DER TAG DER ABRECHNUNG
Lord Marschall West stand im Schatten einer verlassenen Scheune auf einer Anhöhe oberhalb der fruchtbaren Ebenen Midderlands. Mit der behandschuhten Rechten umklammerte er sein Fernrohr. Noch immer lag leichter Morgennebel auf den flachen, herbstlichen Feldern – ein Flickenteppich aus Braun, Grün, Gelb, von Bäumen und kargen Hecken unterbrochen. In der Ferne konnte West die äußersten Stadtmauern von Adua erspähen, eine strenge graue Linie, von der pickelartig einige Türmchen aufragten. Dahinter erhoben sich in hellerem Grau die unscharfen Umrisse von Gebäuden gegen den Himmel. Sie wurden überschattet vom hoch aufragenden, unheimlichen Haus des Schöpfers, finster und reuelos. Alles in allem war es eine düstere Heimkehr.
Es ging kein Wind, nicht das kleinste Lüftchen. Die kühle Luft war seltsam still. Als gäbe es keinen Krieg, als zögen keine sich bekämpfenden Truppen gegeneinander, als stünde keine blutige Schlacht bevor. West schwenkte das Fernrohr von einer Seite zur anderen, aber er sah kaum etwas von den Gurkhisen. Vielleicht war da so etwas wie eine Barrikade vor den Mauern, vielleicht die Umrisse winziger, stecknadelgroßer Speere, aber auf diese Entfernung und in diesem Licht konnte er gar nichts mit Sicherheit sagen.
»Sie müssen uns erwarten. Das kann gar nicht anders sein.«
»Vielleicht sind sie Langschläfer«, meinte Jalenhorm, wie immer das Beste hoffend.
Pike war wesentlich direkter. »Was macht es für einen Unterschied, ob sie uns erwarten oder nicht?«
»Keinen großen«, gab West zu. König Jezals Befehle waren präzise gewesen. Die Stadt war von gurkhisischen Truppen durchsetzt, und die Verteidigungsanlagen standen kurz vor dem kompletten Zusammenbruch. Es blieb keine Zeit, um sich eine schlaue Strategie auszudenken, sich vorsichtig anzuschleichen und nach Schwachstellen in den feindlichen Linien zu suchen. Aberwitzigerweise hätte sogar Prinz Ladisla in dieser speziellen Lage das Kommando führen können, ebenso gut wie jeder andere. Tatsächlich verlangten die Umstände nach einem heldenmutigen Angriff, der unweigerlich mit Tod oder Ruhm belohnt werden würde. Das Einzige, was West tatsächlich beeinflussen konnte, war der Zeitpunkt.
Brint brachte sein Pferd in der Nähe zum Stehen und wirbelte einen Schauer Kiesel in die kalte Luft. Er schwang sich aus dem Sattel und grüßte elegant. »General Kroys Reiterei hat am rechten Flügel Stellung bezogen, Herr Marschall, und ist bereit, auf Ihren Befehl hin anzugreifen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Hauptmann. Seine Fußtruppen?«
»Sind vielleicht zur Hälfte aufgestellt. Einige Kompanien ziehen erst noch über die Straßen heran.«
»Immer noch?«
»Es ist ziemlich schlammig dort, Herr Marschall.«
»Hm.« Heere hinterließen überall Schlamm auf ihren Wegen, so wie eine Schnecke Schleim. »Was ist mit Poulder?«
»Da sieht es ähnlich aus, soweit ich das beurteilen kann«, antwortete Brint. »Keine Nachrichten von ihm?«
Jalenhorm schüttelte den Kopf. »General Poulder war heute Morgen noch nicht sehr mitteilungsfreudig.«
West sah zur Stadt hinüber, zu jener entfernten grauen Linie hinter den Feldern. »Bald.« Er kaute an seiner Unterlippe, die schon wund war, so viele Sorgen, wie er hatte. »Sehr bald. Wir dürfen aber auch nicht halb vorbereitet losschlagen. Wenn ein paar mehr von den Fußtruppen zur Stelle sind ...«
Brint sah mit düsterem Gesicht nach Süden. »Herr Marschall, ist das etwa ...« West folgte seinem Finger mit den Augen. Dort am linken Flügel, wo Poulder seine Division zusammengezogen hatte, bewegte sich die Reiterei bereits schwungvoll vorwärts.
West starrte ungläubig dorthin, während die Pferde immer schneller wurden. »Was, zur ...«
Die zwei vollen Reiterregimenter fielen in majestätischen Galopp. Es waren Tausende, die nun über das offene Ackerland strömten, um die Bäume und die einzelnen Gehöfte herum, und hinter sich eine Wolke Staub aufwirbelten. West konnte nun sogar das Trommeln der Hufe hören, wie weit entfernten Donner, und spürte beinahe das Beben der Erde durch seine Stiefel. Die Sonne schimmerte auf erhobenen Schwertern und Lanzen, auf Schilden und Rüstungen. Banner flatterten und flogen im Wind. Es war ein Anblick kriegerischer Großartigkeit. Eine Szene wie aus einer dramatischen Erzählung mit muskelbepacktem Helden, in der bedeutungslose Worte wie Ehre und Rechtschaffenheit oft wiederholt wurden.
»Scheiße«, knurrte West durch die zusammengebissenen Zähne, während er das vertraute Pulsieren hinter seinen Augen spürte. General Poulder hatte während des ganzen Kriegszugs durch den Norden einen seiner berüchtigten berittenen Angriffe führen wollen. Dort hatten ihm das schwierige Gelände, das unfreundliche Wetter oder die ungünstigen Umstände einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt aber waren die Bedingungen ideal, und offenbar hatte er dieser Gelegenheit nicht widerstehen können.
Jalenhorm schüttelte langsam den Kopf. »Verdammter Poulder.«
West stieß ein entnervtes Schnauben aus, hob das Fernglas und hätte es beinahe zu Boden geschleudert. Erst im letzten Augenblick beherrschte er sich, zwang sich, tief Luft zu holen, und schob das Gerät zornig zusammen. Er konnte es sich heute nicht leisten, die Beherrschung zu verlieren. »Nun, das war’s dann wohl, oder? Blasen Sie zum Angriff auf ganzer Linie!«
»Zum Angriff blasen!«, brüllte Pike. »Zum Angriff!«
Laut tönte die Trompete durch die kühle Morgenluft; Wests Kopfschmerzen wurden davon nicht besser. Er schob einen schlammverkrusteten Stiefel in den Steigbügel und zog sich, wundgeritten, wie er nach dem nächtlichen Ritt war, widerstrebend in den Sattel. »Ich denke, wir müssen General Poulder wohl nun zu ruhmreichen Taten folgen. Wenn auch in einer etwas weniger ehrenvollen Entfernung. Irgendjemand muss dieses Durcheinander schließlich noch ein wenig sortieren.« Aus der Ferne erklangen nun weitere Trompetenstöße als Antwort, und rechter Hand setzte sich allmählich die Reiterei von General Kroy in Bewegung.
»Major Jalenhorm, befehlen Sie den Fußtruppen, sobald sie eintreffen, das sofortige Nachrücken.« Wests Kinn muskeln mahlten. »Wenn’s sein muss, Stück für Stück.« »Selbstverständlich, Herr Marschall.« Der massige Mann wandte bereits sein Pferd, um die Befehle weiterzuleiten. »Krieg«, brummte West. »Ein ehrbares Geschäft.« »Herr Marschall?«, fragte Pike.
»Ach, nichts.«
Kurz vor dem Ende der Treppe nahm Jezal zwei Stufen auf einmal. Gorst und ein Dutzend Ritter der Wacht eilten ihm rasselnd hinterher und gaben sich alle Mühe, sich ihm wie ein Schatten an die Fersen zu heften. Er rauschte majestätisch an der Wache vorbei ins helle Morgenlicht oben auf dem Kettenturm, hoch über der umkämpften Stadt. Lord Marschall Varuz stand bereits an der Brustwehr, von einem Grüppchen Stabsoffiziere umringt, die alle auf Adua hinabsahen. Der alte Soldat hielt sich starr aufgerichtet, die Hände hinter dem Rücken, wie er es auch vor langer Zeit während des Fechtunterrichts getan hatte. Jezal hatte damals allerdings nie erlebt, dass seine Hände zitterten. Das taten sie nun, und zwar heftig. Kronrichter Marovia stand neben Varuz, und die sanfte Brise rührte an seiner schwarzen Robe.
»Was gibt es Neues?«, verlangte Jezal zu wissen.
Der Lord Marschall fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Die Gurkhisen haben vor dem Morgengrauen einen Ausfall gewagt. Die Verteidiger auf dem Arnaultwall wurden überwältigt. Es dauerte nicht lange, und es gelang ihnen, Soldaten am Hafen an Land zu setzen. Sehr viele. Wir haben während des Rückzugs mit größtem Mut gekämpft, aber ... nun ...«
Mehr musste tatsächlich nicht gesagt werden. Als Jezal sich der Brustwehr näherte und das verwundete Adua in sein Sichtfeld rückte, konnte er die Gurkhisen erkennen, die über den Mittenweg strömten, während die winzigen goldenen Standarten der Legionen des Imperators über der Menschenmenge trieben wie Strandgut auf der Strömung. Als sähe er eine Ameise auf dem Teppich, um sich dann der Tatsache bewusst zu werden, dass Hunderte durch sein Wohnzimmer wimmelten, fielen Jezal nun auch andernorts Bewegungen auf, überall. Das Herz der Stadt war überrannt von gurkhisischen Soldaten.
»Die Kämpfe auf diesem Rückzug waren, nun ja, von gemischtem Erfolg«, schloss Varuz matt.
Unten stürmten einige Männer zwischen den Gebäuden hervor, die nahe dem Westtor des Agrionts lagen, rannten über das Kopfsteinpflaster des Platzes vor dem Burggraben und hielten auf die Brücke zu.
»Gurkhisen?«, kreischte jemand.
»Nein«, brummte der Lord Marschall. »Das sind unsere Leute.« Die Männer versuchten lediglich, dem Gemetzel zu entfliehen, das überall in der zerstörten Stadt vor sich ging. Jezal hatte dem Tod oft genug ins Gesicht gesehen, um zu erahnen, wie sie sich fühlten.
»Werden diese Männer in Sicherheit gebracht?«, fragte er mit leicht gebrochener Stimme.
»Ich fürchte ... die Tore wurden verschlossen, Euer Majestät.«
»Dann öffnen Sie sie!«
Varuz’ verschleierter Blick glitt nervös zu Marovia. »Das wäre ... nicht sehr weise.«
Ein Dutzend oder mehr hatten es nun bis zur Brücke geschafft, riefen laut und wedelten mit den Armen. Ihre Worte waren über die Entfernung nicht zu verstehen, aber den hilflosen, entsetzten Tonfall konnte man nicht überhören.
»Wir sollten etwas tun.« Jezals Hände umklammerten die Zinnen. »Wir müssen etwas tun! Es werden noch andere draußen sein, viele andere!«
Varuz räusperte sich. »Euer Majestät ...«
»Nein! Lassen Sie mein Pferd satteln. Rufen Sie die Ritter der Wacht zusammen. Ich weigere mich ...«
Kronrichter Marovia war vor die Tür zur Treppe getreten, blockierte den Durchgang und sah ruhig und traurig in Jezals Gesicht. »Wenn Sie die Tore öffnen ließen, würden Sie das Leben jener gefährden, die sich im Agriont aufhalten. Das Leben vieler tausend Bürger, die alle auf Ihren Schutz vertrauen. Hier können wir ihnen zumindest für den Augenblick Sicherheit gewähren. Wir müssen ihnen diese Sicherheit erhalten.« Seine Augen glitten zur Seite, hinunter auf die Straßen. Verschiedenfarbige Augen, wie Jezal bemerkte; eines war blau, das andere grün. »Wir müssen abwägen, was für das Allgemeinwohl wichtiger ist.«
»Für das Allgemeinwohl.« Jezal sah nun zur anderen Seite vom Turm hinab in den Agriont. Tapfere Verteidiger hatten sich entlang der Mauern aufgestellt, wie er wusste, und sie waren bereit, bis zum Tod für ihren König und ihre Heimat zu kämpfen, ob er das verdiente oder nicht.
Er stellte sich vor, dass auch unbewaffnete Bürger schutzsuchend durch die engen Gassen liefen. Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge, die aus ihren zerstörten Häusern vertrieben worden waren. Menschen, denen er eine Zuflucht versprochen hatte. Seine Augen glitten über die hohen weißen Gebäude, die den grünen Park umgaben, über den breiten Marschallsplatz, den langen Weg der Könige mit den hohen Statuen. Überall waren, wie er wusste, Hilflose und Bedürftige. Unglückliche, denen nichts anderes übrig blieb, als auf den feigen Betrüger Jezal dan Luthar zu vertrauen.
Ihm war, als müsse er ersticken, aber er wusste, dass der alte Tintenkleckser recht hatte. Er konnte nichts tun. Bei seinem letzten heroischen Ausfall war es reines Glück gewesen, dass er überhaupt überlebt hatte, und es war nun ohnehin viel zu spät, etwas Derartiges noch einmal zu wagen. Draußen vor dem Agriont strömten gurkhisische Soldaten auf den Platz vor dem Tor. Einige von ihnen trugen Bogen in der Hand, knieten sich auf den Boden und schickten einen Pfeilhagel auf die andere Seite der Brücke. Winzige Figuren schwankten und stürzten, klatschten ins Wasser des Burggrabens. Winzige Schreie wehten zur Spitze des Kettenturms hinauf.
Als Antwort erklang das Klappern einer Flachbogensalve von den Mauern, und die Gurkhisen wurden mit Bolzen gespickt. Männer stürzten, andere verließ der Mut, und sie zogen sich zurück. Ein paar Leichen blieben auf dem Pflaster liegen. Die Soldaten suchten Deckung in den Gebäuden rund um den Platz, und Männer glitten in den Schatten von Haus zu Haus. Ein Unionssoldat sprang von der Brücke und tat ein paar Schwimmzüge im Burggraben, bevor er unterging. Er tauchte nicht wieder auf. Eine Hand voll gestrandeter Verteidiger bewegte sich noch und hob verzweifelt die Arme. Für sie war es vermutlich nur ein geringer Trost, als sie auf der Brücke ihre letzten Atemzüge taten, dass man das Allgemeinwohl im Auge behalten musste. Jezal kniff die Augen zusammen und sah weg.
»Dort! Im Osten!«
Varuz und einige Mitglieder seines Stabs hatten sich an der anderen Seite des Turms zusammengedrängt und sahen am Haus des Schöpfers vorbei zu den Feldern außerhalb der Stadt. Jezal schritt zu ihnen hinüber und beschattete seine Augen gegen die aufgehende Sonne. Hinter der großen Mauer des Agrionts, hinter dem schimmernden Fluss und dem breiten Halbrund der Stadt glaubte er eine Bewegung wahrzunehmen. Eine lange, gebogene Linie, die sich bewegte und langsam auf Adua zuhielt.
Einer der Offiziere senkte sein Fernrohr. »Berittene! Das ist die Reiterei der Union!«
»Sind Sie sicher?«
»Die Truppen!«
»Sie kommen zwar spät«, brummte Varuz, »sind aber deswegen um nichts weniger willkommen.«
»Ein Hoch auf Marschall West!«
»Wir sind gerettet!«
Jezal war nicht in der Stimmung, Freudenschreie auszustoßen. Hoffnung war natürlich etwas Schönes, und lange hatten sie davon wenig genug gehabt, aber zum Feiern war es noch viel zu früh. Er ging zurück zur anderen Seite des Turms und sah finster nach unten.
Noch mehr Gurkhisen strömten auf den Platz vor der Zitadelle, mehr und mehr, offenbar gut vorbereitet. Sie schoben leicht geneigte Schutzwände aus Holz auf Rädern vor sich her, groß genug, um zwanzig oder mehr Männern Deckung zu bieten. Die vorderste war bereits mit Flachbogenbolzen gespickt, aber sie rückte trotzdem weiter auf die Brücke zu. Pfeile zischten von unten zur Brustwehr hinauf und von oben von der Brustwehr hinab. Verwundete stürzten und versuchten, hinter die Linien in Sicherheit zu kriechen. Eines der Häuser am Platz hatte Feuer gefangen, und die Flammen leckten hungrig am Rand des Daches.
»Die Truppen!«, jubelte jemand laut von den Zinnen gegenüber. »Marschall West!«
»So ist es.« Marovia sah auf das Blutvergießen vor dem Tor,
während der Kampfeslärm stetig lauter wurde. »Hoffen wir, dass er
nicht zu spät kommt.«
Waffenklirren drang durch die kühle Luft. Klappern und Rasseln, hallende Rufe. Logen sah nach links und rechts auf die Männer um sich herum, die über die offenen Felder eilten, mit hartem, zischendem Atem und scheppernder Ausrüstung. Finstere Gesichter und scharfe Waffen.
Es war nicht gerade ein aufbauendes Gefühl, wieder Teil all dessen zu sein.
Die traurige Tatsache war, dass Logen gegenüber Ferro und Jezal, Bayaz und Quai mehr Vertrauen und Wärme empfunden hatte als nun gegenüber seinen eigenen Leuten. Sie waren auf ihre eigene Weise ziemlich schwierig und irgendwie auch Drecksäcke gewesen, und es war nicht so, dass er sie wirklich verstanden oder besonders gemocht hatte. Aber Logen hatte sich selbst gemocht, während er mit ihnen unterwegs gewesen war. Draußen im verlassenen Westen der Welt war er ein Mann gewesen, auf den man sich verlassen konnte, so wie sein Vater. Ein Mann, auf dessen Schultern keine blutige Geschichte lastete, ohne einen Namen, der schwärzer war als die Hölle, und der ständig auf der Hut sein musste. Ein Mann, der auf etwas Besseres hatte hoffen können.
Der Gedanke daran, diese Menschen nun wiederzusehen und vielleicht die Möglichkeit zu bekommen, erneut jener Mann zu sein, spornte ihn an und ließ ihn nur noch schneller auf die grauen Mauern von Adua zulaufen. Zumindest in diesem Augenblick schien es ihm möglich, den Blutigen Neuner aus der Sache herauszulassen.
Aber die übrigen Nordmänner hatten es wesentlich weniger eilig als er. Ihr Schritt war eher der eines Spaziergangs, nicht der eines Angriffs. Sie schlenderten zu einem Baumgrüppchen hinüber, ein paar Vögel flogen in den weißen Himmel auf, und dann blieben sie ganz stehen. Niemand sagte etwas. Einer der Jungs setzte sich sogar hin, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, und trank Wasser aus einer Feldflasche.
Logen sah ihn an. »Bei den Toten, ich glaube, so einen eierweichen Angriff habe ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Habt ihr das Mark in euren Knochen im Norden gelassen?«
Es gab ein wenig Gemurmel und ein paar verstohlene Blicke. Rotkapp sah zur Seite und klemmte die Zunge hinter seine Unterlippe. »Haben wir vielleicht. Versteh mich nicht falsch, Häuptling oder königliche Hoheit oder wie es jetzt auch immer heißen mag.« Er neigte den Kopf, um zu zeigen, dass er das nicht respektlos gemeint hatte. »Ich habe schon oft gekämpft und auch immer hart, mein Leben stand oft genug auf des Messers Schneide und so. Es ist bloß ... wieso kämpfen wir denn jetzt überhaupt?, frag ich mich. Das fragen wir uns wohl alle, glaub ich. Ist doch nicht unsere Angelegenheit, oder? Das ist nicht unser Kampf, ist das nicht.«
Hundsmann schüttelte den Kopf. »Die Union wird uns für einen hübschen Haufen Feiglinge halten.«
»Wen kümmert denn, was die denken?«, fragte jemand.
Rotkapp trat näher. »Hör mal, Häuptling, mir ist ziemlich scheißegal, ob mich irgend so ’n Kerl, den ich nicht kenn, für einen Feigling hält oder nicht. Dazu habe ich schon genug Blut vergossen. Haben wir doch alle.«
»Hm«, knurrte Logen. »Du stimmst also dafür, dass wir hier bleiben, ist das richtig?«
Rotkapp zuckte die Achseln. »Na ja, ich denk mal ...« Er schrie auf, als Logens Stirn gegen sein Gesicht krachte und ihm die Nase zerschmetterte wie eine Nuss auf einem Amboss. Dann stürzte er rücklings in den Dreck, während Blut über sein Kinn lief.
Logen wandte sich um und legte den Kopf ein wenig zur Seite, wie es früher seine Art gewesen war. Das Gesicht des Blutigen Neuners, kalt und tot, dem gar nichts wichtig war. Es war ganz leicht, diese Miene zu zeigen. Sie trug sich so bequem wie ein Paar alte, gemütliche Stiefel. Seine Hand fand den kühlen Griff von Kanedias’ Schwert, und um ihn herum wichen die Männer zurück, traten zur Seite, murmelten vor sich hin oder flüsterten.
»Möchte noch jemand von euch Wichsern hier abstimmen?«
Der Junge, der an den Baum gelehnt dagesessen hatte, ließ die Feldflasche ins Gras fallen und sprang auf. Logen nahm weitere Männer ins Visier, einen nach dem anderen, vor allem jene, die besonders hart aussahen, und einer nach dem anderen sahen sie zu Boden, zu den Bäumen, überall hin, nur nicht zu ihm. Bis sein Blick auf Espe fiel. Der langhaarige Drecksack starrte ihn unverwandt an. Logen kniff die Augen zusammen. »Was ist mit dir?«
Espe schüttelte den Kopf, und das Haar flog ihm ums Gesicht. »O nein. Nicht jetzt.«
»Dann eben, wenn du so weit bist. Wenn ihr alle so weit seid. Bis dahin habe ich Arbeit für euch. Zu den Waffen«, knurrte Logen.
Schwerter und Äxte, Speere und Schilde wurden nun schnellstens bereit gemacht. Männer wuselten herum, nahmen ihre Plätze ein und rissen sich plötzlich darum, an vorderster Front anzugreifen. Rotkapp rappelte sich gerade wieder auf, die Hand auf das blutige Gesicht gedrückt. Logen sah auf ihn herunter. »Wenn du das Gefühl hast, dass dir gerade übel mitgespielt wurde, dann denk an eines: In der alten Zeit würdest du jetzt versuchen, deine Eingeweide wieder in deinen Bauch zu drücken.«
»Joh«, knurrte Rotkapp und wischte sich den Mund. »Da hast du recht.« Logen sah ihm nach, wie er zu seinen Jungs zurückging und Blut spuckte. Wenn man eins über Logen Neunfinger sagen konnte, dann das – er hatte ein Händchen dafür, aus einem Freund einen Feind zu machen.
»Musste das sein?«, fragte der Hundsmann.
Logen zuckte die Achseln. Er hatte das nicht gewollt, aber er war jetzt der Anführer. Das war immer eine Katastrophe gewesen, aber so war es nun mal, und ein Mann, der die Verantwortung übernommen hat, kann nicht zulassen, dass ihn die anderen hinterfragen. Das geht einfach nicht. Erst kommen sie mit Fragen, dann kommen sie mit Messern. »Hab keinen anderen Ausweg gesehen. So war es doch immer, oder nicht?«
»Ich hatte gehofft, die Zeiten hätten sich geändert.« »Die Zeiten ändern sich nie. Da muss man realistisch sein, Hundsmann.«
»Joh. Ist allerdings wirklich eine Schande.«
Viele Dinge waren eine Schande. Logen hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, sie ändern zu wollen. Er ließ das Schwert des Schöpfers aus seiner Scheide gleiten und hielt es in die Höhe. »Dann los jetzt! Und diesmal so, als ob uns das alles eben nicht scheißegal wäre!« Damit stürmte er durch die Bäume davon und hörte, dass die übrigen Jungs ihm folgten. Als sie das freie Feld erreichten, ragten die Mauern von Adua vor ihnen auf, wie eine steile graue Klippe, mit runden Türmchen besetzt, die sich hinter einer grasbewachsenen Anhöhe erhob. Es lagen zahlreiche Leichen dort. Genug, um sogar einen schlachterprobten Carl kalte Füße bekommen zu lassen. Nach der Farbe ihrer Haut zu urteilen, waren es zumeist gurkhisische Tote, die zwischen kaputten Waffen und Rüstungsteilen aller Art ausgestreckt lagen, in die schlammige Erde getrampelt und mit Hufabdrücken übersät.
»Bleibt standhaft!«, brüllte Logen, als er zwischen den Leichen hindurcheilte. »Standhaft!« Jetzt konnte er vor sich etwas entdecken, eine Palisade aus angespitzten Pfählen, und von einem der Pflöcke hing ein totes Pferd herab. Hinter den Pfählen bewegten sich Männer. Männer mit Bogen.
»In Deckung!« Ein paar Pfeile zischten auf sie herab. Einer schlug tief in Espes Schild, ein paar weitere bohrten sich in den Boden zu Logens Füßen. Ein Carl, der einen knappen Schritt von ihm entfernt stand, bekam einen in die Brust und brach zusammen.
Logen rannte. Die Palisade kam schwankend auf ihn zu, und zwar wesentlich langsamer, als ihm lieb gewesen wäre. Zwischen zwei Pfählen stand jemand, ein dunkelhäutiger Mann mit schimmerndem Brustpanzer und einem roten Federbusch auf seinem spitzen Helm. Er brüllte einer Gruppe anderer, die sich hinter ihm zusammendrängten, etwas zu und schwenkte einen Krummsäbel. Vielleicht ein gurkhisischer Offizier. Als Ziel für einen Angriff ebenso gut wie alles andere. Logens Stiefel versanken mit schmatzendem Geräusch im aufgeweichten Boden. Weitere Pfeile zischten schlecht gezielt über seinen Kopf. Die Augen des Offiziers weiteten sich. Er machte einen nervösen Schritt zurück und hob den Säbel.
Logen sprang nach links, und die gekrümmte Schneide fuhr in die Erde neben seinen Füßen. Mit einem Knurren schwang er nun das Schwert des Schöpfers, und die schwere Klinge prallte hart gegen den Brustpanzer des Mannes und hinterließ dort eine tiefe Delle. Der Offizier schrie, dann taumelte er ein paar Schritte nach vorn und krümmte sich zusammen, kaum in der Lage, einen Atemzug zu tun. Sein Säbel fiel ihm aus der Hand, und Logen versetzte ihm einen Hieb auf den Hinterkopf, zertrümmerte den Helm und schleuderte ihn ausgestreckt zu Boden.
Dann sah er die anderen an, aber keiner von ihnen hatte sich bewegt. Sie waren ein ausgefranster Haufen, eine dunkelhäutige Ausgabe der mickrigsten und schwächsten Hörigen. Jedenfalls nicht die gewissenlosen Drecksäcke, die er sich nach Ferros Berichten immer vorgestellt hatte. Ein paar von ihnen hatten sogar Pfeile auf die Sehne gelegt und hätten ihn wie einen Igel damit spicken können, aber sie taten es nicht. Dennoch hätte es sie vielleicht aus ihrer Starre geweckt, wenn er sie nun direkt angriff. Logen hatte in seinem Leben schon ein oder zwei Pfeile abbekommen und legte wenig Wert auf ein paar mehr.
Anstatt also weiter vorzurücken, richtete er sich hoch auf und stieß ein wildes Gebrüll aus. Ein Kampfgebrüll, so wie damals, als er den Hügel bei Carleon hinuntergestürmt war, als er noch all seine Finger und all seine Hoffnungen gehabt hatte. Er fühlte, wie der Hundsmann zu ihm aufschloss, sein Schwert hob und ebenfalls einen Schrei ausstieß. Dann war Espe bei ihnen, brüllte wie ein Stier und schlug mit dem Kopf der Axt gegen seinen Schild. Als Nächstes kamen Rotkapp mit seinem blutigen Gesicht und Grimm und all die anderen und stießen ihre Schlachtrufe aus.
Sie standen nebeneinander in einer langen Reihe da, schwenkten ihre Waffen, schlugen sie hallend aneinander, brüllten und schrien und johlten aus vollem Hals. Sie machten einen Lärm, als habe die Hölle sich geöffnet und eine Gruppe von Teufeln sei erschienen, um ihnen ein Willkommenslied zu singen. Die braunen Männer starrten sie zitternd und mit aufgerissenen Augen und Mündern an. So einen Anblick, vermutete Logen, hatten sie wohl noch nie zuvor gehabt.
Einer von ihnen ließ seinen Speer fallen. Vielleicht wollte er das gar nicht, sondern war nur so durcheinander wegen des Lärms und wegen des Anblicks all dieser verrückten haarigen Kerle, dass sich sein Griff unwillkürlich löste. Jedenfalls fiel der Speer ins Gras, ob er das nun beabsichtigt hatte oder nicht, und das war’s. Nun ließen sie alle ihre Waffen fallen. In großer Hast schlugen sie klappernd ins Gras. Daraufhin kam es den Nordmännern blöd vor, weiter zu brüllen, und die Schlachtrufe verebbten, bis sich die beiden Gruppen von Kriegern schweigend über den aufgeweichten Boden hin anstarrten, der mit gebogenen Pfählen und verdrehten Leichen gepflastert war.
»Komische Schlacht ist das hier«, brummte Espe.
Der Hundsmann beugte sich zu Logen hinüber. »Was machen wir mit ihnen, jetzt, da wir sie haben?«
»Wir können hier nicht rumsitzen und auf sie aufpassen.«
»Hm«, sagte Grimm.
Logen kaute an seiner Lippe, drehte sein Schwert wieder und wieder in seiner Hand und dachte über einen schlauen Ausweg aus dieser Lage nach. Ihm fiel keiner ein. »Vielleicht sollten wir sie einfach gehen lassen.« Er deutete mit dem Kopf nach Norden. Keiner bewegte sich, also versuchte er es noch einmal und zeigte noch dazu mit dem Schwert in die Richtung. Sie zuckten zurück und raunten einander irgendetwas zu, als er die Waffe hob, und einer von ihnen rutschte in den Dreck. »Verpisst euch einfach nach da drüben«, sagte er, »dann kriegen wir keinen Streit. Verpisst ... euch ... nach da drüben!« Wieder ließ er das Schwert Richtung Norden zucken.
Einer von ihnen begriff jetzt, was er meinte, und entfernte sich mit einem zögernden Schritt von der Gruppe. Als ihn niemand totschlug, fing er an zu rennen. Schnell folgten ihm auch die anderen. Hundsmann sah dem Letzten von ihnen nach. Dann zuckte er die Achseln. »Tja, dann mal alles Gute für die Jungs.«
»Joh«, murmelte Logen. »Alles Gute.« Dann raunte er, so leise,
dass es niemand hörte: »Noch am Leben, noch am Leben, noch am Leben
...«
Glokta humpelte durch die stinkende Düsternis einen Gang hinunter, der etwa einen halben Schritt breit war, die Zunge fest gegen das leere Zahnfleisch gepresst in dem Bemühen, sich aufrecht zu halten. Der Schmerz in seinem Bein wurde mit jedem Schritt schlimmer, und er verzog gequält das Gesicht, während er sich alle Mühe gab, nicht durch die Nase zu atmen. Als ich aus Gurkhul zurückkehrte und verkrüppelt im Bett lag, dachte ich damals, ich könnte nicht tiefer sinken. Als ich die Aufsicht über die brutalen Mechanismen eines stinkenden Gefängnisses in Angland übernahm, dachte ich wieder dasselbe. Als ich einen Schreiber in einem Schlachthaus niedermetzeln ließ, glaubte ich, den tiefsten Punkt erreicht zu haben. Wie sehr ich mich geirrt habe. Cosca und seine Söldner schritten im Gänsemarsch dahin, mit Glokta in ihrer Mitte, und ihr Fluchen, Brummeln, ihre langsamen Schritte hallten durch den Tunnel mit seiner gewölbten Decke, und das Licht von ihren hin und her schwingenden Laternen warf schwankende Schatten über den feucht schimmernden Stein. Fauliges, schwarzes Wasser tröpfelte von oben herab, rann über die moosigen Wände, gurgelte in schleimigen Rinnen und strömte den ekelerregenden Kanal neben ihm entlang. Ardee schlurfte hinter ihm her, das Kästchen mit seinen Instrumenten noch immer unter den Arm geklemmt. Sie hatte jeden Versuch aufgegeben, den Saum ihres Kleides zu raffen, und der Stoff war mit schwarzem Schlick verdreckt. Sie sah ihn an, das Haar hing ihr feucht ins Gesicht, und sie versuchte sich an einem schwachen Lächeln. »Sie führen eine Frau wirklich an die erlesensten Orte.«
»Ah, das stimmt. Mein Händchen dafür, eine romantische Umgebung aufzuspüren, erklärt mit Sicherheit meine anhaltende Beliebtheit beim schönen Geschlecht.« Glokta zuckte zusammen, als ihn ein schmerzhafter Krampf packte. »Einmal davon abgesehen, dass ich ein verkrüppeltes Ungeheuer bin. Wohin geht es von hier aus?«
An vorderster Stelle hüpfte Langfuß durch die Dunkelheit, der mit einem Seil an einen der Söldner gebunden war. »Nach Norden! Nach Norden, jedenfalls so in etwa. Wir sind gerade unterhalb des Mittenwegs.«
»Hm.« Über uns, keine zehn Schritt entfernt, befinden sich einige der angesehensten Adressen der ganzen Stadt. Die schillernden Paläste und ein Fluss aus Scheiße liegen viel näher beieinander, als die meisten Leute je glauben wollten. Alles Schöne hat eine dunkle Seite, und einige von uns müssen dort leben, damit andere im Licht fröhlich sein können. Sein Auflachen verwandelte sich in einen Schrei, als sein zehenloser Fuß auf dem rutschigen Damm ausglitt. Er griff mit der freien Hand nach der Wand neben sich, packte ungeschickt seinen Stock, der prompt auf die besudelten Steine fiel. Ardee packte ihn am Ellenbogen, bevor er stürzte, und zog ihn wieder in die Höhe. Es gelang ihm nicht, ein kleinmädchenhaftes, Wimmern zu unterdrücken, das zischend durch die Lücke in seinen Zähnen fuhr.
»Sie haben hier unten nicht gerade viel Spaß, was?«
»Ich hatte schon bessere Tage.« Er stieß mit dem Kopf an die Wand, als Ardee sich bückte, um seinen Stock aufzuheben. »Dass ich von beiden betrogen wurde«, hörte er sich sagen, »das schmerzt. Sogar mich. Einer, das hatte ich erwartet. Einer, das hätte ich verwunden. Aber sie beide? Warum?«
»Weil Sie ein gewissenloser, berechnender, intriganter, selbstmitleidiger Schurke sind?« Glokta starrte sie an, und sie zuckte die Achseln. »Sie haben gefragt.« Dann nahmen sie den Marsch durch die stinkende Dunkelheit wieder auf.
»Die Frage sollte rein rhetorisch sein.«
»Rhetorisch? In einem Abwasserkanal?«
»Warten Sie da vorn!« Cosca hob die Hand, und die Prozession kam raunend wieder zum Stehen. Ein Geräusch drang langsam von oben zu ihnen, erst ganz leise, dann lauter – das rhythmische Stampfen trampelnder Füße, das höchst beunruhigend von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien. Cosca drängte sich gegen die dreckige Mauer, und das Tageslicht, das durch ein Gitter fiel, warf helle Streifen auf sein Gesicht. Die lange Feder an seinem Barett hing schleimbedeckt herab. Stimmen drangen durch die Düsternis. Kantesische Stimmen. Cosca grinste und deutete mit dem Finger zur Decke. »Unsere alten Freunde, die Gurkhisen. Diese Ärsche geben einfach nicht auf, was?«
»Sie sind ziemlich schnell vorangekommen«, brummte Glokta, während er nach Luft rang.
»Offenbar wird in den Straßen nicht mehr viel gekämpft. Es haben sich alle in den Agriont zurückgezogen oder ergeben.«
Den Gurkhisen ergeben. Glokta verzog gequält das Gesicht, als er sein Bein ausstreckte. Das ist kaum eine gute Idee, und niemand würde je ein zweites Mal auf diesen Gedanken kommen. »Dann müssen wir uns beeilen. Nun weiter, Bruder Langfuß!«
Der Wegkundige stolperte weiter. »Jetzt ist es nicht mehr weit! Ich habe Sie nicht in die Irre geführt, o nein, ich nicht! Das wäre auch gar nicht meine Art. Wir sind jetzt nahe, ganz nahe am Burggraben. Wenn es einen Weg in die Festung gibt, dann werde ich ihn finden, darauf können Sie sich verlassen. Ich werde Sie in kürzester Zeit nach drinnen ...«
»Halten Sie die Klappe und gehen Sie los!«, knurrte
Glokta.
Einer der Arbeiter kippte die letzten Holzspäne aus seinem Fass, ein anderer harkte einen Haufen blassen Pulvers auseinander, und dann waren sie fertig. Der ganze Marschallsplatz, von den hoch aufragenden weißen Mauern der Heereshallen zu Ferros rechter Seite bis zu den vergoldeten Toren des Fürstenrunds zu ihrer Linken, war vollständig mit Sägemehl bedeckt. Es sah aus, als wäre plötzlich Schnee gefallen, nur an dieser Stelle, und hätte eine dünne weiße Decke über die glatten Steinplatten gelegt. Über den dunklen Stein und über das helle Metall.
»Gut.« Bayaz nickte mit einem Ausdruck seltener Zufriedenheit in seinem Gesicht. »Sehr gut!«
»Ist das alles, mein Herr?«, rief der Vorarbeiter aus der Mitte der zusammengekauerten Gruppe.
»Falls nicht einer von Ihnen hier bleiben und die Vernichtung der unzerstörbaren Hundert Worte miterleben will?«
Der Vorarbeiter warf einen verwirrten Seitenblick auf einen seiner Kollegen. »Nein. Nein, ich denke, wir werden einfach ... Sie wissen schon ...« Damit zogen er und die anderen Arbeiter sich zurück und nahmen die leeren Fässer mit. Schon bald waren sie zwischen den weißen Palästen verschwunden. Ferro und Bayaz waren allein auf der großen Fläche sauber ausgestreuten Sägemehls.
Nur sie beide und die Kiste des Schöpfers, und das Ding, das sie enthielt.
»So. Die Falle ist gestellt. Wir müssen jetzt nur noch auf unsere Beute warten.« Bayaz versuchte, sein wissendes Grinsen aufzusetzen, aber Ferro ließ sich nicht täuschen. Sie sah, dass er nervös mit seinen knorrigen Händen spielte, während sich die Muskeln an der Seite seines kahlen Kopfes immer wieder zusammenzogen. Er war sich nicht sicher, ob sein Plan klappen würde. So weise er auch sein mochte, so klug und durchtrieben, er war sich nicht sicher. Das Ding in der Kiste, das kalte und schwere Ding, nach dessen Berührung Ferro es so sehr verlangte, war etwas Unbekanntes. Es war bisher nur einmal benutzt worden, weit weg, in der menschenleeren Öde des Alten Kaiserreichs. In den Ruinen des verdorrten Aulcus.
Ferro runzelte die Stirn und lockerte ihren Säbel in seiner Scheide.
»Wenn sie kommen, wird dich das nicht retten.«
»Man kann nie zu viele Messer haben«, gab sie knurrend zurück. »Woher weißt du überhaupt, dass sie hierherkommen werden?«
»Was könnten sie sonst tun? Sie müssen dorthin, wo ich bin. Das ist ihr Ziel.« Bayaz zog stoßweise die Luft durch die Nase ein und blies sie wieder aus. »Und ich bin hier.«