DER HELD VON MORGEN
Die Hufe von Jezals grauem Schlachtross klapperten gehorsam über die schwarze Erde. Es war ein wunderschönes Tier, genau von der Art, wie er es schon immer einmal hatte reiten wollen. Pferdefleisch im Wert von siebentausend Mark, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Ein Ross, das jedem Mann in seinem Sattel, so unbedeutend er auch sein mochte, das Ansehen eines Königs verlieh. Jezals schimmernde Rüstung war aus bestem styrischem Stahl gefertigt und mit Gold belegt, und er trug einen Mantel aus feinster Seide aus Suljuk, mit Hermelinpelz abgesetzt. Der Griff seines Schwertes war mit Diamanten besetzt, die funkelten, sobald die Sonne durch die Wolken über ihren Köpfen brach. Auf seine Krone hatte er heute verzichtet und sich nur einen schlichten goldenen Reif aufgesetzt, dessen Gewicht beträchtlich weniger hart auf den wunden Stellen lastete, die sich an seinen Schläfen gebildet hatten.
Die äußeren Zeichen der Königswürde. Schon als Kind hatte Jezal davon geträumt, dass andere ihm gehorchten und dass er angehimmelt und vergöttert wurde. Jetzt wurde ihm beinahe schlecht, wenn er daran dachte. Obwohl das vielleicht auch nur daran lag, dass er in der Nacht zuvor kaum geschlafen und beim Frühstück so gut wie nichts zu sich genommen hatte.
Lord Marschall Varuz ritt an Jezals rechter Seite und sah so aus, als ob ihn sein Alter endlich eingeholt hätte. Er wirkte eingeschrumpft in seiner Uniform, wie er gebeugt und mit hängenden Schultern auf dem Pferd saß. Seine Bewegungen hatten ihre stählerne Präzision eingebüßt, und seine Augen blickten längst nicht mehr so eisig konzentriert wie früher. Stattdessen vermittelte er jetzt ein ganz klein wenig das Gefühl, als wüsste er nicht mehr, was zu tun sei.
»In Bogen wird immer noch gekämpft, Euer Majestät«, erklärte er, »aber wir halten den Bezirk nur noch gerade eben. Die Gurkhisen kontrollieren die Drei Höfe. Sie haben ihre Katapulte bis an den Kanal herangeschleppt und letzte Nacht erstmals Brandsätze bis weit ins Herz der Stadt geschleudert. Bis zum Mittenweg und noch weiter. Die Feuer brannten bis zum Morgen. In manchen Gegenden brennt es immer noch. Der Schaden ist ... beträchtlich.«
Eine heftige Untertreibung. Große Bereiche der Stadt waren vom Feuer verwüstet. Ganze Straßenzüge, in denen, wie Jezal sich erinnerte, großartige Häuser gestanden hatten, belebte Tavernen und muntere Werkstätten, die jetzt nur noch schwarze Ruinen waren. Sie anzusehen war so erschreckend, als ob eine frühere Geliebte ihren Mund öffnete, um zwei Reihen verfaulter Zähne zu zeigen. Der Gestank von Rauch und Brand und Tod kratzte beständig in Jezals Kehle und hatte seine Stimme zu einem feierlichen Flüstern werden lassen.
In den noch immer schwelenden Ruinen eines Hauses suchte ein Mann herum, von Kopf bis Fuß mit Asche und Schmutz besudelt. Er hob den Kopf und starrte Jezal und seine Wachen an, als sie an ihm vorbeiritten.
»Wo ist mein Sohn?«, kreischte er plötzlich. »Wo ist mein Sohn?«
Jezal sah beflissen zur Seite und gab seinem Pferd ganz leicht die Sporen. Er wollte seinem Gewissen keine weiteren Waffen in die Hand geben, um ihn damit zu martern. Es war schon jetzt ausgesprochen gut gerüstet.
»Der Arnaultwall hält jedoch immer noch stand, Euer Majestät.« Varuz sprach entschieden lauter, als nötig gewesen wäre, und versuchte so vergeblich, die herzzerreißenden Schreie zu übertönen, die hinter ihnen über die Trümmer hallten. »Kein einziger gurkhisischer Soldat hat bisher auch nur einen Fuß in den mittleren Bezirk unserer Stadt gesetzt. Kein einziger.«
Jezal fragte sich, wie lange sie sich noch damit würden brüsten können. »Haben wir inzwischen Nachricht von Lord Marschall West erhalten?«, fragte er zum zweiten Mal in dieser Stunde und zum zehnten Mal an diesem Tag.
Varuz gab Jezal dieselbe Antwort, die er sicherlich noch zehn weitere Male an diesem Tag erhalten würde, bevor er in der Nacht wieder in unruhigen Schlaf fiel. »Es tut mir leid, Euer Majestät, aber wir sind beinahe völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Nachrichten durchdringen die gurkhisische Blockade nur sehr selten. Aber es hat vor der Küste Anglands heftige Stürme gegeben. Wir müssen der Möglichkeit ins Auge sehen, dass die Truppen mit Verspätung eintreffen werden.«
»So ein Pech«, brummte Bremer dan Gorst auf der anderen Seite. Seine schmalen Augen glitten unaufhörlich über die Ruinen und achteten auf jedes Anzeichen einer Bedrohung. Jezal kaute angespannt am salzigen Rest seines Daumennagels. An die letzten guten Nachrichten konnte er sich kaum noch erinnern. Stürme. Verspätungen. Selbst die Elemente schienen sich gegen sie verschworen zu haben.
Varuz trug wenig dazu bei, die Stimmung wieder zu heben. »Und jetzt ist auch noch eine Seuche im Agriont ausgebrochen. Eine schnell dahinraffende und gnadenlose Krankheit. Eine große Gruppe jener Bürger, für die Sie die Tore öffnen ließen, wurde ganz plötzlich davon befallen. Sie hat sich schon bis in den Palast ausgebreitet. Zwei Ritter der Wacht sind daran gestorben. Den einen Tag standen sie noch Wache am Tor wie üblich. Am nächsten lagen sie schon im Sarg. Ihre Körper verdorrten, ihre Zähne verfaulten, ihnen fielen die Haare aus. Die Leichen wurden verbrannt, aber es werden immer mehr Fälle bekannt. Die Ärzte haben so etwas noch nie zuvor gesehen und wissen nicht, wie sie der Krankheit begegnen können. Manche sagen, es sei ein Fluch der Gurkhisen.«
Jezal schluckte. Diese herrliche Stadt war über die Jahrhunderte von so vielen Händen erbaut worden, und nun reichten offenbar ein paar Wochen unter seiner klugen Herrschaft, um sie in eine verkohlte Ruine zu verwandeln. Seine stolzen Bürger waren größtenteils zu stinkenden Bettlern geworden, zu schreienden Verwundeten, zu klagenden Trauernden. Jedenfalls die, die nicht schon tot waren. Er war der lächerlichste Versuch eines Königs, den die ganze Union hätte hervorbringen können. Es gelang ihm nicht einmal, in seine eigene bittere Illusion einer Ehe einen Hauch von Glück zu bringen, von der Nation ganz zu schweigen. Sein Ruf gründete sich auf lauter Lügen, die zu berichtigen er sich nicht getraut hatte. Er war eine machtlose, rückgratlose, hilflose Null.
»Wo ungefähr sind wir jetzt?«, murmelte er, als sie einen großen Platz erreichten, über den der Wind hinwegfegte.
»Na, das hier sind die Vier Ecken, Euer Majestät.«
»Was? Das kann doch nicht ...« Er verstummte, und es traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als er den Ort tatsächlich wiedererkannte.
Es standen nur noch zwei Grundmauern des Gebäudes, das einmal das Gildehaus der Tuchhändler gewesen war; Fenster und Türöffnungen glotzten mit den reglosen Gesichtszügen von Leichen, die im Augenblick ihres Todes erstarrt waren, ins Leere. Das Pflaster, auf dem Hunderte bunter Stände ihre Waren feilgeboten hatten, war gesprungen und mit klebrigem Ruß bedeckt. Die Gärten hatten sich in blattlose Flecken kahler Erde und verbrannten Dorngestrüpps verwandelt. Die Luft hätte von den Rufen der Händler, dem Klatsch der Dienstboten, dem Gelächter der Kinder erfüllt sein sollen. Stattdessen herrschte eine tödliche Stille, abgesehen vom kalten Wind, der um die zerstörten Häuser pfiff und schwarzen Gries in Wellen durch das Herz der Stadt trieb.
Jezal zügelte sein Pferd, und seine Eskorte, zu der etwa zwanzig Ritter der Wacht, fünf Heroldsritter, ein Dutzend Männer aus Varuz’ Stab und ein nervöser Page zählten, hielten rasselnd um ihn herum an. Gorst sah mit gerunzelter Stirn zum Himmel. »Euer Majestät, wir sollten weiterreiten. Wir sind hier nicht sicher. Wir wissen nicht, wann die Gurkhisen wieder mit dem Beschuss beginnen werden.«
Jezal überhörte seinen Einwand, schwang sich aus dem Sattel und schritt durch die Trümmer. Es war kaum zu glauben, dass dies hier derselbe Ort war, an dem er früher Wein gekauft, nach kleinen Geschenken gestöbert, sich eine neue Uniform hatte anpassen lassen. Keine hundert Schritt entfernt, auf der anderen Seite einer Reihe rauchender Ruinen, stand die Statue von Harod dem Großen, unter der er sich im Schutze der Dunkelheit mit Ardee getroffen hatte. Es kam ihm vor, als sei das inzwischen hundert Jahre her.
Nun hatte sich dort an der Ecke eines niedergetrampelten Gartens eine bemitleidenswerte Gruppe von Menschen versammelt. Hauptsächlich Frauen und Kinder, aber auch einige alte Männer. Dreckig und am Rande der Verzweiflung, einige an Krücken oder mit blutigen Verbänden, hielten sie wenige gerettete Besitztümer umklammert. Es waren jene, die in den Bränden der letzten Nächte, der letzten Nacht, ihr Zuhause verloren hatten. Jezal blieb beinahe das Herz stehen. Ardee war darunter, sie saß in einem dünnen Kleid auf einem Stein, zitterte und starrte auf den Boden, und das dunkle Haar verdeckte eine Hälfte ihres Gesichts. Ruckartig ging er auf sie zu und lächelte zum ersten Mal seit Wochen. Jedenfalls kam es ihm so vor.
»Ardee.« Sie wandte sich um, die Augen weit aufgerissen, und Jezal erstarrte. Ein ganz anderes Mädchen, jünger und längst nicht so hübsch. Sie sah blinzelnd zu ihm auf und wiegte sich langsam vor und zurück. Seine Hände zuckten unwillkürlich, und er murmelte etwas Unzusammenhängendes. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Er konnte sich nun unmöglich einfach abwenden. »Bitte, nehmen Sie das hier.« Er löste die Schnallen seines karmesinroten Mantels und hielt ihn ihr hin.
Sie sagte nichts, als sie ihm das Kleidungsstück abnahm, sondern starrte ihn nur weiter an. Eine alberne, sinnlose Geste, und so heuchlerisch, dass sie schon beinahe beleidigend war. Aber die obdachlosen Bürger schienen anders zu denken.
»Ein Hoch auf König Jezal!«, rief jemand, und lautstarke Hochrufe folgten.
Ein junger Bursche, der an Krücken ging, starrte ihn mit verzweifelt staunenden Augen an. Ein Soldat trug einen blutigen Verband über einem Auge, während das andere vor Stolz feucht schimmerte. Eine Mutter hielt einen Säugling an sich gedrückt, den sie in etwas gewickelt hatte, was bedenklich nach einem Streifen von einer Unionsflagge aussah. Es schien, als sei dieser Augenblick sorgsam inszeniert worden, um eine größtmögliche gefühlsmäßige Wirkung hervorzurufen. Als hätte ein Maler sich die Kulisse zusammengestellt, um ein grelles und markiges Bild der Schrecken des Krieges zu zeichnen.
»König Jezal!«, ertönte der nächste Ruf, gefolgt von einem schwachen »Hurra!«
Ihre Bewunderung war wie Gift für ihn. So fühlte er die Schwere der Verantwortung nur noch heftiger. Er wandte sich ab, da er sich nicht mehr in der Lage fühlte, seine verzerrte Abart eines Lächelns weiter aufrechtzuerhalten.
»Was habe ich getan?«, flüsterte er und zupfte mit der einen Hand unaufhörlich an den Fingern der anderen. »Was habe ich getan?« Mühevoll stieg er wieder in den Sattel, und die Schuld fraß sich in seine Eingeweide. »Bringen Sie mich näher zum Arnaultwall.«
»Aber Majestät, ich glaube nicht, dass ...«
»Sie haben gehört, was ich gesagt habe! Näher an die Kämpfe. Ich will sie sehen.«
Varuz runzelte die Stirn. »Nun gut.« Er wendete sein Pferd und führte Jezal und seine Leibwache in Richtung des Bezirks Bogen, einen Weg entlang, der gleichzeitig vertraut und doch schrecklich verändert war. Ein paar nervöse Minuten später zügelte der Marschall sein Ross und deutete eine verlassene Straße entlang, die nach Westen führte. Dann sagte er leise, als fürchte er, dass der Feind ihn hören könnte: »Der Arnaultwall ist keine hundert Schritt mehr entfernt, und die Gurkhisen wimmeln auf der anderen Seite herum. Wir sollten wirklich umkehren ...«
Jezal fühlte, wie sein Sattel eine leichte Erschütterung übertrug, sein Pferd bäumte sich auf, und Staub rieselte von den Dächern der Häuser auf einer Straßenseite.
Er wollte gerade den Mund öffnen und fragen, was geschehen war, als ein donnernder Lärm die Luft zerriss. Ein dröhnender, schrecklicher, durchdringender Krach, der Jezals Ohren summen ließ. Männer holten erschrocken Luft und glotzten. Die Pferde schlugen aus und buckelten, die Augen vor Angst verdreht. Varuz’ Ross stieg und kippte den alten Soldaten ohne viel Federlesens aus dem Sattel.
Jezal achtete nicht auf ihn, er war viel zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Tier in die Richtung zu treiben, aus der die Explosion gekommen war. Kleine Steine regneten allmählich zu Boden, klapperten auf die Dächer und schlugen auf die Straße wie Hagelkörner. Eine große Wolke aus braunem Staub stieg im Westen in den Himmel.
»Euer Majestät!«, rief Gorst beschwörend aus. »Wir sollten umkehren!« Aber Jezal hörte nicht auf ihn.
Er ritt auf einen breiten Platz, auf dem sich eine Menge Schutt über die geborstenen Pflastersteine verteilte, darunter Stücke, die schon fast die Größe eines kleinen Schuppens hatten. Als sich der erstickende Staub allmählich legte und einer unheimlichen Stille wich, wurde Jezal klar, dass er den Platz kannte. Nur zu gut. Auf der Nordseite lag eine Taverne, die er häufig besucht hatte, aber es hatte sich etwas verändert – es war alles viel offener als früher ... Ihm klappte der Kiefer auf. Der Platz war zum Westen hin von einem langen Abschnitt des Arnaultwalls begrenzt worden. Dort gähnte nur noch ein großer Krater.
Die Gurkhisen mussten eine Mine eingegraben haben, die mit ihrem verdammten Sprengpulver gefüllt war. Ausgerechnet in diesem Augenblick beschloss die Sonne, durch die Wolken zu brechen, und Jezal konnte nun durch die klaffende Lücke bis in den verwüsteten Stadtbezirk Bogen blicken. Dort auf der anderen Seite sammelte sich eine beträchtliche Zahl gurkhisischer Soldaten und schickte sich an, mit schimmernden Rüstungen und geschwenkten Speeren den Schutthang hinabzuklettern, den die Sprengung hinterlassen hatte.
Der Erste hatte den Krater bereits durchmessen und den zerstörten Platz erreicht. Ein paar halb bewusstlose Verteidiger mühten sich hustend und spuckend durch den Staub. Andere bewegten sich überhaupt nicht mehr. Es war niemand da, der die Gurkhisen zurücktreiben konnte, so weit Jezal sehen konnte. Niemand außer ihm. Er fragte sich, was Harod der Große in seiner Lage wohl getan hätte.
Die Antwort fiel ihm nicht weiter schwer.
Mut kann man an den verschiedensten Orten finden und aus den verschiedensten Quellen schöpfen, und aus dem Feigling von gestern kann der Held von morgen werden, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Der Schwindel der Tapferkeit, der Jezal in diesem Augenblick packte, bestand zum großen Teil aus Schuld, Angst und der Scham über diese Angst, speiste sich aus dem Missmut darüber, dass nichts so gekommen war, wie er es sich erhofft hatte, und aus der plötzlichen, vagen Erkenntnis, dass sein Tod eine Menge verstörender Probleme lösen würde, für die er keine Lösung sah. Edle Motive spielten jedenfalls keine große Rolle. Aber niemand fragt den Bäcker, was er in seine Pasteten tut, solange sie gut schmecken.
Er zog das Schwert und hielt es ins Sonnenlicht. »Ritter der Wacht!«, brüllte er. »Zu mir!«
Gorst unternahm den verzweifelten Versuch, seine Zügel zu packen. »Euer Majestät! Sie können sich selbst nicht so in ...«
Jezal gab seinem Pferd die Sporen. Es sprang mit unerwartetem Schwung nach vorn, und Jezal wurde der Kopf schmerzhaft zurückgeschleudert, so dass er beinahe die Zügel verloren hätte. Er schwankte im Sattel hin und her, die Hufe dröhnten, und das schmutzige Pflaster flog unter ihm dahin. Vage bekam er mit, dass ihm seine Eskorte mit einigem Abstand folgte, aber seine Aufmerksamkeit war mehr auf die immer größer werdende Zahl gurkhisischer Soldaten gerichtet, die vor ihm auftauchten.
Sein Pferd trug ihn in schwindelerregender Geschwindigkeit voran und preschte direkt auf einen Mann in vorderster Reihe zu, auf einen Bannerträger, der einen langen Stab trug, an dessen Spitze goldene Symbole schimmerten. Sein Pech, dachte Jezal, eine so hervorstechende Aufgabe erhalten zu haben. Die Augen des Mannes weiteten sich, als er diesen Koloss von einem Pferd sah, der auf ihn zusprengte. Die Spitze von Jezals Klinge stach mit der ganzen Wucht des Aufpralls in seine Schulter, schlitzte ihn auf und schleuderte ihn auf den Rücken. Weitere Männer gerieten unter die Hufe seines Schlachtrosses, als es ihn in ihre Mitte trug; wie viele, das konnte er nicht sagen.
Dann herrschte das blanke Chaos. Er thronte hoch über einem Meer verzerrter dunkler Gesichter, schimmernder Rüstungen und zustoßender Speere. Holz knackte, Metall rasselte, und Männer schrien Worte, die er nicht verstand. Er schlug um sich, erst auf einer, dann auf der anderen Seite, und brüllte wilde Flüche. Eine Speerspitze schrammte laut kreischend über sein gepanzertes Bein. Er führte einen Stoß nach einer Hand, die nach seinen Zügeln fasste, und ein paar Finger fielen ab. Etwas prallte in seine Seite und warf ihn beinahe aus dem Sattel. Sein Schwert drückte mit hohlem Aufprall einen Helm ein und schleuderte den Mann, der ihn trug, in das Gewühl kämpfender Körper.
Plötzlich stieß Jezals Pferd einen hohen Ton aus und bäumte sich zuckend auf. Er fühlte eine schreckliche Welle der Angst, als er aus dem Sattel flog und sich die Welt um ihn drehte. Mit einem harten Schlag prallte er auf den Boden, bekam Staub in die Augen, in den Mund, hustete und zappelte. Schließlich konnte er sich auf die Knie rollen. Hufe trommelten auf den aufgerissenen Boden. Stiefel rutschten und trampelten. Mit der Hand tastete er in seinem Haar nach dem goldenen Reif, aber er musste irgendwann abgefallen sein. Würde nun überhaupt noch jemand wissen, dass er König war? War er überhaupt noch König? Sein Kopf war ganz klebrig. Ein Helm wäre eine gute Idee gewesen, aber diese Überlegung kam nun ein bisschen spät. Er griff kraftlos in den Schutt, drehte einen flachen Stein um. Inzwischen hatte er vergessen, was er suchte. Dann kam er mühsam auf die Beine, aber sein Fuß blieb an irgendetwas hängen und riss ihn mit schmerzhaftem Ruck zur Seite, so dass er wieder stürzte. Halb erwartete er, dass ihm jemand den Schädel einschlagen würde, aber dann merkte er, dass er sich nur in seinem Steigbügel verfangen hatte, der noch immer am herrlichen Körper seines toten Pferdes hing. Hastig befreite er seinen Fuß, rang nach Luft, und machte ein paar trunkene Schritte unter dem Gewicht seiner Rüstung, während das Schwert schlaff in seiner Hand hing.
Jemand hob einen Krummsäbel, und Jezal rammte ihm die Klinge in die Brust. Der Gurkhise spuckte Jezal Blut ins Gesicht, kippte um und riss ihm dabei die Waffe aus der Hand. Mit dumpfem Klappern krachte etwas gegen Jezals Brustpanzer und drängte ihn zur Seite gegen einen Gegner, der einen Speer trug, ihn dann aber fallen ließ. Sie rangen miteinander, schubsten sich sinnlos hin und her. Jezal wurde allmählich schrecklich, schrecklich müde. Sein Kopf tat sehr weh. Schon allein das Atemholen war unglaublich anstrengend. Der Einfall mit dem heldenhaften Angriff war wohl doch nicht so gut gewesen. Er hätte sich am liebsten hingelegt.
Der gurkhisische Soldat befreite seinen Arm und hob ihn, ein Messer in der Faust. Doch bevor er zustoßen konnte, wurde sie mit einem heftigen Schlag vom Handgelenk getrennt, und ein langer Schwall Blut folgte ihr. Der Mann glitt zu Boden, starrte den Stumpf seiner Hand an und heulte auf. »Der König!«, piepste Gorsts Kleinjungenstimme. »Der König!«
Sein langes Eisen beschrieb einen großen Bogen und schlug dem schreienden Gurkhisen den Kopf ab. Ein anderer Gegner sprang mit geschwungenem Krummsäbel herbei. Noch bevor er einen Schritt weit gekommen war, hatte ihm Gorsts schwere Klinge den Kopf gespalten. Eine Axt schlug gegen seine von der Rüstung geschützte Schulter, und er schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege, bevor er den Mann, der die Waffe geführt hatte, mit einem Schlag aufschlitzte, der das Blut herumspritzen ließ. Ein Vierter bekam das kurze Eisen in den Hals, und er stolperte mit vorquellenden Augen voran, eine blutige Hand an die Kehle gelegt.
Jezal, der wie betäubt vor und zurück schwankte, taten die Gurkhisen beinahe leid. Aus der Entfernung hatte ihre schiere Zahl einschüchternd gewirkt, aber aus der Nähe war deutlich, dass es sich lediglich um schlecht ausgebildete Kräfte handelte, ein Himmelfahrtskommando, das man in diesen Krater geschickt hatte. Sie waren ausgemergelt, dreckig, fürchterlich schlecht organisiert, nur leicht bewaffnet und kaum gerüstet. Viele von ihnen, das merkte er jetzt, sahen äußerst ängstlich aus. Gorst schlug sich ungerührt eine Schneise zwischen ihnen frei, wie ein Bulle, der durch eine Schafherde prescht, und stieß ein wildes Brüllen aus, während seine Eisen mit ekelerregend fleischigem Schmatzen tiefe Wunden rissen. Andere Bewaffnete drängten ihm nach, schoben die Angreifer mit den Schilden beiseite, schlugen mit ihren hellen Schwertern zu und brachen sich blutig zwischen den Gurkhisen Bahn.
Gorsts Hand glitt unter Jezals Achsel, dann zerrte er seinen König zurück; seine Stiefel gruben sich tief in den Schutt. Jezal war sich undeutlich bewusst, dass er sein Schwert irgendwo fallen gelassen hatte, aber es schien ihm idiotisch, jetzt danach zu suchen. Irgendein Bettler würde es zweifelsohne als Geschenk des Himmels betrachten, wenn er später die Leichen fledderte. Jezal sah einen Heroldsritter, der noch auf dem Rücken seines Pferdes saß, ein Umriss mit geflügeltem Helm, der seine langstielige Axt schwang.
Dann wurde er halb aus dem Gedränge geschleppt, halb lief er selbst. Einige Leute der Verteidigungstruppe hatten sich wieder gesammelt oder waren inzwischen von anderen Abschnitten des Walls zusammengerufen worden. Männer mit Stahlhelmen umkreisten den Krater, knieten nieder und schossen mit Flachbogen in die wogende Masse der Gurkhisen, die in Dreck und Schutt herumkrebsten. Andere zerrten einen Wagen heran und kippten ihn auf die Seite, damit er ihnen Deckung bot. Ein gurkhisischer Soldat schluchzte auf, als er aufgeschlitzt wurde, über die zerklüftete Kante des Kraters fiel und wieder in den Schlamm stürzte. Noch mehr Flachbogen der Union erschienen nun am Rand des Platzes, und noch mehr Speere. Die Leute schleppten Fässer, Mauerwerk und Holzbohlen heran, errichten daraus eine behelfsmäßige Barrikade rund um die Lücke, die in den Arnaultwall gerissen worden war, und besetzten sie mit Bewaffneten.
Mit Bolzen und Stücken herabgefallenen Mauerwerks gespickt, kam der Vormarsch der Gurkhisen ins Stocken, und dann zogen sie sich zurück, kletterten über den Schutt auf ihrer Kraterseite in Sicherheit und ließen die Leichen in dem Sprengloch zurück.
»Zum Agriont, Euer Majestät«, sagte Gorst. »Sofort.« Jezal
leistete keinen Widerstand. Für den heutigen Tag hatte er genug
gekämpft.
Auf dem Marschallsplatz waren seltsame Dinge im Gange. Arbeiter machten sich mit Hacken und Meißeln an den Pflastersteinen zu schaffen und hoben hier und dort, scheinbar ganz zufällig, flache Gräben aus. Schmiede schwitzten in eilends aufgebauten Feldschmieden, gossen Eisen in Formen, vom Schein des geschmolzenen Metalls erhellt. Der Lärm der Hämmer und der zertrümmerten Steine genügte, damit Jezals Zähne schmerzten, dennoch gelang es dem Ersten der Magi, mit seiner Stimme den Krach noch zu übertönen.
»Nein! Einen Kreis, Dummkopf, von hier bis dort!«
»Ich muss in die Heereshallen zurück, Euer Majestät«, sagte Varuz. »Der Arnaultwall ist durchbrochen. Es wird nicht lange dauern, bis die Gurkhisen erneut durch die Bresche zu drängen versuchen. Sie wären schon bis zum Mittenweg, wenn Sie sich ihnen nicht in den Weg gestellt hätten, was? Allmählich begreife ich, wie Sie sich im Westen Ihren Ruf erworben haben! Ein so edler Vorstoß, wie ich lange keinen sah!«
»Hm.« Jezal beobachtete, wie die Toten weggetragen wurden. Drei Ritter der Wacht und ein Page, der höchstens zwölf gewesen sein konnte und dem der Kopf nur noch an einem Stück Knorpel hing. Drei Männer und ein Kind, die er in den Tod geführt hatte. Darin waren die Wunden noch nicht eingeschlossen, die der Rest seiner treuen Leibwache seinetwegen abbekommen hatte. Ein edler Vorstoß, in der Tat.
»Warten Sie hier«, herrschte er Gorst an, dann drängte er sich durch die schwitzenden Arbeiter zum Ersten der Magi vor. Ferro saß im Schneidersitz auf einer Reihe von Fässern; ihre Hände hingen locker herab, und auf ihrem Gesicht war dieselbe allumfassende Verachtung zu lesen, die sie ihm gegenüber stets gezeigt hatte. Es war fast ein wenig beruhigend, dass sich manche Dinge niemals änderten. Bayaz’ Blick war starr auf die Seiten eines großen schwarzen Buches gerichtet, das offensichtlich schon sehr alt war; sein lederner Einband war gesprungen und eingerissen. Er sah ausgemergelt und bleich aus, alt und verdorrt. Eine Seite seines Gesichts war mit inzwischen verschorften Kratzern bedeckt.
»Was ist Ihnen denn zugestoßen?«, fragte Jezal.
Bayaz runzelte die Stirn, und unter einem seiner dunkel umränderten Augen zuckte ein Muskel. »Dasselbe könnte ich wohl Sie fragen.«
Jezal bemerkte, dass sich der Magus nicht einmal die Mühe gemacht hatte, »Euer Majestät« hinzuzusetzen. Er tastete nach dem blutigen Verband um seinen Kopf. »Ich habe einen Ausfall angeführt.«
»Einen was?«
»Die Gurkhisen haben einen Teil des Arnaultwalls durchbrochen, während ich gerade durch die Stadt patrouillierte. Es war niemand da, der sie hätte zurückschlagen können, und daher ... habe ich es selbst getan.« Beinahe überraschte es ihn, als er sich diese Worte sagen hörte. Im Grunde war er alles andere als stolz auf diese Tatsache. Auch hatte er wenig mehr getan, als zu reiten, vom Pferd zu fallen und sich den Kopf zu stoßen. Bremer dan Gorst und sein eigenes totes Pferd hatten den Großteil des Kampfes geführt, noch dazu gegen eine höchst geringe Gegenwehr. Aber er ging davon aus, dass er zur Abwechslung einmal das Richtige getan hatte, wenn es so etwas überhaupt gab.
Bayaz war jedoch anderer Ansicht. »Hat sich das kleine bisschen Hirn, das Ihnen das Schicksal zugeteilt hat, nun vollends in Scheiße verwandelt?«
»Hat sich ...« Jezal blinzelte, als die Bedeutung von Bayaz’ Worten allmählich in sein Bewusstsein drang. »Wie können Sie es wagen, Sie alter, aufdringlicher Wichser? Sie reden mit dem König!« Das war es, was er eigentlich hatte sagen wollen, aber sein Kopf dröhnte, und irgendwas in dem zuckenden, zerstörten Gesicht des alten Magus hinderte ihn daran, diese Worte auch tatsächlich zu äußern. Stattdessen stellte er fest, dass er in geradezu entschuldigendem Ton murmelte: »Aber ... ich verstehe nicht. Ich dachte ... ist es nicht das, was Harod der Große getan hätte?«
»Harod?« Bayaz blickte Jezal verächtlich ins Gesicht. »Harod war ein unglaublicher Feigling, und davon abgesehen auch ein kompletter Schwachkopf! Dieser Idiot hätte sich ohne meine Hilfe kaum selbst anziehen können!«
»Aber ...«
»Es ist leicht, Männer zu finden, die einen Ausfall führen können.« Der Magus sprach jedes Wort mit übertriebener Betonung, als ob er sich an jemanden wandte, der geistig ein wenig zurückgeblieben war. »Wesentlich schwerer ist es jedoch, Männer zu finden, die ein Volk führen können. Ich beabsichtige nicht, die Mühe, die ich mir mit Ihnen gemacht habe, für nichts verschwendet zu sehen. Das nächste Mal, wenn Sie das Bedürfnis spüren, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, sollten Sie sich vielleicht besser auf der Latrine einschließen. Die Leute respektieren einen Mann, der im Ruf steht, ein Kämpfer zu sein, und Sie hatten bisher das Glück, in diesen Ruf geraten zu sein. Einen Leichnam respektieren die Leute jedoch nicht. – Da doch nicht hin!«, brüllte Bayaz und humpelte an Jezal vorbei, während er mit dem Arm zornig zu einem der Schmiede herüberwinkte. Der arme Mann erstarrte wie ein verängstigtes Kaninchen, und glühende Funken sprühten aus seinem Tiegel. »Ich habe es Ihnen doch gesagt, Sie Narr! Sie müssen der Darstellung genau folgen! Ganz so, wie ich es gezeichnet habe! Ein Fehler könnte schlimmer als tödlich sein!«
Jezal sah ihm starren Blickes nach, und Zorn, Schuld und schlichte Erschöpfung kämpften darum, die Oberhand über seinen Körper zu erhalten. Die Erschöpfung siegte. Er schlurfte zu den Fässern und ließ sich neben Ferro sinken.
»Na, Euer Scheiß-Majestät«, sagte sie.
Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Sie erweisen mir mit Ihrer freundlichen Aufmerksamkeit zu viel der Ehre.«
»Bayaz ist nicht glücklich, was?«
»Sieht nicht so aus.«
»Tja. Wann ist der alte Drecksack schon mal über irgendwas glücklich?«
Jezal brummte zustimmend. Ihm wurde bewusst, dass er seit seiner Krönung nicht mehr mit Ferro gesprochen hatte. Nun waren sie vorher natürlich nicht unbedingt die dicksten Freunde gewesen, aber er musste zugeben, dass er es ungeheuer erfrischend fand, dass sie ihm nicht die geringste Ehrerbietung entgegenbrachte. Es war beinahe, als sei er wieder für einen kurzen Augenblick der eitle, faule, nichtswürdige, glückliche Kerl, der er früher einmal gewesen war. Er sah mit gerunzelter Stirn zu Bayaz hinüber, der mit dem Finger auf eine Stelle in dem alten Buch deutete. »Was hat er denn überhaupt vor?«
»Er will die Welt retten, hat er mir gesagt.«
»Ah. Natürlich. Dafür ist er aber ein bisschen spät aufgestanden, was?«
Sie zuckte die Achseln. »Mit seinem Zeitplan hab ich nichts zu tun.«
»Wie will er das anstellen? Mit Hacken und Schmieden?«
Ferro betrachtete ihn. Er fand ihre Teufelsaugen noch genauso abstoßend wie immer. »Unter anderem.«
Jezal legte die Ellenbogen auf seine Knie, ließ das Kinn auf die Handflächen sinken und stieß einen langen Seufzer aus. Er war müde, so müde. »Ich habe irgendwas falsch gemacht«, murmelte er.
»Tja.« Ferros Augen glitten wieder weg. »Dafür hast du irgendwie Talent.«