenige Zoll von den Fingern von Wests freier Hand entfernt. Und in diesem Augenblick konnte er an nichts anderes denken als daran, dass Bethod entkommen würde, nach all den Toten, für die er verantwortlich war und die über ganz Angland verstreut lagen. Er biss die Zähne zusammen und packte das Ende des Lederriemens, der so dick war wie der Gürtel eines Mannes. Er zog daran, als der Gefürchtete seinen massigen Körper aufrichtete. Die Schnalle öffnete sich mit leisem Klingen, und die Rüstung hing nun lose an dem mächtigen Wadenbein, als er wieder mit dem Fuß aufstampfte, sein Arm vorpeitschte und Neunfinger stolpernd zur Seite schlug.

West erhob sich mühsam wieder aus dem Dreck und bedauerte seine spontane Tat sofort. Vorsichtig sah er sich im Kreis um und suchte nach Anzeichen, dass jemand ihn gesehen hatte, aber aller Augen waren starr auf die Kämpen gerichtet. Nun erschien es ihm wie ein kleiner, launenhafter Sabotageakt, der niemals etwas bewirken würde. Außer dass man ihn dafür umbrachte. Denn eines war ihm seit seiner Kindheit wohl bekannt. Wer dabei erwischt wurde, dass er bei einem Zweikampf unter Nordmännern betrog, dem wurden das Blutkreuz eingeritzt und die Eingeweide herausgerissen.

 

»Gah!« Logen duckte sich vor der bewehrten Faust, stolperte nach rechts, während die blaue vor seinem Gesicht entlangzuckte, tauchte dann nach links, als die Eisenhand wieder nach ihm fasste, rutschte aus und wäre beinahe gestürzt. Jeder dieser Schläge war hart genug gewesen, um ihm den Kopf herunterzureißen. Er sah, wie der bemalte Arm zurückzuckte, biss die Zähne zusammen und wich einem weiteren harten Schlag des Gefürchteten aus, während er weiterhin sein Schwert schwang.

Die Klinge fuhr glatt durch den blauen Arm direkt oberhalb des Ellenbogens und ließ das Glied mit einem Schwall Blut durch den Kreis fliegen. Logen pumpte Luft in seine brennenden Lungen und hob das Schwert des Schöpfers hoch über seinen Kopf, um sich auf den letzten Ansturm vorzubereiten. Die Augen des Gefürchteten folgten rollend der mattgrauen Klinge. Er zuckte mit dem Kopf zur Seite, und sie biss tief in seinen bemalten Schädel, ließ dunkle Blutstropfen durch die Luft regnen und spaltete seinen Kopf bis zur Braue.

Der bewehrte Ellenbogen des Riesen krachte in Logens Rippen, hob ihn fast von den Füßen und schleuderte ihn zuckend durch den Kreis. Er prallte von einem Schild ab und landete auf dem Bauch, und dort lag er und spuckte Dreck, während sich die Welt verschwommen um ihn drehte.

Mit gequältem Gesicht zwang er sich aufzustehen, blinzelte die Tränen aus den Augen und erstarrte. Der Gefürchtete trat vor, das Schwert noch immer tief im Schädel, und hob den abgetrennten Arm auf. Er drückte ihn gegen den blutlosen Stumpf, drehte ihn kurz nach rechts und dann nach links und ließ ihn los. Der große Unterarm war wieder ganz, die Symbole liefen durchgängig von der Schulter bis zum Handgelenk.

Die Männer im Kreis verfielen in Schweigen. Kurz bewegte der Riese seine blauen Finger, dann reckte er die Hand nach oben und schloss sie um den Griff des Schwertes. Er zog es in die eine und dann in die andere Richtung, und sein Schädel knirschte, als sich die Knochen bewegten. Er bekam die Klinge frei und schüttelte den Kopf, als wolle er eine leichte Benommenheit abschütteln. Schließlich warf er das Schwert durch den Kreis, und zum zweiten Mal an diesem Tag kam es klappernd vor Logen zum Liegen.

Logen starrte es schwer atmend an. Es wurde mit jedem Schlagabtausch schwerer. Die Wunden, die er beim Kampf in den Bergen davongetragen hatte, schmerzten; die Schläge, die er im Kreis abbekommen hatte, pochten. Die Luft war noch immer kalt, aber sein Hemd war schweißverklebt.

Der Gefürchtete ließ keinerlei Müdigkeit erkennen, und das trotz der halben Tonne Eisen, die an seinen Körper geschnallt war. Nicht einmal ein einziger Schweißtropfen zeigte sich auf seinem zuckenden Gesicht. Nicht einmal ein Kratzer war auf seinem tätowierten Schädel verblieben.

Logen fühlte, wie die Furcht sich wieder bleiern über ihn senkte. Jetzt wusste er, wie sich eine Maus fühlen musste, wenn die Katze sie in ihren Krallen hatte. Er hätte abhauen sollen. Er hätte abhauen und sich nicht einmal umsehen sollen, aber stattdessen hatte er sich für das hier entschieden. Wenn man eins sagen konnte über Neunfinger-Logen, dann das: Der Blödmann lernte es einfach nicht. Der Mund des Riesen verzog sich zu einem schiefen Lächeln.

»Mehr«, sagte er.

 

Hundsmann musste dringend pinkeln, als er auf das Tor von Carleons innerer Stadtmauer zuging. In solchen Augenblicken musste er immer pinkeln.

Er trug die Sachen von dem einen toten Hörigen, die so groß waren, dass er den Gürtel viel zu eng hatte ziehen müssen, und der Mantel hing über dem blutigen Loch im Hemd, das sein Messer gerissen hatte. Grimm trug die Kleidung des anderen, den Bogen über eine Schulter geschwungen, und der große Streitkolben schwang in seiner freien Hand. Dow schlurfte zwischen ihnen dahin, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, die Füße stumpfsinnig über die Pflastersteine schleifend, und sein blutiger Kopf hing matt herunter, als ob man ihm eine hübsche Abreibung verpasst hätte.

Es war eine ziemlich erbärmliche Tarnung, wenn der Hundsmann ehrlich war. Seit sie über die Mauer geklettert waren, hatte er fünfzig Dinge gezählt, anhand derer man sie hätte entlarven können. Aber für etwas Schlaueres war keine Zeit gewesen. Die richtigen Worte und immer hübsch lächeln, und niemand würde die verräterischen Anzeichen bemerken. Jedenfalls hoffte er das.

Auf jeder Seite des breiten Tores stand ein Wachposten, zwei Carls mit langen Kettenhemden und Helmen, die beide einen Speer in Händen hielten.

»Was ist mit dem?«, fragte einer und runzelte die Stirn, als sie näher kamen.

»Den Drecksack haben wir erwischt, als er sich reinschleichen wollte.« Hundsmann gab Dow einen Stoß gegen den Kopf, um die Sache ein bisschen echter wirken zu lassen. »Wir bringen ihn jetzt nach unten und schließen ihn ein, bis sie da draußen fertig sind.« Damit wollte er weitergehen.

Einer der Wächter hielt ihn auf, indem er ihm die Hand auf die Brust legte, und Hundsmann schluckte. Der Carl nickte zum Stadttor hinüber. »Wie läuft es denn da draußen?«

»Ganz gut, würde ich sagen«, meinte Hundsmann achselzuckend. »Jedenfalls geht’s voran. Bethod wird gewinnen, was? Er gewinnt doch immer, oder nicht?«

»Ich weiß nicht.« Der Carl schüttelte den Kopf. »Dieser Gefürchtete lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Er und die verdammte Hexe. Ich kann nicht behaupten, dass ich viele Tränen vergießen würde, wenn der Blutige Neuner sie alle beide umbrächte.«

Der andere kicherte, schob sich den Helm auf den Hinterkopf und zog ein Tuch hervor, um sich den Schweiß darunter abzuwischen. »Ihr habt da ein ...«

Dow sprang vor, ein paar lose Stricke baumelten von seinen Handgelenken herab, und er stach sein Messer bis zum Heft in die Stirn des Carls. Kippte ihn um wie einen Stuhl, dessen Beine weggetreten werden. Fast im selben Augenblick schlug Grimms geliehener Streitkolben oben auf den Helm des anderen und hinterließ dort eine große Delle, während der Rand des Helms beinahe bis auf die Nasenwurzel hinuntergetrieben wurde. Der Wachmann sabberte ein bisschen und stolperte wie ein Betrunkener zurück. Dann traten Blutblasen aus seinen Ohren, und er fiel auf den Rücken.

Hundsmann fuhr herum, versuchte den gestohlenen Mantel so auszubreiten, dass niemand Dow und Grimm dabei beobachten würde, wie sie die beiden Leichen wegschafften, aber die ganze Stadt schien wie ausgestorben. Zweifelsohne sah sich jeder den Kampf an. Er fragte sich einen Augenblick, was dort in dem Kreis wohl vor sich gehen mochte, und das reichte, um ein mulmiges Gefühl im Magen zu verspüren.

»Kommt schon.« Er wandte sich um und sah Dow über das ganze blutverschmierte Gesicht grinsen. Er hatte die zwei Leichen hinter den großen Torflügeln eingeklemmt, und einer von ihnen starrte schieläugig auf die Stichwunde in seinem Kopf.

»Reicht das?«, fragte Hundsmann.

»Was jetzt, willst du noch ein paar Worte für die Toten sprechen oder wie?«

»Du weißt schon, was ich meine. Was, wenn jemand ...«

»Jetzt ist keine Zeit für schlaue Schachzüge.« Dow packte ihn am Arm und zog ihn durchs Tor. »Lass uns die Hexe umbringen.«

 

Die Sohle des Metallstiefels von Fenris dem Gefürchteten prallte dumpf gegen Logens Brust, presste ihm die Luft aus den Lungen und rammte ihn in den Boden. Das Schwert fiel klappernd aus seiner zuckenden Hand, und Erbrochenes brannte hinten in seiner Kehle. Bevor er wusste, wie ihm geschah, fiel ein großer Schatten über ihn. Metall schloss sich zuschnappend um sein Handgelenk, so fest wie eine Schelle. Die Beine wurden ihm weggetreten, und dann lag er auf dem Bauch, den Arm hinter dem Rücken verdreht und mit einem Mundvoll Dreck zwischen den Zähnen. Etwas drückte gegen seine Wange. Erst kalt, dann schmerzhaft. Der große Fuß des Gefürchteten. Sein Handgelenk wurde verdreht, dann hochgezogen. Gleichzeitig wurde sein Kopf weiter auf den feuchten Boden gedrückt, und das kurze Gras kitzelte in seiner Nase.

Der reißende Schmerz in seiner Schulter war schrecklich. Nicht lange, und es wurde noch viel schlimmer. Er konnte sich dem festen Griff nicht entwinden, war hilflos, ausgestreckt wie ein Kaninchen, das abgezogen werden soll. Die Menge hielt den Atem an, und der einzige Laut war das zerschlagene Fleisch rund um Logens Mund, das schmatzende Geräusche machte, und die Luft, die in einem zerdrückten Nasenloch pfiff. Er hätte geschrien, wenn man ihm das Gesicht nicht so zusammengedrückt hätte, dass er kaum einen halben Atemzug tun konnte. Wenn man eines von Neunfinger-Logen sagen konnte, dann das – er war fertig. Wieder zu Schlamm geworden, und niemand konnte behaupten, dass er das nicht auch verdient hatte. Ein passendes Ende für den Blutigen Neuner, dass er in diesem Kreis in Stücke gerissen wurde.

Aber die großen Arme zogen nicht mehr weiter. Aus dem Winkel seines zuckenden Auges sah Logen Bethod, der sich auf die Zinnen stützte. Der König der Nordmänner machte mit der Hand eine kreisende Bewegung, wie ein sich langsam drehendes Rad. Logen erinnerte sich, was er meinte.

Lass dir Zeit. Mach ganz langsam. Erteile ihnen allen eine Lektion, die sie niemals vergessen werden.

Der große Stiefel des Gefürchteten rutschte von seinem Kiefer, und Logen spürte, wie er in die Luft gerissen wurde, wobei seine Glieder hin und her schlackerten wie bei einer Marionette, der die Fäden gerissen sind. Die tätowierte Hand ging in die Höhe, stand schwarz vor der Sonne und schlug Logen ins Gesicht. Mit der offenen Hand, so wie ein Vater einem ungehorsamen Kind eine Ohrfeige verpassen mag. Es war, als ob ihn eine Bratpfanne im Gesicht getroffen hätte. Licht explodierte in Logens Kopf, sein Mund füllte sich mit Blut. Für einen kurzen Augenblick wurde sein Blick klar genug, dass er die bemalte Hand erneut zurückschnellen sah. Und schon kam sie mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit wieder nach vorn und versetzte ihm eine Schelle mit dem Handrücken, wie sie ein eifersüchtiger Ehemann seiner hilflosen Frau versetzen mag.

»Gurgh ...«, hörte er sich selbst sagen, und dann flog er. Blauer Himmel, blendende Sonne, gelbes Gras, ihn anstarrende Gesichter, alles bedeutungslos verschwommen. Er krachte in den Schildwall am Ende des Kreises und rutschte halb besinnungslos zu Boden. Weit entfernt schrien Männer, brüllten, zischten, aber er verstand die Worte nicht, und sie interessierten ihn auch nicht. Er dachte nur an das kalte Gefühl in seinem Bauch. Als ob seine Eingeweide mit Eis gefüllt wären, das sich langsam ausbreitete.

Er sah eine blasse Hand, die mit rosigem Blut verschmiert war, und weiße Sehnen buckelten unter der zerkratzten Haut. Seine Hand natürlich. Da war der Stummel. Aber als er versuchte, die Finger zu öffnen, verkrallten sie sich nur noch mehr in die braune Erde.

»Ja«, flüsterte er, und Blut sickerte aus seinem tauben Mund ins Gras. Das Eis breitete sich von seinem Bauch bis in seine Fingerspitzen aus, und nun war alles in ihm wie betäubt. Es war gut, dass es so war. Es war höchste Zeit.

»Ja«, sagte er. Aufstehen, auf ein Knie, und die blutigen Lippen ließen die Zähne frei, die blutige Hand glitt durch das Gras, suchte nach dem Griff des Schwertes und umschloss ihn fest.

»Ja!«, zischte er, und Logen lachte, und der Blutige Neuner lachte mit ihm.

 

West hatte nicht erwartet, dass Neunfinger wieder aufstehen würde, nie im Leben, aber das tat er, und als er es tat, lachte er. Zu Anfang klang es ein bisschen wie ein Schluchzen, ein schluckendes Kichern, schrill und seltsam, aber es wurde lauter, härter, kälter, als er sich erhob. Als lachte er über einen grausamen Witz, den sonst niemand gehört hatte. Einen tödlichen Witz. Sein Kopf kippte zur Seite wie bei einem Gehängten, und das blasse Gesicht rund um das fratzenhafte Lachen war schlaff.

Blut färbte seine Zähne rosa, sickerte aus den Schnittwunden auf seinem Gesicht, rann von den gesprungenen Lippen. Das Gelächter gurgelte nun lauter aus ihm heraus, lauter und lauter, riss an Wests Ohren, gezackt wie ein Sägeblatt. Es klang gequälter als jeder Schrei und wilder als jedes Kriegsgeheul. Schrecklich, Übelkeit erregend falsch. Wie das Kichern angesichts eines Gemetzels oder im Schlachthaus.

Neunfinger machte einen Satz wie ein Betrunkener, schwankte wild hin und her, und das Schwert hing von seiner blutigen Faust. Die toten Augen glitzerten, feucht und starr, die Pupillen erweitert, wie zwei schwarze Gruben. Sein verrücktes Lachen schnitt und mahlte und hackte auf den Schildwall ein. West fühlte, wie er selbst einen Schritt zurückwich. Sein Mund war trocken. Die gesamte Menge trat einen Schritt zurück. Die Männer wussten nicht mehr, wer ihnen mehr Angst einjagte: Fenris der Gefürchtete oder der Blutige Neuner.

 

Die Welt brannte.

Seine Haut stand in Flammen. Sein Atem war kochender Dampf. Das Schwert war ein Span geschmolzenen Metalls in seiner Faust.

Die Sonne stach brennend heiße Muster in seine schmerzenden Augen, zeichnete kalte graue Umrisse von Männern, Schilden und Mauern und von einem Riesen, der aus blauen Worten und schwarzem Eisen bestand. Angst strömte in ekligen Wellen aus ihm heraus, aber der Blutige Neuner lächelte nur noch breiter. Angst und Schmerz waren Öl für sein Feuer, und die Flammen wallten hoch empor, höher und immer höher.

Die Welt brannte, und in ihrer Mitte brannte nichts so heiß wie der Blutige Neuner. Er streckte die Hand aus, krümmte drei Finger und winkte den Gegner damit zu sich heran.

»Ich warte«, sagte er.

Die großen Fäuste schlugen nach dem Gesicht des Blutigen Neuners, und die großen Hände griffen nach seinen Körper. Aber alles, was der Riese dabei zu packen bekam, war Gelächter. Es wäre leichter gewesen, ein flackerndes Feuer zu packen. Oder schwelenden Rauch.

Der Kreis war ein Backofen. Die Halme des gelben Grases waren wie die Zungen einer gelben Flamme. Der Schweiß, die Spucke, das Blut tropfte darauf wie der Saft von bratendem Fleisch.

Der Blutige Neuner stieß ein Zischen aus, wie Wasser auf Kohlen. Aus dem Zischen wurde ein Knurren, und Eisen ergoss sich aus einer Schmelze. Das Knurren verwandelte sich in ein lautes Brüllen, der trockene Wald stand in Flammen, und er ließ dem Schwert freien Lauf.

Das graue Metall zog brennende Kreise, hackte blutlose Löcher in blaues Fleisch und prallte schallend auf schwarzes Eisen. Der Riese wich zurück, und die Klinge biss in das Gesicht eines der Männer, die den Schildwall bildeten. Sein Kopf platzte auf und sprühte Blut auf einen zweiten. Ein Loch klaffte in der Mauer um den Kreis. Die anderen traten zögernd zurück, die Schilde wankten, der Kreis schwoll an durch ihre Furcht. Sie fürchteten ihn mehr als sogar den Riesen, und sie waren gut beraten. Alles, was lebte, war sein Feind, und wenn der Blutige Neuner dieses Teufelsgeschöpf in Stücke gehauen hatte, dann würde er sich auf sie stürzen.

Der Kreis war ein Kessel. Auf den Mauern hoch über ihnen wogte die Menge wie ein zorniger Fluss. Der Boden bewegte sich unter den Füßen des Blutigen Neuners und schwoll an wie kochendes Öl.

Sein Brüllen wurde ein siedender Schrei, und das Schwert fuhr hinab und prallte von der nietenbeschlagenen Rüstung wie der Hammer auf den Amboss. Der Riese presste die blaue Hand auf die blasse Seite seines Kopfes, und sein Gesicht zuckte wie ein Nest von Maden. Die Klinge hatte den Schädel verfehlt, aber ihm die obere Hälfte seines Ohres gestohlen. Blut quoll aus der Wunde, lief in zwei dünnen Linien an seinem dicken Hals herunter und hörte nicht auf zu fließen.

Die großen Augen quollen aus den Höhlen, und der Riese machte mit donnerndem Gebrüll einen Satz nach vorn. Der Blutige Neuner tauchte unter seiner geschwungenen Faust hindurch und beeilte sich, hinter seinen Rücken zu gelangen. Dort sah er, dass sich das schwarze Eisen von seinem Bein abspreizte und die helle Schnalle herunterhing. Das Schwert schoss schlangengleich hervor und glitt in die Lücke, fraß sich tief in das riesige, bleiche Wadenbein darunter. Der Riese brüllte vor Schmerz, fuhr herum, machte auf dem verwundeten Bein einen Satz und brach in die Knie.

Der Kreis war ein Schmelztiegel. Die schreienden Gesichter der Männer an seinem Rand tanzten wie Rauch, schwammen wie geschmolzenes Metall, und ihre Schilde verschmolzen miteinander.

Jetzt war es an der Zeit. Die Morgensonne schien herab, schimmerte hell auf dem schweren Brustpanzer und zeigte ihm den richtigen Fleck. Jetzt war der wunderschöne Augenblick gekommen.

Die Welt brannte, und wie eine zuckende Flamme bäumte der Blutige Neuner sich auf, bog den Oberkörper zurück und hob das Schwert in die Höhe. Das Werk des Kanedias, des Meisterschöpfers; keine Klinge war je schärfer geschmiedet worden. Seine bittere Schneide riss einen langen, klaffenden Spalt in die schwarze Rüstung, durch das Eisen und hinein in das weiche Fleisch darunter, ließ Funken sprühen und Blut hervorsprudeln, und das Kreischen gemarterten Metalls mischte sich mit dem Schmerzgeheul, das sich aus dem verzerrten Mund des Gefürchteten entwand. Die Wunde, die es hinterließ, war tief.

Doch nicht tief genug.

Die großen Arme des Riesen glitten um den Rücken des Blutigen Neuners und umklammerten ihn in einer erstickenden Umarmung. Die scharfen Kanten des schwarzen Metalls bohrten sich an einem Dutzend Stellen in sein Fleisch. Immer näher zog der Riese ihn zu sich heran, noch näher, und ein zackiger Dorn stach in das Gesicht des Blutigen Neuners, durchdrang seine Wange und kratzte gegen seine Zähne, biss seitlich in seine Zunge und füllte seinen Mund mit salzigem Blut.

Der Griff des Gefürchteten war wie das Gewicht der Berge. Egal, wie heiß die Wut des Blutigen Neuners kochte, egal, wie er sich wand und trat und zornig schrie, er wurde so fest gehalten, wie die Erde die begrabenen Toten umfängt. Blut rann von seinem Gesicht und von seinem Rücken und von dem klaffenden Spalt in der Rüstung des Gefürchteten, sickerte in seine Kleidung und lief glühend heiß über seine Haut.

Die Welt brannte. Über dem Backofen, dem Kessel, dem Schmelztiegel stand Bethod und nickte, und der Riese presste die Arme noch fester zusammen.

 

Hundsmann folgte seiner Nase. Sie hatte ihn selten in die Irre geführt, seine Nase, und er hoffte bei der Hölle, dass sie ihn auch jetzt nicht im Stich lassen würde. Es war ein leicht ekliger Geruch – wie von süßen Kuchen, die zu lange im Ofen gelassen wurden. Er führte die anderen über einen verlassenen Flur und eine düstere Treppe hinab, dann krochen sie durch die feuchte Dunkelheit der knorrigen Eingeweide von Skarlings Berg. Jetzt konnte er auch etwas hören, nicht nur riechen, und es klang so übel wie es roch. Die Stimme einer Frau, die sanft und tief sang. Ein seltsames Lied, in keiner Sprache, die der Hundsmann hätte verstehen können.

»Das muss sie sein«, raunte Dow.

»Der Klang gefällt mir kein bisschen«, raunte der Hundsmann zurück. »Hört sich an wie Zauberei.«

»Was hast du erwartet? Sie ist ’ne verdammte Hexe, oder nicht? Ich schleich mich von hinten an.«

»Nein, warte auf ...« Aber Dow kroch bereits in die andere Richtung, und seine Stiefel tappten leise und still über den Boden.

»Scheiße.« Hundsmann folgte dem Geruch, kroch den Gang entlang, während Grimm ihm Rückendeckung gab, und der Gesang wurde lauter und lauter. Ein Lichtschein stahl sich durch einen Torbogen, und er ging vorsichtig darauf zu, drückte sich seitlich gegen die Wand und spähte um die Ecke.

Der Raum auf der anderen Seite sah so hexenartig aus, wie man ihn sich nur hätte vorstellen können. Er war dunkel und fensterlos, und drei andere schwarze Torbogen führten davon weg. Er wurde von einer einzigen rauchenden Kohlenpfanne erhellt, und die Glut warf ein schmutzig rotes Licht auf die Szenerie und verbreitete einen ekligen, süßlichen Gestank. Überall standen Krüge und Töpfe, lagen gebündelte Zweige und Gras, und von den rußigen Dachbalken hingen getrocknete Blumen, die seltsame Schatten in alle Ecken warfen, als ob Gehängte von der Decke herabbaumelten.

Über die Kohlenpfanne beugte sich eine Frau, die dem Hundsmann den Rücken zuwandte. Ihre langen weißen Arme hatte sie weit ausgebreitet, und sie schimmerten vor Schweiß. Gold funkelte rund um ihre dünnen Handgelenke, das schwarze Haar hing ihr struppig auf den Rücken. Der Hundsmann verstand vielleicht nicht die Worte, die sie sang, aber er erriet, dass es etwas Dunkles war, was sie hier plante.

Grimm hielt seinen Bogen hoch und hob eine Augenbraue. Hundsmann schüttelte den Kopf und zog geräuschlos sein Messer. Es war riskant, sie mit einem Pfeil aus dieser Entfernung töten zu wollen, und wer konnte schon wissen, was sie tun mochte, sobald sie getroffen war? Kalter Stahl im Hals überließ nichts dem Zufall.

Gemeinsam schlichen sie in den Raum. Die Luft war heiß, dick wie Sumpfwasser. Hundsmann tastete sich leise vor, und er versuchte nicht zu atmen, da er fürchtete, dass ihn der Gestank ersticken würde, wenn er das wagte. Er schwitzte, oder vielleicht tat das auch der Raum, auf alle Fälle war seine Haut in kürzester Zeit mit Schweißperlen bedeckt. Ganz behutsam setzte er die Füße, suchte sich einen Weg durch den ganzen Kram, der auf dem Boden verstreut lag – Schachteln, Bündel, Flaschen. Er legte die feuchte Handfläche fest um den Griff seines Messers, richtete die Augen auf den Punkt zwischen ihren Schulterblättern, wohin er zustechen wollte ...

Sein Fuß blieb an einem Krug hängen und ließ das Gefäß scheppernd über den Boden rollen. Der Kopf der Frau fuhr herum, und der Gesang, der von ihren Lippen kam, brach ab. Ein ausgemergeltes, weißes Gesicht, bleich wie das eines Ertrunkenen, schwarze Farbe um ihre schmalen Augen – blaue Augen, kalt wie die See.

 

Der Kreis schwieg. Die Männer am Rand waren still, ihre Gesichter so schlaff wie ihre Arme, von denen die Schilde herabhingen. Die Menge dahinter, die Leute, die sich oben auf der Mauer an die Zinnen drückten, sie alle verharrten bewegungslos und still wie die Toten.

Trotz Neunfingers wilder, irrsinniger Wut, all seinem Zappeln und Ringen, hielt ihn der Riese fest gepackt. Dicke Muskeln zuckten unter der blauen Haut, als die breiten Arme des Gefürchteten sich strafften und Neunfinger allmählich das Leben herauspressten. West hatte einen bitteren Geschmack im Mund vor hilfloser Enttäuschung. All das, was er getan und was er erlitten hatte, all diese verlorenen Leben waren umsonst gewesen. Bethod würde die Freiheit erhalten.

Dann stieß Neunfinger ein Knurren aus wie ein Tier. Der Gefürchtete hielt ihn fest, aber sein blauer Arm zitterte vor Anstrengung. Als sei er plötzlich geschwächt und könne nicht weiter drücken. Jede Sehne in Wests eigenem Körper war angespannt, während er zusah. Der dicke Riemen des Schilds drückte in seine Handfläche, und er biss die Zähne so fest zusammen, dass sie schmerzten. Die zwei Kämpen waren wie miteinander verschmolzen, sie stemmten sich gegeneinander mit jeder Faser, und dennoch rührten sie sich nicht, sondern standen wie erstarrt in der Mitte des Kreises.

 

Der Hundsmann sprang vor, das Messer stoßbereit erhoben.

»Halte ein.«

Sofort erstarrte er. Noch nie hatte er eine solche Stimme gehört. Ein Wort, und schon war kein Gedanke mehr in seinem Kopf. Er starrte die blasse Frau an, der Mund stand ihm offen, er atmete ganz flach und wünschte mit aller Macht, sie möge noch eins sagen.

»Du auch«, sagte sie und sah zu Grimm, dessen Gesicht ganz schlaff wurde. Dann grinste er, den Bogen noch halb gespannt.

Sie sah den Hundsmann von oben bis unten an und zog schließlich einen Schmollmund, als sei sie fürchterlich enttäuscht. »Benimmt man sich so als Gast?«

Hundsmann blinzelte. Was, zur Hölle, hatte er sich dabei gedacht, hier mit gezogener Klinge hereinzuplatzen? Er konnte gar nicht glauben, dass er so etwas getan hatte, und nun errötete er bis in die Haarwurzeln. »Oh ... es tut mir leid ... bei den Toten ...«

»Gugh!«, sagte Grimm und schleuderte den Bogen in eine Ecke des Raumes, als hätte er plötzlich erkannt, dass er einen Kackhaufen in der Hand hatte. Dann starrte er ganz verblüfft auf den Pfeil, den er noch festhielt.

»So ist es besser.« Sie lächelte, und der Hundsmann merkte, dass er sie angrinste wie ein Idiot. Vielleicht lief sogar ein bisschen Spucke aus seinem Mund, nur ein ganz kleines bisschen, aber das bereitete ihm keine Sorge. Solange sie redete, schien nichts anderes von großer Bedeutung zu sein. Sie winkte sie zu sich heran, und die langen weißen Finger streichelten die schwere Luft. »Es ist nicht nötig, so viel Abstand zu halten. Kommt näher.«

Er und Grimm stolperten wie eifrige Kinder auf sie zu, und Hundsmann fiel beinahe über die eigenen Füße, so eilig hatte er es, ihr zu Willen zu sein. Grimm stieß gegen einen Tisch und wäre um ein Haar vornübergefallen.

»Ich heiße Caurib.«

»Oh«, sagte Hundsmann. Das war der schönste Name überhaupt, daran bestand kein Zweifel. Faszinierend, dass ein einziges Wort so wunderschön sein konnte.

»Harding Grimm ist mein Name!«

»Und mich nennt man den Hundsmann, wegen meines guten Geruchssinns, und ... äh ...« Bei den Toten, es war verdammt schwer, geradeaus zu denken. Da war etwas Wichtiges gewesen, was er hätte tun sollen, aber er konnte sich ums Verrecken nicht erinnern, was es gewesen war.

»Hundsmann ... wunderbar.« Ihre Stimme klang so beruhigend wie ein warmes Bad, wie ein sanfter Kuss, wie Milch und Honig ... »Schlaf noch nicht ein!« Hundsmanns Kopf kippte zur Seite, Cauribs bemaltes Gesicht war ganz unscharf schwarz und weiß und verschwamm vor seinen Augen.

»Entschuldigung!«, gurgelte er, errötete wieder und versuchte, das Messer hinter seinem Rücken zu verstecken. »Tut mir leid wegen dem Messer ... keine Ahnung, was ...«

»Keine Sorge. Ich bin froh, dass du es mitgebracht hast. Ich denke, es wäre am besten, wenn du es nun hernehmen würdest, um deinen Freund damit zu erstechen.«

»Ihn?« Hundsmann blickte mit zusammengekniffenen Augen auf Grimm.

Grimm grinste und nickte ihm zu. »Klar, ganz sicher!«

»In Ordnung, ja, gute Idee.« Hundsmann hob das Messer, das eine ganze Tonne zu wiegen schien. »Äh ... soll ich ihn an eine bestimmte Stelle stechen?«

»Ins Herz wäre wohl am besten.«

»Da hast du recht. Genau. Ins Herz.« Grimm drehte ihm nun den Oberkörper zu, so dass er besser zustoßen konnte. Hundsmann blinzelte und wischte sich ein bisschen Schweiß von der Stirn. »Dann mal los.« Verdammt, ihm war so schwindlig. Er schielte auf Grimms Brust und war bestrebt, gleich beim ersten Mal alles richtig zu machen, um sich nicht schon wieder zu blamieren. »Dann mal los ...«

»Jetzt!«, zischte sie ihm zu. »Bring es einfach ...«

Die Klinge der Axt verursachte ein knirschendes Geräusch, als sie ihren Kopf genau in der Mitte spaltete, bis hinunter zum Kinn. Blut spritzte hervor und klatschte dem Hundsmann in sein glotzendes Gesicht, und der dünne Körper der Hexe sank auf den Steinen zusammen, als sei sie nichts als ein Bündel Lumpen.

Dow runzelte die Stirn, als er den Stiel seiner Axt hin und her bewegte, bis die Klinge sich mit einem leicht saugenden Geräusch aus Cauribs zerschlagenem Schädel löste. »Die Schlampe redet zu viel«, grunzte er.

 

Der Blutige Neuner spürte eine Veränderung. Wie das erste Einschießen des Grüns im Frühling. Wie den ersten warmen Hauch auf dem Wind, wenn der Sommer kommt. Es lag eine Botschaft in der Art, wie ihn der Gefürchtete festhielt. Seine Knochen stöhnten nicht länger und drohten nicht mehr zu zerbrechen. Die Stärke des Riesen hatte abgenommen, und seine eigene war gewachsen.

Der Blutige Neuner saugte die Luft ein, und seine Wut brannte so heiß wie immer. Langsam, ganz langsam zog er sein Gesicht weg von der Schulter des Riesen, und der Metalldorn glitt aus seinem Mund. Er drehte sich ein wenig, bis sein Hals frei war. Bis er in das zuckende Gesicht seines Gegners blicken konnte. Der Blutige Neuner lächelte, dann schoss er nach vorn, so schnell wie ein Funkenregen, und versenkte seine Zähne tief in der großen Unterlippe.

Der Riese stöhnte, bewegte die Arme, versuchte den Kopf des Blutigen Neuners wegzudrücken und die zubeißenden Zähne von seiner Lippe zu ziehen. Aber es wäre leichter gewesen, die Pest abzuschütteln. Seine Arme lösten sich, und der Blutige Neuner drehte die Hand, die immer noch das Schwert des Schöpfers gepackt hielt. Er wand sich hin und her, wie eine Schlange in ihrem Nest, und allmählich bekam er das Schwert frei.

Der blaue Arm des Riesen lockerte die Umklammerung, mit der er den Körper des Blutigen Neuners umschlossen hatte. Seine blaue Hand packte nun das Handgelenk des

Gegners, aber der war nicht mehr aufzuhalten. Wenn ein Setzling erst einmal eine Spalte in einem Berg gefunden hat, dann werden seine tiefen Wurzeln den Fels nach langen Jahren zerbersten lassen. Und genau so spannte der Blutige Neuner jeden Muskel an und ließ die langsame Zeit vergehen, während er dem Gefürchteten seinen Hass in den zuckenden Mund zischte. Die Klinge kroch weiter, langsam, langsam, und mit der Spitze senkte sie sich schließlich in bemaltes Fleisch, gleich unter den Rippen des Riesen.

Der Blutige Neuner fühlte das heiße Blut, das über den Griff und über seine geballte Faust rann, fühlte, wie es aus dem Mund des Gefürchteten in seinen floss, ihm den Hals herunterrann und von den Wunden am Rücken tropfte, ganz so, wie es sein sollte. Sanft, gemächlich glitt die Klinge in den tätowierten Körper des Gefürchteten, seitlich nach oben und immer weiter.

Die großen Hände krallten sich um den Arm des Blutigen Neuners, griffen an seinen Rücken, suchten verzweifelt nach einem Halt, der das schreckliche Vordringen der Klinge aufhalten könnte. Aber stetig schmolz die Stärke des Riesen wie Eis vor einem Glutofen. Es war leichter, die Weißflut aufzuhalten als den Blutigen Neuner. Die Bewegung seiner Hände war wie das Wachstum eines mächtigen Baums, eine Haaresbreite nach der anderen, aber kein Fleisch, kein Stein, kein Metall konnten es aufhalten.

Der bemalten Seite des Riesen konnte niemand etwas anhaben. Der große Glustrod hatte dafür gesorgt, vor langen Jahren in der Alten Zeit, als die Worte auf die Haut des Gefürchteten geschrieben worden waren. Aber Glustrod hatte nur eine Hälfte mit diesen Zeichen versehen. Langsam nun, ganz langsam und sanft übertrat die Spitze von Kanedias’ Schwert die Grenze dazwischen und drang in die ungezeichnete Hälfte vor, bohrte sich in seine Eingeweide und spießte ihn auf wie Fleisch, das über dem Feuer geröstet werden soll.

Der Riese gab einen lauten, hohen Schrei von sich, und die letzte Kraft floss aus seinen Händen. Der Blutige Neuner öffnete sein Maul und ließ ihn frei, nur den einen Arm hielt er weiterhin gegen den Rücken gedrückt, während der andere das Schwert in seinen Gegner trieb. Gelächter zischte durch seine zusammengebissenen Zähne und blubberte durch das zerfurchte Loch in seinem Gesicht. Er rammte die Klinge so weit hinein, wie es ging, bis sie zwischen den Platten der Rüstung direkt unter der Achsel des Riesen wieder herausglitt und rot in der Sonne schimmerte.

Fenris der Gefürchtete taumelte zurück, wobei er immer noch seinen langgezogenen Schrei ausstieß. Der Mund stand ihm offen, und ein roter Speichelfaden troff von seiner Lippe, deren blaue Hälfte schon wieder verheilt war, während die andere noch in Fetzen hing. Die Männer im Kreis sahen ihm erstarrt zu, glotzten ihn über die Ränder ihrer Schilde an. Seine Füße schlurften über die Erde, eine Hand fasste nach dem roten Griff von Kanedias’ Schwert, das bis zur Parierstange in seiner Seite steckte, und Blut rann vom Knauf und hinterließ rote Flecken auf dem Boden. Sein Schrei verwandelte sich in ein rasselndes Stöhnen, ein Fuß blieb hinter dem anderen hängen, und dann stürzte er wie ein gefällter Baum und krachte auf den Rücken, in der Mitte des Kreises, die langen Arme und Beine von sich gestreckt. Das Zucken in seinem Gesicht hatte endlich aufgehört, und nun folgte langes Schweigen.

»Bei den Toten.« Die Worte wurden sanft gesprochen, nachdenklich. Logen blinzelte in die Morgensonne und sah den dunklen Schatten eines Mannes, der von einem hohen Torhaus auf ihn herunterblickte. »Bei den Toten, ich hätte nie gedacht, dass du es schaffen würdest.« Die Welt schwankte von einer Seite zur anderen, als Logen erste Schritte machte, während ihm der Atem kalt durch die Wunde auf seiner Wange zischte und in seiner rauen Kehle kratzte. Die Männer, die den Kreis gebildet hatten, machten ihm nun Platz; ihre Stimmen schwiegen, die Schilde hingen in ihren Händen.

»Nie hätte ich gedacht, dass es dir gelingen würde, aber wenn es ums Töten gibt, dann gibt es keinen besseren Mann als dich! Und keinen schlimmeren! Das habe ich immer schon gesagt!«

Logen stolperte durch das geöffnete Tor, fand einen Aufgang und mühte sich die zuckenden Treppenstufen hinauf, ging immer weiter in die Runde, während seine Stiefel über den Stein scharrten und dunkle Schlieren hinterließen. Das Blut rann von den herabhängenden Fingern seiner linken Hand. Tropf, tropf, tropf. Jeder Muskel schmerzte. Bethods Stimme nagte an ihm.

»Aber ich bin es dennoch, der zuletzt lacht, was, Blutiger Neuner? Du bist nichts weiter als ein Blatt auf dem Wasser! Der kleinste Regen spült dich davon!«

Logen stolperte mit zusammengebissenen Zähnen weiter, die Rippen brannten, die Schulter scheuerte an der ausgebuchteten Wand. Weiter, höher, immer in die Runde, und sein rasselnder Atem hallte ihm nach.

»Du wirst nie etwas besitzen! Du wirst nie jemand sein! Du wirst niemals etwas anderes als Leichen hinterlassen!«

Hinauf aufs Dach, blinzelnd in der morgendlichen Helligkeit. Logen spuckte einen Mund voll Blut über die Schulter. Bethod stand an den Zinnen. Die Namhaften Männer wichen hastig zurück, als der alte Kämpe auf den König der Nordmänner zuging.

»Du bist aus Tod gemacht, Blutiger Neuner! Du bist aus ...«

Logens Faust krachte gegen Bethods Kiefer, und er stolperte einen Schritt zurück. Dann traf Logens andere Hand seine Wange, und er taumelte gegen die Zinnen; ein langer Faden blutiger Spucke rann aus seinem aufgeplatzten Mund. Logen packte ihn nun am Hinterkopf und rammte das Knie gegen Bethods Gesicht, fühlte dabei, wie die Nase flach gegen seine Knochen knirschte. Er krallte die Finger in Bethods Haar, packte ihn ganz fest, zog ihm den Kopf hoch und schlug ihn dann mit aller Macht gegen die Steine.

»Stirb!«, zischte er.

Bethod zuckte, gurgelte, und Logen hob seinen Kopf und rammte ihn wieder nach unten, wieder und wieder. Der goldene Reif flog von dem gebrochenen Schädel und rollte mit hellem Klingen über den Wehrgang.

»Stirb!«

Knochen knackten, und Blut lief in dicken Tropfen und dünnen Spritzern über die Steine. Schneebleich und seine Namhaften Männer glotzten mit blassen Gesichtern, hilflos und ängstlich, entsetzt und erfreut.

»Stirb, du Arschloch!«

Und damit riss Logen Bethods zermalmte Leiche mit einem letzten Aufbäumen in die Luft und schleuderte sie über die Zinnen. Er sah, wie sie fiel. Er sah, wie sie auf dem Boden aufschlug und liegen blieb, auf der Seite, Arme und Beine in unnatürlichem Winkel abgespreizt, die Finger gekrümmt, als ob sie etwas packen wollten, der Kopf nicht mehr als ein dunkler Fleck auf der trockenen Erde. Alle Gesichter der vielen Menschen, die dort unten standen, waren auf diesen Toten gerichtet, und dann, langsam, hoben sie sich mit weit geöffneten Augen und Mündern und starrten Logen an.

Crummock-i-Phail, der mitten unter ihnen stand, in der Mitte des Kreises neben dem riesigen Körper des Gefürchteten, hob langsam den langen Arm, und der dicke Zeigefinger deutete nach oben. »Der Blutige Neuner!«, schrie er. »König der Nordmänner!«

Logen glotzte auf ihn herab, noch immer nach Luft ringend und mit weichen Knien, und er versuchte zu begreifen. Die Wut war verflogen, und jetzt war nichts mehr da außer einer schrecklichen Müdigkeit. Müdigkeit und Schmerz.

»König der Nordmänner!«, kreischte jemand weiter hinten in der Menge.

»Nein«, krächzte Logen, aber niemand hörte ihn. Sie waren alle zu berauscht vom Blut und vom Zorn. Vielleicht waren sie auch bemüht herauszufinden, welcher Weg der leichteste sein würde, oder sie hatten zu viel Angst, um etwas anderes zu sagen. Überall brachen nun laute Rufe aus, erst ein paar vereinzelte, dann ein steter Strom und schließlich eine ganze Flut, und Logen konnte nur zusehen, sich am blutigen Stein festhalten und sich alle Mühe geben, nicht zu stürzen.

»Der Blutige Neuner! König der Nordmänner!«

Schneebleich war neben ihm auf ein Knie gesunken. Tropfen von Bethods Blut waren auf den weißen Pelzbesatz seines Mantels gespritzt. Er war immer schnell dabei gewesen, jenen Arsch zu küssen, der ihm am nächsten war, aber er war nicht allein. Sie knieten alle, oben auf der Brustwehr und unten auf dem Gras. Die Carls von Hundsmann und die Carls von Bethod. Die Männer, die für Logen den Schildwall gebildet, und diejenigen, die zu dem Gefürchteten gehalten hatten. Vielleicht hatte Bethod ihnen eine Lehre erteilt. Vielleicht hatten sie vergessen, ihren eigenen Mann zu stehen, und brauchten jetzt jemanden, der ihnen sagte, was sie tun sollten.

»Nein«, flüsterte Logen, aber es war nur ein dumpfes Sabbern zu hören. Er konnte all das ebenso wenig aufhalten, wie es ihm möglich war, den Himmel einstürzen zu lassen. Nun hatte er wirklich das Gefühl, dass ein Mann für das bezahlen musste, was er getan hatte. Aber manchmal fiel die Bezahlung ganz anders aus als erwartet.

»Der Blutige Neuner!«, brüllte Crummock erneut, als er auf ein Knie sank und die Arme zum Himmel reckte. »König der Nordmänner!«