ABRECHNUNG
Rotkapp hatte recht gehabt. Es gab keinen Grund, warum jemand von ihnen hier sterben sollte. Niemand außer dem Blutigen Neuner zumindest. Es war höchste Zeit, dass dieser Drecksack seinen Teil der Schuld übernahm.
»Noch am Leben«, flüsterte Logen, »noch am Leben.« Er schlich um die Ecke eines weißen Gebäudes und betrat den Park.
Dabei musste er daran denken, wie belebt es hier früher gewesen war. Menschen, die gelacht, gegessen, geredet hatten. Jetzt lachte hier niemand mehr. Leichen lagen ausgestreckt auf dem Rasen. Manche trugen Rüstungen, andere nicht. Aus der Ferne hörte er Lärm – vielleicht eine Schlacht, weit weg. In der Nähe war nichts außer dem Pfeifen des Windes, der durch die nackten Zweige fuhr, und seinen eigenen knirschenden Schritten auf dem Kies. Seine Haut prickelte, als er wachsam auf die hohe Palastmauer zuging.
Die schweren Türen waren verschwunden, nur die schiefen Angeln ragten noch aus dem Eingang. Die Gärten gegenüber lagen voller Leichen. Männer in Rüstungen, eingedellt und blutverschmiert. Auf dem Weg vor dem Tor lag ein ganzer Haufen Toter, verdreht und zermalmt, als seien sie von einem riesigen Hammer getroffen worden.
Einer war glatt in zwei Teile gehauen worden, die nun in einer dunklen Blutpfütze lagen.
Inmitten all dessen stand ein Mann. Er trug eine weiße Rüstung, die mit roten, feinen Tröpfchen besprengt und bespritzt war. Wind war im Garten aufgekommen, und schwarzes Haar umwehte sein Gesicht, dessen dunkle Haut glatt und makellos wie die eines Säuglings war. Mit finsterem Gesicht sah er auf einen Toten zu seinen Füßen, aber er hob den Blick zu Logen, als dieser durch das Tor kam. Ein Blick ohne Hass oder Angst, ohne Glück oder Trauer. Irgendwie ohne alles.
»Du bist weit entfernt von deiner Heimat«, sagte er auf Nordisch.
»Du auch.« Logen sah in das leere Gesicht. »Du bist ein Verzehrer?«
»Dieses Verbrechens muss ich mich schuldig bekennen.«
»Wir alle sind schuldig, in der einen oder anderen Hinsicht.« Logen wog das Schwert in einer Hand. »Sollen wir es dann hinter uns bringen?«
»Ich kam hierher, um Bayaz zu töten. Sonst niemanden.«
Logen betrachtete die schrecklich zugerichteten Leichen, die im Garten verstreut lagen. »Und, wie klappt das so?«
»Wenn man einmal beschlossen hat, mit dem Töten zu beginnen, kann man die Zahl der Opfer oft nicht einschätzen.«
»Das ist wohl wahr. Blut bringt weiter nichts als noch mehr Blut, hat mir mein Vater immer gesagt.«
»Ein weiser Mann.«
»Ich wünschte, ich hätte auf ihn gehört.«
»Es ist manchmal schwer, zu erkennen, was ... die Wahrheit ist.« Der Verzehrer hob seine blutüberströmte rechte Hand und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Es ist durchaus angebracht, dass ein rechtschaffener Mann ... Zweifel hat.«
»Wenn du meinst. Ich hab bisher nicht allzu viele rechtschaffene Männer kennengelernt.«
»Ich dachte einmal, ich schon. Jetzt bin ich nicht sicher. Müssen wir kämpfen?«
Logen holte tief Luft. »Sieht so aus.«
»Dann sei es so.«
Er kam so schnell über ihn, dass Logen kaum Zeit blieb, das Schwert zu heben, schon gar nicht zu schwingen. Logen warf sich zur Seite, aber trotzdem erwischte ihn etwas an den Rippen – am Ellenbogen, am Knie, an der Schulter. Manchmal ist das schwer zu sagen, wenn man sich auf dem Gras überschlägt und alles um einen herum zu fliegen scheint. Logen versuchte aufzustehen und merkte, dass es ihm nicht gelang. Den Kopf konnte er um einen Zoll heben, aber das war auch schon alles. Jeder Atemzug schmerzte ihn. Seufzend ließ er den Kopf wieder sinken und starrte in den weißen Himmel. Vielleicht wäre er besser außerhalb der Mauern geblieben. Vielleicht hätte er die Jungs einfach im Wald ausruhen lassen sollen, bis alles vorüber war.
Die hohe Gestalt des Verzehrers rückte in sein verschwommenes Gesichtsfeld und hob sich dunkel vor dem Himmel ab. »Es tut mir leid. Ich werde für dich beten. Ich werde für uns beide beten.« Damit hob er den Fuß in seiner schweren Rüstung.
Eine Axt schlug in sein Gesicht und brachte ihn ins Trudeln. Logen schüttelte das hohle Gefühl aus seinem Kopf und holte zögernd Luft. Dann richtete er sich mühsam auf den Ellenbogen gestützt auf und hielt sich dabei die Seite. Er sah eine Faust in weißer Rüstung herunterfahren und gegen Espes Schild schlagen. Sie riss ein Stück vom Rand ab und warf Espe auf die Knie. Ein Pfeil prallte vom Schulterpanzer des Verzehrers ab, und er wandte sich um; eine Seite seines Kopfes klaffte blutig auf. Ein zweiter Pfeil drang ihm sauber in den Hals. Grimm und der Hundsmann standen im Eingang, die Bogen erhoben.
Der Verzehrer stürmte mit großen Schritten auf sie zu, und der Luftzug fuhr durch das Gras, als er daran vorbeieilte.
»Hm«, sagte Grimm. Der Verzehrer stieß ihm mit voller Wucht den gepanzerten Ellenbogen in den Bauch. Er krachte zehn Schritt entfernt gegen einen Baum und rutschte ins Gras. Der Verzehrer hob nun den anderen Arm, um auf den Hundsmann einzuschlagen, aber ein Carl durchbohrte ihn mit einem Speer und schleuderte ihn nach hinten. Noch mehr Nordmänner drängten durch das Tor, umringten ihn brüllend und schreiend und hackten mit Schwertern und Äxten auf ihn ein.
Logen rollte sich auf den Bauch, kroch über den Rasen und packte sein Schwert, wobei er eine Hand voll Gras mit ausriss. Ein Carl stolperte an ihm vorbei; sein zertrümmerter Kopf war blutüberströmt. Logen biss die Zähne zusammen und griff an, das Schwert mit beiden Händen über dem Kopf erhoben.
Es fuhr in die Schulter des Verzehrers, durchtrennte seine Rüstung und drang bis weit in seine Brust. Blut spritzte über das Gesicht des Hundsmanns. Beinahe gleichzeitig erwischte einer der Carls den Verzehrer mit einem harten Keulenschlag an der Seite, zertrümmerte ihm den anderen Arm und hinterließ eine tiefe Delle in seinem Brustpanzer.
Der Verzehrer stolperte, und Rotkapp stach tief in eines seiner Beine. Nun brach er in die Knie, Blut floss aus seinen Wunden und lief die lädierte Rüstung hinab, um sich zu seinen Füßen zu sammeln. Er lächelte, soweit Logen das sagen konnte, da ihm ja das Gesicht halb herabhing. »Frei«, hauchte er.
Logen hob das Schwert des Schöpfers und schlug ihm den Kopf
ab.
Plötzlich war Wind aufgekommen, fuhr durch die besudelten Straßen, pfiff durch die ausgebrannten Häuser und schleuderte West Asche und Staub ins Gesicht, als er auf den Agriont zuritt. Er musste dagegen anschreien: »Wie geht es voran?«
»Sie haben den Kampfesmut verloren!«, bellte Brint, dem ein neuerlicher Windstoß das Haar zur Seite wehte. »Sie sind auf dem Rückzug! Offenbar waren sie zu sehr darum bemüht, den Agriont einzukesseln, und waren nicht auf uns vorbereitet! Jetzt fallen sie beinahe übereinander in dem Bemühen, nach Westen vorzudringen. Rund um den Arnaultwall gibt es noch Kämpfe, aber Orso macht ihnen in den Drei Höfen ordentlich Beine!«
West sah den vertrauten Umriss des Kettenturms hinter einer Ruine aufragen und lenkte sein Pferd in diese Richtung. »Gut! Wenn wir sie vom Agriont vertreiben können, dann werden wir sie schlagen! Dann können wir ...« Er verstummte, als sie um die Ecke bogen und bis zum Westtor der Festung sehen konnten. Oder genauer: dorthin, wo sich das Westtor einst befunden hatte.
Er brauchte einen Augenblick, um es zu begreifen. Der Kettenturm ragte neben einer riesenhaften Bresche auf, die in der Mauer des Agrionts klaffte. Das ganze Torhaus war auf irgendeine Weise völlig zerstört worden und hatte dabei große Mauerstücke links und rechts mitgerissen. Die Überreste verstopften den Burggraben oder lagen breit über die Straßen in der Nähe verstreut.
Die Gurkhisen waren in den Agriont eingedrungen. Das Herz der Union lag offen und ungeschützt da.
Nicht weit von ihnen entfernt tobte noch immer ein formloser Kampf vor der Festung. West trieb sein Pferd voran, durch die Männer hindurch, die miteinander rangen oder verletzt dalagen, bis in den Schatten der Mauern. Er sah eine Reihe kniender Flachbogenschützen, die eine vernichtende Salve zu den Gurkhisen hinüberschickten. Männer stürzten zu Boden. Neben ihm schrie jemand über das Heulen des Windes, während ein anderer versuchte, eine Aderpresse um den blutigen Stumpf seines Beines zu befestigen.
Pikes Gesicht war noch grimmiger als sonst. »Wir sollten uns zurückziehen, Herr Marschall. Hier ist es nicht sicher.«
West überhörte ihn. Jeder Mann musste seinen Beitrag leisten, ohne Ausnahme. »Wir sollten hier Aufstellung nehmen! Wo ist General Kroy?« Aber der Korporal hörte ihm nicht länger zu. Seine Augen waren zum Himmel geglitten, und nun klappte ihm langsam die Kinnlade herunter. West wandte sich im Sattel um.
Eine schwarze Säule erhob sich über dem Westen der Festung. Zuerst sah es aus, als bestünde sie aus aufsteigendem Rauch, aber nachdem West sich über den Maßstab klar geworden war, erkannte er, dass es sich um herumwirbelnde Gegenstände handelte. Um Massen, um zahllose Tonnen von Gegenständen. Seine Augen folgten der Säule weiter empor, höher und höher. Selbst die Wolken waren in Bewegung geraten, drehten sich um die Spirale in ihrer Mitte und zogen in langsamem Kreis über ihnen dahin. Die Kämpfe kamen zum Erliegen, als Unionisten und Gurkhisen gleichermaßen auf den gewundenen Pfeiler starrten, der über dem Agriont stand, während sich der Kettenturm wie ein schwarzer Finger vor ihm abhob und das Haus des Schöpfers wie eine winzige Stecknadel dahinter aufragte.
Nun begannen Dinge vom Himmel zu fallen. Erst kleine – Splitter, Staub, Blätter, Papierfetzen. Dann schoss ein Holzstück von der Größe eines Stuhlbeins herab und schlug mehrfach auf dem Pflaster auf. Ein Soldat kreischte, als ein faustgroßer Stein ihm die Schulter zerschmetterte. Jene, die nicht kämpften, wichen zurück, duckten sich, hielten sich die Schilde über den Kopf. Der Wind wurde noch wilder, riss an der Kleidung, und die Männer mussten sich dagegenstemmen, die Zähne gebleckt und die Augen zu Schlitzen verengt. Die kreisende Säule wurde breiter, dunkler, schneller, höher, bis sie den Himmel berührte. West sah kleine Tupfen an ihren Rändern, die vor den weißen Wolken spielten wie ein Mückenschwarm an einem Sommertag.
Nur handelte es sich dabei um herumwirbelnde Steinbrocken, Holzstücke, Erde, Metall, die eine verrückte Laune der Natur in den Himmel geschleudert hatte und nun durch die Gegend fliegen ließ. Er wusste nicht, was hier geschah, oder wieso. Er konnte nur in die Luft starren.
»Herr Marschall!«, brüllte ihm Pike ins Ohr. »Herr Marschall, wir müssen von hier verschwinden!« Er griff nach Wests Zügeln. Ein großes Stück Mauerwerk krachte nicht weit von ihnen aufs Pflaster. Wests Pferd bäumte sich auf und wieherte panisch. Die Welt machte einen Satz, drehte sich, wurde schwarz. Er wusste nicht, für wie lange.
Er lag auf dem Bauch, den Mund voller Staub. Vorsichtig hob er den Kopf, kam wie betrunken auf alle viere, während der Wind wild in seinen Ohren brüllte und ihm kleine, stechende Steinchen ins Gesicht schleuderte. Es war so dunkel, als ob es bereits dämmerte. Die Luft war erfüllt von fliegenden Trümmern. Der Wind zerrte am Boden, an den Häusern, an den Männern, die sich nun wie Schafe zusammengedrängt hatten und keinen Gedanken mehr ans Kämpfen verschwendeten. Die Lebenden lagen hingestreckt auf dem Bauch, Seite an Seite mit den Toten. Schutt scheuerte am Kettenturm, dessen Schindeln vom Dach flogen, bis der Sturm auch den Dachstuhl davonriss. Ein riesiger Balken schoss in die Tiefe und krachte auf das Kopfsteinpflaster, überschlug sich mehrmals der Länge nach und schob Leichen aus seinem Weg, bevor er in die Wand eines Hauses brach, dessen Dach sofort einstürzte.
West zitterte, Tränen wurden von seinen brennenden Augen gerissen, und er fühlte sich völlig hilflos. Kam so tatsächlich das Ende? Nicht blutverschmiert und ruhmumkränzt bei einem närrischen Ausfall wie für General Poulder. Nicht im Schlaf in der Nacht, wie für Marschall Burr. Nicht einmal unter einer Kapuze auf dem Schafott, zum Tode verurteilt wegen des Mordes an Kronprinz Ladisla.
Sondern ganz zufällig von einem riesigen Trümmerstück erschlagen, das vom Himmel fiel.
»Vergib mir«, flüsterte er dem wilden Sturm entgegen.
Dann sah er, wie sich der schwarze Umriss des Kettenturms verschob. Er beugte sich nach vorn. Steinbrocken fielen herab und klatschten in den aufgewühlten Burggraben. Das ganze riesige Gebäude sackte zu einer Seite, beulte sich aus und stürzte mit geradezu alberner Langsamkeit nach außen, durch den tobenden Sturm und in die Stadt.
Bei seinem Sturz zerbarst der Turm. Mauerstücke krachten auf die Häuser, zerschmetterten geduckte Männer wie Ameisen und flogen als tödliche Geschosse in alle Richtungen.
Und das war alles.
Es gab jetzt keine Häuser mehr an diesem Ort, der einst der Marschallsplatz gewesen war. Keine sprudelnden Springbrunnen, keine stattlichen Statuen auf dem Weg der Könige, keine Paläste voller verweichlichter Rosigs.
Alles war hinweggefegt worden.
Die vergoldete Kuppel des Fürstenrunds hatte sich erhoben, war geborsten und in Tausende kleine Stücke gesprengt worden. Die hohen Mauern der Heereshallen waren nur noch Ruinen. Von den übrigen einst so stolzen Gebäuden waren bloß zertrümmerte Stümpfe geblieben; sie waren bis auf die Grundmauern geschleift. Vor Ferros tränenden Augen waren sie zerschmolzen. Hatten sich in der formlosen Wut aufgelöst, die wild fauchend um den Ersten der Magi tobte und von der Erde bis hinauf in den Himmel von endlosem Hunger erfüllt war.
»Ja!« Sie konnte sein begeistertes Gelächter über das Tosen des Sturms hinweg hören. »Ich bin größer als Juvens! Ich bin größer als selbst Euz!«
War dies Rache? Wie viel davon würde dann nötig sein, um sie wieder ganz werden zu lassen? Ferro fragte sich dumpf, wie viele Menschen in den zerstörten Gebäuden Schutz gesucht hatten. Das Schimmern, das den Samen umgab, breitete sich aus, erfasste ihre Schulter, reichte dann bis zu ihrem Hals und umschloss sie schließlich ganz.
Die Welt wurde still.
In großer Entfernung ging die Zerstörung weiter, aber sie war jetzt nur noch verschwommen zu erkennen, und der Lärm drang gedämpft zu ihr durch, wie durch Wasser. Ihre Hand war über alle Maßen kalt. Bis zur Schulter fühlte sich alles taub an. Sie sah Bayaz, der lächelte, die Arme erhoben. Der Wind tobte um sie in einer Mauer endloser Bewegung.
Aber es waren Gestalten darin.
Sie wurden in dem Maße deutlicher, in dem der Rest der Welt weniger klar erschien. Sie sammelten sich außerhalb des äußersten Kreises. Schatten. Geister. Eine hungrige Meute.
»Ferro ...«, ertönten ihre flüsternden Stimmen.
Plötzlich hatte sich ein Sturm in den Gärten erhoben, noch unvermittelter, als die Unwetter auf den Hohen Höhen loszubrechen pflegten. Das Licht war verblasst, und dann war alles mögliche Zeug vom dunklen Himmel gefallen. Hundsmann wusste nicht, woher es kam, und es war ihm auch ziemlich egal. Es gab dringendere Dinge, über die er sich Sorgen machten musste.
Sie schleppten die Verwundeten durch ein hohes Tor, und die Männer stöhnten, fluchten, oder – und das war am schlimmsten – sagten gar nichts. Ein paar, die bereits zu Schlamm geworden waren, ließen sie draußen liegen. Es war sinnlos, Atem an jene zu verschwenden, denen man nicht mehr helfen konnte.
Logen hatte Grimm unter den Achseln gepackt, und Hundsmann trug seine Stiefel. Sein Gesicht war kalkweiß, die Lippen jedoch blutrot. An seinem Gesicht war abzulesen, dass es schlimm um ihn stand, aber er klagte nicht, nicht Harding Grimm. Das hätte Hundsmann auch nie von ihm geglaubt.
Sie setzten ihn in der Düsternis auf der anderen Seite der Tür ab. Hundsmann hörte, wie Gegenstände gegen die Fenster schlugen, draußen auf den Boden prallten oder klappernd aufs Dach prasselten. Noch mehr Männer wurden hineingetragen, mit gebrochenen Armen und gebrochenen Beinen und Schlimmerem. Espe folgte ihnen. Er trug die blutige Axt in einer Hand; sein Schildarm hing nutzlos herab.
Hundsmann hatte noch nie einen solchen Korridor gesehen. Der Boden war aus grünem und weißem Stein, so glatt und hell leuchtend poliert, dass man hätte glauben können, er sei aus Glas. Die Wände waren mit großen Gemälden geschmückt. Die Decke war mit Blumen und Blättern bedeckt, so fein gemeißelt, dass sie beinahe echt wirkten, wären sie nicht aus Gold gewesen, das nun im Licht, das durch die Fenster hereinleckte, dämmrig glänzte.
Männer knieten sich hin und versorgten die verletzten Kameraden, gaben ihnen Wasser und freundliche Worte, richteten einen Bruch oder zwei. Logen und Espe standen einfach nur da und sahen sich an. Es lag kein Hass darin, jedenfalls nicht so richtig, aber auch kein Respekt. Hundsmann fiel es schwer zu sagen, was es war, und ihm war das eigentlich auch ziemlich egal.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, fuhr er Logen an. »Dich einfach so auf eigene Faust zu verpissen? Ich dachte, du wärst jetzt Häuptling oder so was! Das war eine ziemlich schlappe Nummer, oder?«
Logen erwiderte den Blick stumpf, und seine Augen schimmerten in der Düsternis. »Musste Ferro helfen«, murmelte er wie zu sich selbst. »Und Jezal auch.«
Hundsmann sah ihn böse an. »Wem helfen? Hier gibt es echte Menschen, die Hilfe brauchen.«
»Ich hab kein Händchen für die Verwundeten.«
»Nur dafür, welche zu schaffen! Dann weiter mit dir, Blutiger Neuner, wenn du nicht anders kannst. Dann bring’s hinter dich.«
Hundsmann sah, dass Logen zusammenzuckte, als er diesen Namen hörte. Er wich zurück, eine Hand gegen die Seite gedrückt, während die andere das blutige Schwert hielt. Dann wandte er sich um und humpelte den schimmernden Korridor hinunter.
»Tut weh«, sagte Grimm, als Hundsmann sich neben ihn hockte.
»Wo?«
Grimm verzog den Mund zu einem blutigen Lächeln. »Überall.«
»Schön, schauen wir mal ...« Hundsmann zog ihm das Hemd hoch. Eine Seite des Brustkorbs war eingedrückt, und eine große schwarzblaue Schwellung breitete sich wie ein Teerfleck darüber aus. Er konnte kaum glauben, dass ein Mann mit einer solchen Wunde noch atmete. »Ah ...«, murmelte er und hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wo er nun anfangen sollte.
»Ich glaube ... ich bin erledigt.«
»Was, wegen dem hier?« Hundsmann wollte grinsen, aber er brachte es nicht fertig. »Das ist doch bloß ein Kratzer.«
»Ein Kratzer, was?« Grimm versuchte, den Kopf zu heben, verzog gequält das Gesicht und ließ sich wieder zurücksinken. »Das ist eine verdammt schöne Decke.«
Der Hundsmann schluckte. »Joh. Denk ich auch.«
»Hätte schon vor langer Zeit sterben sollen, damals im Kampf gegen Neunfinger. Die Zeit danach war ein Geschenk. Bin aber dankbar dafür, Hundsmann. Ich habe ... unsere Gespräche sehr gemocht.«
Er schloss die Augen und hörte auf zu atmen. Er hatte nie viel gesagt, dieser Harding Grimm. Dafür war er berühmt gewesen. Jetzt würde er für immer schweigen. Ein sinnloser Tod, so weit weg von zu Hause. Für nichts, woran er glaubte, was er verstand oder von dem er etwas Gutes zu erwarten hatte. Nichts als Verschwendung. Aber andererseits hatte Hundsmann schon viele Männer wieder zu Schlamm werden sehen, und daran war nie etwas Gutes gewesen. Er holte tief Luft und starrte auf den Boden.
Eine einzige Lampe warf kriechende Schatten über den vermodernden Flur, über rauen Stein und abblätternden Putz. Sie zeichnete finstere Umrisse der Söldner und verwandelte die Gesichter von Glokta und Ardee in unvertraute Masken. Es war, als fange sich die Dunkelheit innerhalb des schweren Mauerwerks und der Tür darin, die uralt aussah, knorrig, abgeschabt und mit vielen schwarzen Eisennieten beschlagen.
»Was amüsiert Sie, Herr Superior?«
»Ich stand schon einmal hier«, murmelte Glokta. »Auf genau derselben Stelle. Mit Silber.« Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über den eisernen Türgriff. »Meine Hand lag schon auf dem Riegel ... und dann ging ich weiter.« Ah, diese Ironie. Die Antworten, die wir so lange und in so weiter Ferne suchen, liegen oft direkt vor unseren Fingerspitzen.
Glokta lief ein Schauer über den Rücken, als er sich näher zur Tür beugte. Von der anderen Seite konnte er etwas hören, ein gedämpftes Dröhnen in einer Sprache, die er nicht kannte. Ruft der Adeptus der Dämonologie vielleicht bereits die Wesen der Unterwelt? Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen; der Anblick von Kronrichter Marovias gefrorenen Überresten war noch frisch in seiner Erinnerung. Es wäre unbedacht, jetzt sofort durch diese Tür zu stürmen, ganz gleich, wie sehr wir danach drängen, unsere Fragen endlich beantwortet zu sehen. Sehr unbedacht ...
»Superior Goyle, da Sie uns bis hierher geführt haben, wären Sie nun vielleicht auch so freundlich, als Erster hineinzugehen?«
»Giegh?«, quiekte Goyle durch seinen Knebel, und seine bereits hervorquellenden Augen wurden noch größer.
Cosca packte den Superior von Adua am Kragen, packte mit der anderen Hand den Eisengriff, riss die Tür schnell auf und versetzte Goyles Rückseite einen gut platzierten Tritt. Der Superior stolperte in den Raum und bellte unverständliche Worte in seinen Knebel. Das metallische Geräusch eines abgeschossenen Flachbogens drang von der anderen Seite der Tür, wie auch der Sprechgesang, der nun lauter und intensiver zu hören war.
Was hätte Oberst Glokta gesagt? Vorwärts, Jungs, dem Sieg entgegen! Glokta humpelte durch die Tür, fiel dabei auf der Schwelle beinahe über die eigenen Füße und sah sich überrascht um. Er stand in einer großen, kreisrunden Halle mit Kuppeldach, deren schattenumlagerte Mauern mit einem riesigen, überwältigend detaillierten Wandgemälde geschmückt waren. Noch dazu mit einem, das unangenehm vertraut wirkt. Kanedias, der Meisterschöpfer, überschattete mit ausgebreiteten Armen den ganzen Saal, fünfmal größer als menschliches Maß, und hinter ihm flammte in lebhaftem Karmesinrot, Orange und Weiß ein Feuer auf. Auf der entgegengesetzten Wand lag sein Bruder Juvens ausgestreckt im Gras unter blühenden Bäumen, und das Blut rann ihm aus zahlreichen Wunden. Zwischen den beiden Männern marschierten die Magi, um ihre Rache zu nehmen. Von einer Seite kamen sechs, von der anderen fünf, und der kahle Bayaz führte sie an. Blut, Feuer, Tod, Rache. Wie äußerst passend, wenn man die Umstände bedenkt.
Eine komplizierte Zeichnung, die mit äußerster Sorgfalt ausgeführt worden war, bedeckte den weiten Boden. Kreise in wieder anderen Kreisen, Formen, Symbole, Figuren von beängstigender Komplexität, waren in sauberen Linien aus einem weißen Pulver aufgeschüttet worden. Salz, wenn ich mich nicht sehr irre. Goyle lag einen oder zwei Schritt von der Tür entfernt auf dem Bauch, am Rand des äußersten Rings, die Hände immer noch gefesselt. Dunkles Blut breitete sich unter ihm aus, und die Spitze eines Flachbogenbolzens ragte aus seinem Rücken. Genau dort, wo sein Herz sein sollte. Ich hätte nie vermutet, dass sich gerade das als seine schwache Stelle erweisen würde.
Vier der Adepti der Universität standen da und sahen ihn in verschiedenem Grade überrascht an. Drei von ihnen, Chayle, Denka und Kandelau, hielten Kerzen in beiden Händen, deren rußende Dochte einen leichenähnlichen Gestank verströmten. Saurizin, der Adeptus der Chemie, umklammerte einen abgeschossenen Flachbogen. Die Gesichter der alten Männer, die von unten in kränklichem Gelb beleuchtet wurden, waren stumme Masken der Angst.
Auf der anderen Seite des Saales stand Silber hinter einem Pult und starrte beim Licht einer einzigen Lampe in größter Konzentration auf das große Buch, das geöffnet vor ihm lag. Neben ihm, schmerzhaft gerade aufgerichtet in seinem reinen, weißen Mantel und Blicke wie stechend blaue Dolche durch den Saal schleudernd, stand Erzlektor Sult.
»Glokta, Sie verdammter Krüppel!«, fauchte er. »Was, zur Hölle, tun Sie denn hier?«
»Dasselbe könnte ich Sie fragen, Euer Eminenz.« Glokta deutete mit seinem Stock auf die ganze Szenerie. »Mal davon abgesehen, dass die Kerzen, die uralten Bücher, die Gesänge und die Kreise aus Salz das bereits bestens beantworten, nicht wahr?« Und irgendwie erscheint es plötzlich doch als ein höchst infantiles Spiel. Die ganze Zeit über, während ich mich quer durch die Tuchhändlergilde gefoltert, in Dagoska mein Leben riskiert und in Ihrem Namen Wahlstimmen erpresst habe, haben Sie sich ... mit so etwas abgegeben?
Aber für Sult war die Sache offenbar ernst genug. »Verschwinden Sie, Sie Narr! Das ist unsere letzte Gelegenheit!«
»Das hier? Ernsthaft?« Cosca war schon durch die Tür, und die maskierten Söldner folgten ihm. Silbers Augen waren nach wie vor starr auf das Buch gerichtet, die Lippen bewegten sich, und es stand noch mehr Schweiß auf seiner Stirn als sonst. Glokta runzelte die Stirn. »Kann den mal bitte jemand zum Schweigen bringen.«
»Nein!«, brüllte Chayle, und ein Ausdruck größten Entsetzens trat auf sein Gesicht. »Sie dürfen die Beschwörungen nicht unterbrechen! Die Folgen könnten ... könnten ...«
»Katastrophal sein!«, vollendete Kandelau kreischend den Satz. Dennoch wagte einer der Söldner einen Schritt auf die Raumesmitte zu.
»Treten Sie nicht in die Nähe des Salzes!«, schrie Denka gellend, und Wachs tropfte von seiner schwankenden Kerze. »Was auch immer Sie tun!«
»Warten Sie!«, zischte Glokta, und der Mann blieb am Rand des Kreises stehen und sah über seine Maske hinweg zu ihm hinüber. Noch während sie sprachen, wurde es im Raum immer kälter. Unnatürlich kalt. Irgendwas geschah in der Mitte der Kreise. Die Luft flimmerte, wie die Luft über einem Feuerstoß, und dieses Flimmern wurde immer stärker, je länger Silbers harte Stimme weiterleierte. Glokta stand wie angewurzelt da, und seine Augen huschten zwischen den alten Adepti hin und her. Was tun? Ihn aufhalten oder nicht? Aufhalten oder ...
»Gestatten Sie!« Cosca trat vor und griff mit der freien Hand in seinen schwarzen Mantel. Aber Sie können doch wohl nicht ... Mit lässiger Bewegung zog er den Arm wieder hervor, und ein Wurfmesser steckte nun zwischen seinen Fingern. Die Klinge blitzte im Kerzenlicht, drehte sich in der schwirrenden Luft über der Mitte des Saales und bohrte sich mit sanftem Aufschlag bis zum Griff in Silbers Stirn.
»Ha!« Cosca packte Glokta an der Schulter. »Was habe ich Ihnen gesagt? Haben Sie schon mal einen besseren Messerwurf gesehen?«
Rot tropfte das Blut an Silbers Gesicht herab. Seine Augen verdrehten sich, dann sackte er seitlich zusammen, rutschte über sein Pult und stürzte zu Boden. Sein Buch fiel auf ihn, die alten Seiten raschelten, und die Laterne kippte um und versprühte Lampenöl.
»Nein!«, kreischte Sult.
Chayle keuchte, und sein Mund klappte auf. Kandelau warf seine Kerze weg und sank unterwürfig zu Boden. Denka stieß einen entsetzten Schrei aus, eine Hand über das Gesicht gebreitet, und starrte mit hervorquellenden Augen zwischen seinen Fingern hervor. Eine lange Pause entstand, während jeder außer Cosca voller Panik den Leichnam des Adeptus der Dämonologie anstarrte. Glokta wartete, die wenigen Zähne gebleckt, die Augen beinahe ganz zugekniffen. Ah, dieser herrliche, entsetzliche Augenblick zwischen dem Anstoßen des Zehs und dem Einsetzen des Schmerzes. Jetzt kommt er. Jetzt kommt er.
Hier kommt der Schmerz ...
Aber nichts geschah. Kein dämonisches Gelächter erschütterte den Saal. Der Boden stürzte nicht ein, um ein Tor zur Hölle zu offenbaren. Das Flimmern ließ nach, der Raum wurde wieder wärmer. Glokta hob die Brauen, beinahe enttäuscht. »Offenbar werden die teuflischen Künste ganz gewaltig überschätzt.«
»Nein!«, fauchte Sult wieder.
»Ich bedauere doch, Euer Eminenz. Wenn ich daran denke, dass ich Sie zu respektieren pflegte.« Glokta grinste den Adeptus der Chemie an, der noch immer geschwächt den abgeschossenen Flachbogen umklammert hielt. Er deutete mit einer Handbewegung auf Goyles Leiche. »Ein guter Schuss. Ich gratuliere Ihnen. Ein Problem weniger, um das ich mich kümmern muss.« Dann winkte er die hinter ihm versammelten Söldner heran. »Und nun ergreifen Sie diesen Mann.«
»Nein!«, bellte Saurizin, der nun den Flachbogen auf den Boden warf. »Das war alles nicht meine Idee! Ich hatte keine Wahl! Er war es!« Mit einem dicken Finger deutete er auf Silbers leblosen Körper. »Und ... und er!« Nun zeigte er mit zitterndem Arm auf Sult.
»Sie denken bereits in die richtige Richtung, aber das kann bis zur Befragung warten. Wären Sie nun so nett, Seine Eminenz in Gewahrsam zu nehmen?«
»Aber gern.« Cosca schlenderte durch den großen Saal, wobei seine Stiefel kleine Wölkchen weißen Pulvers aufwirbelten und eine Spur der Zerstörung in dem komplizierten Muster hinterließen.
»Glokta, Sie Idiot, Sie machen einen schweren Fehler!«, schrie Sult. »Sie haben ja keine Ahnung, wie gefährlich Bayaz ist! Der Erste der Magi und sein Bastard-König! Glokta! Sie haben nicht das Recht – gah!« Er jaulte auf, als Cosca ihm die Arme hinter den Rücken drehte und ihn, das weiße Haar völlig zerrauft, auf die Knie zwang. »Sie haben keine Ahnung ...«
»Wenn die Gurkhisen uns nicht alle umbringen, dann werden Sie
reichlich Gelegenheit bekommen, es mir zu erklären. Das kann ich
Ihnen versichern.« Glokta verzog den Mund zu seinem zahnlosen
Lächeln, während Cosca den Strick um Sults Handgelenke fester zog.
Wenn Sie wüssten, wie lange ich daraufgewartet habe, diese
Worte auszusprechen. »Erzlektor Sult, ich verhafte Sie wegen
Hochverrats an Seiner Majestät dem König.«
Jezal stand mit großen Augen da. Eine der Zwillingsschwestern – die blutbespritzte – streckte langsam die langen Arme über den Kopf und reckte sich ausgiebig und zufrieden. Die andere hob eine Augenbraue.
»Wie möchtest du gern sterben?«, fragte sie.
»Euer Majestät, treten Sie hinter mich.« Gorst wog sein langes Eisen in der noch unverletzten Hand.
»Nein. Diesmal nicht.« Jezal nahm die Krone vom Kopf, jene Krone, auf deren Gestaltung Bayaz so viel Mühe verwendet hatte, und warf sie klappernd weg. Er hatte keine Lust mehr, König zu sein. Wenn er sterben musste, dann wollte er als Mann sterben, als ein Mann wie jeder andere. Er hatte so viele Vorteile genossen, das begriff er jetzt. Viel mehr, als die meisten Menschen sich auch nur erträumen konnten. So viele Gelegenheiten, Gutes zu tun, und er hatte stattdessen nur herumgejammert und an sich selbst gedacht. Jetzt war es zu spät. »Ich habe mich mein ganzes Leben lang auf andere gestützt. Mich hinter ihnen versteckt. Oder bin auf ihre Schultern gestiegen. Diesmal nicht.«
Eine der Schwestern hob die Hände und begann langsam zu klatschen, und das gleichmäßige Klapp, Klapp, Klapp hallte von den Spiegeln wider. Die andere kicherte. Gorst hob die Klinge. Jezal tat es ihm nach, als letztes Zeichen sinnlosen Widerstands.
Dann fuhr Kronrichter Marovia wie ein Blitz zwischen sie. Der alte Mann bewegte sich mit geradezu unmöglicher Geschwindigkeit, seine dunkle Robe wehte schnalzend um ihn herum. Er hatte etwas in der Hand. Eine lange Metallstange mit einem Haken am Ende.
»Was ...«, murmelte Jezal.
Plötzlich begann der Haken zu glühen, brennend weiß, hell wie die Sonne an einem Sommertag. Hundert Haken brannten wie Sterne, wurden von den Spiegeln an den Wänden zurückgeworfen, wieder und wieder und wieder bis in große Weite. Jezal keuchte, kniff die Augen zusammen und hielt sich eine Hand vor das Gesicht. Die lange Spur, die diese leuchtende Spitze hinterlassen hatte, brannte noch immer in seinen Augen.
Er blinzelte, starrte, senkte den Arm. Die Zwillinge standen da, der Kronrichter neben ihnen, so wie sie zuvor auch gestanden hatten, still wie Statuen. Ranken aus weißem Rauch zischten aus den Öffnungen am Ende der seltsamen Waffe und ringelten sich um Marovias Arm. Für einen Augenblick bewegte sich nichts.
Dann sprang plötzlich ein Dutzend der großen Spiegel am entfernten Ende des Saales mitten entzwei, als habe man Papierstücke mit dem schärfsten Messer der Welt zerteilt. Ein paar der unteren und eine der oberen Hälften neigten sich langsam nach vorn und zersprangen. Helle Bruchstücke aus Glas flogen über den gefliesten Boden.
»Urgggh«, hauchte die Zwillingsschwester zur Linken. Jezal erkannte, dass Blut unter ihrer Rüstung herausfloss. Sie hob eine Hand in seine Richtung, und diese Hand löste sich von ihrem Arm und fiel auf die Fliesen. Blut quoll aus dem verletzten Stumpf. Sie stürzte nach links. Zumindest ihr Rumpf tat das, ihre Beine kippten in die andere Richtung. Nun schlug sie mit dem größten Teil ihres Körpers auf dem Boden auf, und ihr Kopf löste sich und rollte in einer schnell größer werdenden Blutlache über die Fliesen. Ihr Haar, das glatt auf Nackenhöhe abgeschnitten worden war, schwebte in einer goldenen Wolke auf das Blut herab.
Rüstung, Fleisch, Knochen, alles war ordentlich zerteilt, als habe man Käse mit einem Draht geschnitten. Die Zwillingsschwester zur Rechten runzelte die Stirn und machte einen wackligen Schritt auf Marovia zu. Ihre Knie gaben nach, und sie zerfiel, an der Taille in zwei Hälften geteilt, in Stücke. Die Beine kippten um und lagen still, und ein brauner Haufen Staub rann aus ihnen heraus. Die obere Hälfte zog sich mithilfe der Fingernägel weiter voran, hob den Kopf und fauchte.
Die Luft um den Kronrichter flimmerte, und der zerteilte Körper der Verzehrerin stand plötzlich in Flammen. Er zuckte eine Weile hin und her und stieß ein langes Quieken aus. Dann war er still, ein Haufen rauchender schwarzer Asche.
Marovia hob die seltsame Waffe und pfiff leise, als er lächelnd den Haken am Ende betrachtete, von dem noch ein paar Dampfkringel aufstiegen. »Kanedias. Der wusste, was eine Waffe ist. Der war wirklich ein Meisterschöpfer, was, Euer Majestät?«
»Wie bitte?«, murmelte Jezal völlig entgeistert.
Marovias Gesicht schmolz langsam, als er auf Jezal zukam. Ein anderes begann sich darunter abzuzeichnen. Nur seine Augen blieben gleich. Verschiedenfarbige Augen, die von Lachfältchen umgeben waren und Jezal anstrahlten, als sei er ein alter Freund.
Yoru Sulfur verbeugte sich. »Man hat doch nie seine Ruhe, oder, Euer Majestät? Nicht das kleinste bisschen Ruhe.«
Ein Krachen ertönte, und eine der Türen flog mit einem lauten Schlag auf. Jezal hob sein Schwert; das Herz schlug ihm bis zum Hals. Sulfur fuhr herum und hielt die Waffe des Schöpfers eng an seiner Seite. Ein Mann stolperte in den Saal. Ein großer Mann, dessen verzerrtes Gesicht mit Narben bedeckt war. Seine Brust hob und senkte sich heftig, und er trug ein großes Schwert in einer Hand, während er die andere gegen seine Rippen drückte.
Jezal blinzelte. Er konnte es kaum glauben. »Neunfinger-Logen. Wie, zur Hölle, bist du hierhergekommen?«
Der Nordmann starrte ihn einen Augenblick an. Dann lehnte er
sich gegen einen Spiegel neben der Tür und ließ sein Schwert auf
die Fliesen fallen. Langsam glitt er an der Wand hinunter und blieb
dort sitzen, den Kopf gegen das Glas gelehnt. »Lange Geschichte«,
sagte er.
»Hör uns an ...«
Der Wind war nun voller Gestalten. Es waren Hunderte. Sie drängten sich um den äußersten Kreis, und das helle Eisen war nebelfeucht und glänzte vor kalter Nässe.
»... es gibt Dinge, die wir dir sagen müssen, Ferro ...« »... Geheimnisse ...«
»Was können wir dir geben?«
»Wir wissen es ... alles.«
»Du musst uns nur hineinlassen ...«
So viele Stimmen. Sie hörte Aruf unter ihnen, ihren alten Lehrer. Sie hörte Susman, den Sklavenhalter. Sie hörte ihre Mutter und ihren Vater. Sie hörte Yulwei und Prinz Uthman. Hunderte von Stimmen. Tausende. Stimmen, die sie kannte und vergessen hatte. Stimmen der Toten und Stimmen der Lebenden. Rufe, Gemurmel, Schreie. Flüstern, direkt in ihr Ohr. Noch näher. Näher als ihre eigenen Gedanken.
»Du willst Rache?«
»Wir können dir Rache verschaffen.«
»Rache, wie du sie dir nie erträumt hast.«
»Alles, was du willst. Alles, was du brauchst.«
»Du musst uns nur hineinlassen ...«
»Diese Leere in dir?«
»Wir sind das, was dir fehlt!«
Die Metallringe waren nun weiß überfroren. Ferro kniete am Ende eines schwindelerregenden Tunnels, dessen Wände aus einer dahineilenden, brüllenden, wütenden Materie bestanden, voller Schatten, und sein Ende lag weit hinter dem dunklen Himmel. Das Lachen des Ersten der Magi hallte schwach in ihren Ohren. Die Luft summte vor Macht, verdreht, schimmernd, verschwommen.
»Du musst nichts tun.«
»Bayaz.«
»Er wird es tun.«
»Narr!«
»Lügner!«
»Lass uns herein ...«
»Er kann es nicht verstehen.«
»Er benutzt dich!«
»Aber nicht mehr lange.«
»Die Tore stehen unter Spannung.«
»Lass uns herein ...«
Falls Bayaz die Stimmen hörte, zeigte er es nicht. Ausgehend von seinen Füßen liefen Risse durch das bebende Pflaster, breiteten sich weiter aus, und Splitter flogen in wirbelnden Spiralen um ihn herum auf. Die Eisenringe begannen sich zu verschieben und aufzubäumen. Mit dem Knirschen gequälten Metalls drehten sie sich aus den brechenden Steinen, und die hellen Kanten glänzten.
»Die Siegel brechen.«
»Elf Siegel.«
»Und noch einmal elf Siegel rückwärts.«
»Die Tore öffnen sich.«
»Ja«, ertönten die Stimmen im Chor.
Die Schatten krochen näher an sie heran. Ferro atmete in kurzen, heftigen Stößen, ihre Zähne klapperten, ihre Glieder zitterten, und die Kälte lag direkt auf ihrem Herzen. Sie kniete an einem Abgrund, bodenlos, endlos, voller Schatten, voller Stimmen.
»Schon bald werden wir bei dir sein.«
»Schon bald.«
»Unsere Zeit ist gekommen.«
»Beide Seiten, einst getrennt, nun wieder vereint.« »So, wie sie sein sollten.«
»Bevor Euz sein Erstes Gebot sprach.«
»Lass uns herein ...«
Sie musste den Samen nur noch ein bisschen länger festhalten. Dann würden die Stimmen dafür sorgen, dass sie ihre Rache nehmen konnte. Bayaz war ein Lügner, das hatte sie von Anfang an gewusst. Sie schuldete ihm gar nichts. Ihre Augenlider flatterten, schlossen sich, ihr Mund stand offen. Das Tosen des Windes wurde schwächer, bis sie nur noch die Stimmen hören konnte.
Flüsternd, beruhigend, rechtschaffen.
»Wir werden die Welt einnehmen und in Ordnung bringen.«
»Zusammen.«
»Lass uns herein ...«
»Du wirst uns helfen.«
»Du wirst uns befreien.«
»Du kannst uns vertrauen.«
»Vertraue uns ...«
Vertrauen? Das war ein Wort, das nur Lügner gebrauchten. Ferro erinnerte sich an die Zerstörung von Aulcus. An die hohlen Ruinen, das verödete Land. Die Geschöpfe der Anderen Seite sind aus Lügen gemacht. Besser, sie behielt diese Leere in sich, als sie mit so etwas zu füllen. Sie klemmte sich die Zunge zwischen die Zähne und biss heftig darauf, bis sie spürte, dass sich ihr Mund mit salzigem Blut füllte. Dann holte sie Luft und zwang sich, die Augen zu öffnen.
»Vertraue uns ...«
»Lass uns herein!«
Sie sah die Kiste des Schöpfers, ihren bebenden, verschwommenen Umriss. Langsam beugte sie sich darüber und tastete sie mit ihren tauben Fingerspitzen ab, während die Luft um sie herum toste. Sie würde niemandes Sklavin sein. Weder die von Bayaz noch die der Geheimnisverräter. Sie würde ihren eigenen Weg finden. Einen dunklen vielleicht, aber ihren eigenen.
Der Deckel schwang auf.
»Nein!« Die Stimmen zischten alle zusammen in ihr Ohr.
»Nein!«
Ferro biss die blutigen Zähne zusammen und knurrte vor Wut, als sie ihre Finger zwang, sich zu lockern. Die Welt war eine schmerzende, schreiende, formlose Dunkelheit. Allmählich, ganz allmählich öffnete sich ihre tote Hand. Hier war ihre Rache. Rache an den Lügnern, den Dieben und an jenen, die andere ausnutzten. Die Erde bebte, erzitterte, brach, so dünn und zerbrechlich wie eine Glasscheibe, unter der eine große Leere lauerte. Sie drehte ihre zitternde Hand um, und der Samen fiel heraus.
Wie aus einem Mund schleuderten die Stimmen ihren harten Befehl heraus. »Nein!«
Blind packte sie den Deckel. »Fickt euch doch selbst!«, zischte sie.
Und mit letzter Kraft drückte sie die Kiste zu.