NACH DEM REGEN

Logen lehnte an der Brüstung, hoch oben auf einem Turm an einer Seite des Palasts, und hielt sein düsteres Gesicht in den Wind. Er hatte schon einmal so dagestanden, damals, oben auf dem Kettenturm. Es kam ihm so vor, als sei es Jahrhunderte her. Wie vom Donner gerührt hatte er über die endlose Stadt geblickt und sich gefragt, ob er sich je hätte träumen lassen, dass Menschen etwas so Stolzes, Schönes und Unzerstörbares erbauen konnten.

Bei den Toten, wie sich die Zeiten änderten.

Die grüne Rasenfläche des Parks war mit herabgefallenen Trümmern übersät, die Bäume verbrannt, das Gras hinweggesprengt, und die Hälfte des kleinen Sees war versickert und zu einem schlammigen Sumpf geworden. An seinem westlichen Ufer stand noch eine lange Zeile weißer Häuser, wenn auch mit gähnend leeren Fenstern. Noch weiter im Westen hatten die Gebäude keine Dächer mehr, und die Dachsparren ragten nackt in den Himmel. Noch weiter, und die Wände waren geborsten und eingestürzt, leere Ruinen, von Schutt erstickt.

Dahinter war nichts mehr. Die große Halle mit der goldenen Kuppel – verschwunden. Der Platz, auf dem Logen das Schwerterspiel mit angesehen hatte – nicht mehr da. Der Kettenturm und die mächtige Mauer an seinem Sockel und all die großartigen Gebäude, über deren Dächer Logen damals auf seiner Flucht mit Ferro geklettert war – alles weg.

Ein kolossaler Kreis der Zerstörung hatte sich über die Westseite des Agrionts gelegt und nur formlose Trümmer hinterlassen. Die Stadt dahinter war von schwarzen Narben gezeichnet, und weiterhin stieg Rauch von einigen der letzten Brände und von qualmenden Schiffsrümpfen auf, die noch in der Bucht trieben. Das Haus des Schöpfers überragte diesen Anblick, ein scharf umrissener schwarzer Block unter den dräuenden Wolken, ungerührt und unberührbar.

Logen stand da und kratzte sich immer wieder an der vernarbten Seite seines Gesichts. Seine Wunden schmerzten. So viele Wunden. Jeder Körperteil war zerschlagen und geprellt, zerstochen und geschlitzt. Von dem Kampf mit dem Verzehrer, der Schlacht vor dem Burggraben, dem Zweikampf mit dem Gefürchteten, den sieben Tagen Gemetzel auf den Hohen Höhen. Durch Hunderte von Kämpfen, Scharmützeln und frühere Kriegszügen. Zu viele, um sich an einzelne zu erinnern. So müde, wund und elend.

Missmutig sah er auf seine Hände, die auf der Brustwehr ruhten. An der Stelle, wo früher einmal sein Mittelfinger gewesen war, blickte ihn der nackte Stein an. Er war immer noch Neunfinger. Der Blutige Neuner. Ein Mann, aus Tod gemacht, ganz, wie Bethod gesagt hatte. Gestern hätte er beinahe den Hundsmann umgebracht, und das wusste er sehr wohl. Seinen ältesten Freund. Seinen einzigen Freund. Er hatte das Schwert schon erhoben, und nur ein winziger Wink des Schicksals hatte ihn daran gehindert, es auch tatsächlich zu tun.

Er erinnerte sich, wie er ebenso hoch oben auf einem Balkon der großen Bibliothek des Nordens gestanden und über das leere Tal geblickt hatte, dessen stiller See wie ein großer Spiegel schimmerte. Damals hatte er den Wind auf seinem frisch rasierten Gesicht gespürt und sich gefragt, ob ein Mann sich ändern konnte.

Nun wusste er die Antwort.

»Meister Neunfinger!«

Logen wandte sich hastig um und zischte durch die Zähne, als die Stiche an seiner Seite zu brennen begannen. Der Erste der Magi trat durch die Tür ins Freie. Er jedoch hatte sich tatsächlich irgendwie verändert. Er sah jung aus. Sogar noch jünger als damals, als Logen ihn kennen gelernt hatte. Seine Bewegungen hatten eine gewisse Schärfe, und seine Augen glänzten. Es kam ihm sogar so vor, als seien ein paar schwarze Haare in dem grauen Bart, der sein freundliches Lächeln umrahmte. Das erste Lächeln, das Logen seit einer ganzen Weile sah.

»Seid Ihr verletzt?«, fragte er.

Logen saugte bitter an seinen Zähnen. »Ist wohl kaum das erste Mal.«

»Und es wird nicht leichter.« Bayaz stützte die kräftigen Hände auf die steinerne Brüstung neben Logens und sah glücklich über die Stadt. Als ob sich unter ihm ein Blumenmeer und nicht ein unglaubliches Ausmaß von Zerstörung erstreckte. »Ich hatte gar nicht erwartet, Euch so schnell wiederzusehen. Und dann noch in derart gehobener Position. Wie ich erfuhr, ist Eure Fehde beendet. Ihr habt Bethod besiegt. Ihn von den eigenen Mauern gestürzt, wenn ich recht gehört habe. Eine hübsche Geste.

Ihr denkt auch immer an die Lieder, die man später daraus machen wird, nicht wahr? Und nun habt Ihr seinen Platz eingenommen. Der Blutige Neuner, König der Nordmänner! Das stelle man sich einmal vor.«

Logen blickte ihn finster an. »So war es nicht.«

»Ach, Kleinkram. Das Ergebnis ist dasselbe, oder nicht? Endlich Frieden im Norden, oder? So oder so, ich gratuliere Euch.«

»Bethod hatte noch ein paar Dinge zu sagen.«

»Hatte er?«, fragte Bayaz wegwerfend. »Ich fand die Unterhaltungen mit ihm meist recht öde. Immer ging es um ihn selbst, seine Pläne, seine Erfolge. Es ist so anstrengend, wenn Männer niemals an andere denken. Schlechte Manieren.«

»Er sagte, Ihr wäret der Grund dafür gewesen, dass er mich nicht tötete. Ihr hättet um mein Leben gefeilscht.«

»Das ist wahr, das muss ich zugeben. Er schuldete mir noch etwas, und Ihr wart der Preis, den ich verlangte. Ich versuche stets, die Zukunft im Blick zu behalten. Schon damals wusste ich, dass ich vielleicht noch einmal einen Mann brauchen würde, der mit den Geistern sprechen kann. Es war dann ein zusätzlicher Trumpf, dass Ihr Euch darüber hinaus als derart angenehmer Reisegefährte erwiesen habt.«

Logen merkte, dass er immer noch durch die zusammengebissenen Zähne sprach. »Wäre allerdings nett gewesen, wenn ich davon gewusst hätte.«

»Ihr habt nie gefragt, Meister Neunfinger. Ihr wolltet, wenn ich mich recht erinnere, nichts über meine Pläne wissen, und ich wollte Euch nicht das Gefühl geben, dass Ihr mir etwas schuldet. ›Ich habe einmal Euer Leben gerettet‹ – das wäre kein guter Ausgangspunkt für unsere Freundschaft gewesen.«

All das erschien zwar sehr vernünftig, wie alles, was Bayaz je gesagt hatte, aber es hinterließ trotzdem einen bitteren Nachgeschmack, wie ein Schlachtschwein verhökert worden zu sein. »Wo ist Quai? Ich würde gern ...«

»Tot.« Bayaz brachte das Wort glatt über die Lippen, scharf wie ein geworfenes Messer. »Sein Verlust hat uns sehr hart getroffen.«

»Wieder zu Schlamm geworden, was?« Logen erinnerte sich an die Mühe, die er sich dabei gegeben hatte, das Leben des Mannes zu retten. Die langen Meilen, die er ihn durch den Regen geschleppt und dabei versucht hatte, das Richtige zu tun. Alles Verschwendung. Vielleicht hätte er angesichts dieser Nachricht mehr Trauer empfinden sollen. Aber das war nicht so einfach, bei all dem Tod, der sich vor seinen Augen ausbreitete. Logen war innerlich taub. Oder aber Quais Tod interessierte ihn wirklich einen feuchten Dreck. Schwer zu sagen, was davon zutraf.

»Wieder zu Schlamm geworden«, wiederholte er leise. »Ihr macht aber natürlich weiter, nicht wahr.«

»Natürlich.«

»Das ist die Aufgabe, die den Überlebenden zufällt. Man erinnert sich der Toten, man spricht ein paar Worte, dann macht man weiter und hofft darauf, dass sich alles zum Besseren wendet.«

»Genau.«

»Bei solchen Sachen muss man realistisch sein.« »Das ist wahr.«

Logen rieb sich mit einer Hand über die schmerzende Seite – nur, um wieder etwas zu spüren. Aber zusätzliche Schmerzen brachten auch niemanden weiter. »Ich habe gestern einen Freund verloren.«

»Es war ein blutiger Tag. Aber ein siegreicher.«

»Ach ja? Für wen denn?« Logen sah unten Menschen, die sich in den Ruinen bewegten, Insekten, die in den Trümmern herumwühlten, nach Überlebenden suchten und Tote fanden. Und er bezweifelte, dass viele von ihnen gerade das Hochgefühl eines Siegers verspürten. Er selbst tat es jedenfalls nicht.

»Ich sollte bei meinen Leuten sein«, murmelte er, bewegte sich aber nicht. »Dabei helfen, sie zu begraben. Und die Verwundeten zu versorgen.«

»Und dennoch steht Ihr hier oben und seht herab.« Bayaz’ grüne Augen waren hart wie Stein. Diese Härte hatte Logen von Anfang an gesehen, aber dann irgendwie vergessen. Hatte sich daran gewöhnt, sie zu übersehen. »Ich verstehe Eure Gefühle. Heilen ist etwas für die Jungen. Wenn man älter wird, stellt man fest, dass man immer weniger Geduld mit den Verletzten hat.« Bayaz hob die Augenbrauen, während er sich wieder dem schrecklichen Anblick zuwandte. »Ich bin sehr alt.«

 

Er hob die Faust, um anzuklopfen, dann hielt er inne und strich sich mit den Fingern nervös über die Handfläche.

Er erinnerte sich an ihren bittersüßen Geruch, an die Kraft ihrer Hände, an die Züge ihres missmutigen Gesichts im Feuerschein. Und an ihre Wärme, wenn sie sich nachts eng an ihn geschmiegt hatte. Zwischen ihnen war etwas Gutes gewesen, das wusste er, auch wenn all die Worte, die sie gewechselt hatten, hart gewesen waren.

Manche Menschen haben keine sanften Worte in sich, egal, wie sehr sie sich bemühen. Viel Hoffnung hatte er natürlich nicht. Ein Mann wie er war besser dran, wenn er sich nicht zu viel erhoffte. Aber man gewinnt nichts, wenn man nichts riskiert.

Also biss Logen die Zähne zusammen und klopfte. Keine Antwort. Er nagte an seiner Unterlippe und klopfte noch einmal. Nichts. Mit einem Mal verließ ihn die Geduld, und er drehte den Türknauf mit finsterem Gesicht und stieß die Tür auf.

Ferro fuhr herum. Ihre Kleider waren zerknittert und verdreckt, sogar noch mehr als sonst. Sie riss die Augen weit auf, ihr Blick war richtiggehend wild, und sie ballte die Fäuste. Aber ihr Gesicht fiel schnell wieder in sich zusammen, als sie sah, dass er es war, und ihm sank der Mut.

»Ich bin’s, Logen.«

»Uh«, knurrte sie. Dann warf sie den Kopf herum und sah mit gerunzelter Stirn zum Fenster. Mit zusammengekniffenen Augen ging sie ein paar Schritte darauf zu, um unvermittelt in die andere Richtung zu starren. »Da!«

»Was?«, fragte Logen verblüfft.

»Hörst du sie denn nicht?«

»Was hör ich?«

»Sie, du Idiot!« Sie kroch zu einer Wand hinüber und drängte sich dagegen.

Logen war sich nicht sicher gewesen, wie das Treffen verlaufen würde. Bei ihr konnte man vorher nie wissen, was geschehen würde, das war ihm klar gewesen. Aber so etwas hatte er trotzdem nicht erwartet. Mach einfach weiter, sagte er sich. Was blieb ihm auch anderes übrig?

»Ich bin jetzt König.« Er schnaubte. »König der Nordmänner, ist es zu glauben?« Er erwartete, sie würde ihn auslachen, aber sie stand nur da und lauschte der Mauer. »Ich und Luthar, wir beide. Ein Paar Könige. Kannst du dir zwei größere Taugenichtse vorstellen, die eine Krone vielleicht noch weniger verdient hätten?« Keine Antwort.

Logen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als deutlich zu werden. »Ferro. So wie das alles gekommen ist. So wie wir ... aufgehört haben.« Er machte einen Schritt auf sie zu, dann noch einen. »Ich wünschte, ich hätte nicht ... Ich weiß nicht ...« Sacht legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Ferro, ich will dir sagen, dass ich ...«

Schnell wandte sie sich zu ihm um und legte ihm die Hand auf den Mund. »Psssst.« Dann packte sie ihn am Hemd und zog ihn zu sich herunter auf die Knie. Sie legte das Ohr auf die Fliesen, und ihre Augen glitten von einer Seite zur anderen, als ob sie lauschte. »Hörst du das?« Ruckartig ließ sie ihn wieder los und rutschte in die Ecke des Zimmers. »Da! Hörst du sie?«

Er streckte langsam die Hand aus und berührte ihren Nacken, ließ die Fingerspitzen über ihre Haut fahren. Mit einer heftigen Bewegung ihrer Schultern schüttelte sie ihn ab, und er fühlte, wie sich sein Gesicht verzerrte. Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet, dass es einmal etwas Gutes zwischen ihnen gegeben hatte, und sie hatte nie etwas davon gemerkt. Vielleicht hatte er sich so sehr danach gesehnt, dass er es sich einfach zurechtgeträumt hatte.

Er stand auf und räusperte sich. »Ist auch egal. Ich komme vielleicht später noch mal wieder.« Sie lag immer noch auf Knien, den Kopf nahe am Boden. Als er ging, sah sie nicht einmal auf.

 

Der Tod war für Neunfinger-Logen kein Fremder. Sein ganzes Leben lang hatte er ihn begleitet. Nach der Schlacht von Carleon, vor langer Zeit, hatte er zugesehen, wie man die Leichen dutzendweise verbrannt hatte. Hunderte hatte man vor seinen Augen im namenlosen Tal in den Hohen Höhen begraben. Unter den Ruinen von Aulcus war er auf einem Berg aus Menschenknochen herumgeklettert.

Aber selbst der Blutige Neuner, der meistgefürchtete Mann im ganzen Norden, hatte so etwas noch nie gesehen.

Am Rand der breiten Straße waren in großen Haufen bis auf Brusthöhe Leichen aufgestapelt. Zusammengesunkene Leichenberge, überall. Hunderte und Aberhunderte. Zu viele, als dass er ihre Zahl hätte schätzen können. Man hatte sich bemüht, sie abzudecken, war aber nicht besonders gründlich gewesen. Die Toten dankten es einem schließlich nicht mehr. Zerfetzte Laken, mit geborstenen Holzstücken beschwert, flatterten im leichten Wind, und schlaffe Hände und Füße sahen darunter hervor.

An diesem Ende der Straße standen noch ein paar Statuen. Einst stolze Könige und ihre Ratgeber, steinerne Gesichter und Körper, vernarbt und zerlöchert, sahen traurig auf die blutigen Überreste, die man zu ihren Füßen aufgetürmt hatte. Es waren genug, damit Logen erkannte, dass er sich tatsächlich auf dem Weg der Könige befand und nicht etwa ins Land der Toten hineingestolpert war.

Hundert Schritt entfernt standen nur noch leere Sockel; auf einem ragten sogar noch die geborstenen Beine empor. Eine seltsame Gruppe von Menschen hatte sich darum versammelt. Sie wirkten verkümmert, halb tot, halb lebendig. Ein Mann saß auf einem Steinquader und starrte ausdruckslos vor sich hin, während er sich büschelweise Haar vom Kopf zog. Ein anderer hustete in einen blutigen Lumpen. Eine Frau und ein Mann lagen nebeneinander, starrten leer ins Nichts, und ihre Gesichter waren so sehr eingesunken, dass sie wie Totenschädel aussahen. Die Frau atmete rasselnd und schnell. Der Mann atmete gar nicht.

Noch einmal hundert Schritt weiter kam es Logen vor, als ginge er durch eine zerstörte Hölle. Nichts deutete mehr darauf hin, dass hier einmal Statuen, Häuser oder sonst etwas gestanden hatten. Es gab nur noch wirre Haufen aus seltsamen Trümmern. Gebrochener Stein, gesplittertes Holz, verbogenes Metall, Papier, Glas, alles zusammengepresst und mit Staub und Schlamm verbunden. Aus dem Schutt ragten einige Dinge, die noch seltsam unversehrt waren – eine Tür, ein Stuhl, ein Teppich, ein bemalter Teller oder das lächelnde Gesicht einer Statue.

Überall in diesem Chaos waren Männer und Frauen unterwegs, von oben bis unten verdreckt, suchten in dem Schutt herum, warfen Bruchstücke auf die Straße und versuchten, sich einen Weg zu bahnen. Rettungskräfte, Arbeiter, Diebe, wer wusste das schon? Logen kam an einem mannshohen Feuerstoß vorüber und fühlte dessen wärmenden Kuss auf seiner Wange. Ein großer Soldat in einer rußverschmierten Rüstung stand daneben. »Haben Sie irgendwas aus weißem Metall gefunden?«, brüllte er zu den Suchenden hinüber. »Irgendwas aus weißem Metall? Wenn ja, dann sofort ins Feuer damit! Fleisch in weißem Metall? Sofort verbrennen! So lautet der Befehl des Geschlossenen Rates!«

Noch ein paar Schritt weiter stand jemand ganz oben auf einem der höchsten Schutthaufen und mühte sich mit einer großen Holzbohle ab. Er drehte sich ein wenig, um besser zufassen zu können, und es war niemand anders als Jezal dan Luthar. Seine Kleidung war zerrissen und verschmutzt, und sein Gesicht war dreckverschmiert. Er sah fast ebenso wenig wie ein König aus wie Logen.

Ein untersetzter Mann, dessen Arm in einer Schlinge steckte, sah zu ihm hoch. »Euer Majestät, Sie sind da oben nicht sicher!«, piepte er mit einer seltsam mädchenhaften Stimme. »Wir sollten wirklich ...«

»Nein! Hier werde ich gebraucht!« Jezal beugte sich wieder über den Balken und zerrte daran, bis die Adern an seinem Hals hervortraten. Es war offensichtlich unmöglich, dass er allein etwas würde ausrichten können, aber er versuchte es trotzdem. Logen beobachtete ihn. »Wie lange macht er das schon so?«

»Die ganze Nacht und den ganzen Tag«, sagte der untersetzte Mann, »und es sieht nicht so aus, als wollte er aufhören. Die wenigen, die wir lebend fanden, haben fast alle diese Krankheit.« Er deutete mit seinem gesunden Arm auf die mitleiderregende Gruppe unter den Statuen. »Ihnen fällt das Haar aus. Die Nägel. Die Zähne. Sie schrumpfen ein. Einige sind bereits gestorben. Bei anderen wird es nicht mehr lange dauern.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Was haben wir nur verbrochen, um eine solche Strafe zu verdienen?«

»Es sind nicht immer die Schuldigen, die bestraft werden.«

»Neunfinger!« Jezal sah zu ihnen herab, während ihn die wässrige Sonne von hinten anstrahlte. »Du hast doch ein starkes Kreuz! Schnapp dir mal das Ende von dem Balken dort!«

Es war schwer zu sagen, was man inmitten all dieser Zerstörung damit ausrichten mochte, dass man einen einzelnen Balken wegtrug. Aber große Reisen beginnen mit kleinen Schritten, hatte Logens Vater ihm immer gesagt. Daher kletterte er nach oben, während das Holz knarrte und die Steine unter seinen Stiefeln wegrutschten, mühte sich ganz nach oben, richtete sich auf und sah sich um.

»Bei den Toten.« Von hier aus schienen sich die Schuttberge endlos auszudehnen. Überall kletterten Menschen herum, wühlten fieberhaft zwischen den Steinen, packten sie ganz vorsichtig zur Seite oder machten es wie er und sahen sich einfach um, vom Ausmaß der Zerstörung geblendet. Sie befanden sich in einem Kreis von Ruinen von mindestens einer Meile im Durchmesser.

»Hilf mir, Logen!«

»Joh. Klar.« Er bückte sich und schob die Hände unter ein Ende der langen, zernarbten Holzbohle. Zwei Könige, die einen Balken beiseite schleppten. Die Könige des Drecks.

»Dann zieh!« Logen zog, und seine Stiche brannten. Ganz langsam fühlte er, wie sich das Holz bewegte. »Ja!«, schnaufte Jezal durch die zusammengebissenen Zähne. Gemeinsam hoben sie den Balken an und schoben ihn zur Seite. Jezal griff nach unten und zog einen trockenen Ast beiseite, riss ein zerfetztes Tuch weg. Darunter lag eine Frau, die zur Seite starrte. Sie hielt einen gebrochenen Arm schützend um ein Kind, dessen lockiges Haar dunkel war vor Blut.

»In Ordnung.« Jezal wischte sich langsam mit der dreckigen Hand über den Mund. »Nun gut. Wir legen sie zu den übrigen Toten.« Er kletterte weiter über den Schutt. »Sie da! Bringen Sie mir mal die Brechstange! Hierher, und auch eine Spitzhacke. Wir müssen diese Mauerbrocken wegräumen! Stapeln Sie die Steine dort drüben, wir werden sie später brauchen. Für den Wiederaufbau!«

Logen legte ihm die Hand auf die Schulter. »Jezal, warte. Warte. Du kennst mich doch.«

»Natürlich, das will ich doch meinen.«

»In Ordnung. Dann sag mir mal etwas. Bin ich ...« Er suchte nach den richtigen Worten. »Bin ich ... ein böser Mensch?«

»Du?« Jezal starrte ihn verwirrt an. »Du bist der beste Mensch, den ich kenne.«

 

Sie sammelten sich unter einem gespaltenen Baum im Park, eine schattenhafte Gruppe. Schwarze Umrisse von Männern, die ganz ruhig und still dastanden, während sich über ihnen rote und goldene Wolken um die untergehende Sonne türmten. Logen hörte ihre bedächtigen Worte, als er näher kam. Worte für die Toten, leise und traurig. Er konnte die Gräber zu ihren Füßen sehen. Zwei Dutzend Haufen frisch aufgeworfener Erde, in einem Kreis angeordnet, um zu zeigen, dass jeder von ihnen gleich war. Der große Gleichmacher, wie die Bergmenschen sagen. Männer, die in die Erde gelegt wurden, und Männer, die Worte sprachen. Es hätte eine Szenerie aus dem alten Norden sein können, aus der Zeit von Skarling Ohnekapp.

»... Harding Grimm. Nie sah ich einen besseren Bogenschützen. Nie. Kann gar nicht zählen, wie oft er mir das Leben gerettet hat, und er hat nie Dank dafür erwartet. Nur vielleicht, dass ich dasselbe auch für ihn tun würde. Konnte ich wohl nicht, jedenfalls nicht dieses Mal. Konnte wohl keiner von uns ...«

Die Stimme des Hundsmanns verebbte. Ein paar Köpfe fuhren zu Logen herum, dessen Stiefel auf dem Kies knirschten. »Wenn das nicht der König der Nordmänner ist«, sagte jemand.

»Der Blutige Neuner höchstselbst.«

»Dann sollten wir uns wohl verbeugen, was?«

Jetzt sahen ihn alle an. Er konnte ihre Augen in der Dämmerung schimmern sehen. Nur ein paar zottige Umrisse, ohne dass man einen Mann ohne weiteres vom anderen hätte unterscheiden können. Eine Gruppe Schatten. Eine Gruppe Geister, und genauso unfreundlich.

»Willst du vielleicht auch was sagen, Blutiger Neuner?«, ertönte eine Stimme von weiter hinten.

»Ich denk mal nicht«, sagte er. »Ihr macht das schon richtig.«

»Gab keinen Grund für uns, hier zu sein.« Dazu ertönte gemurmelte Zustimmung.

»War nicht unser verdammter Kampf.«

»Die hätten gar nicht sterben müssen.« Noch mehr Gemurmel.

»Du bist es, den wir begraben sollten.«

»Joh, vielleicht.« Am liebsten hätte Logen geweint, als er das hörte. Aber stattdessen lächelte er. Das Lächeln des Blutigen Neuners. Das Grinsen eines Totenschädels, in dem nichts ist außer dem Tod. »Vielleicht. Aber ihr entscheidet ja nicht, wer stirbt. Es sei denn, ihr habt genug Mumm, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Habt ihr das? Irgendeiner von euch?« Schweigen. »Nun denn. Gut für Harding Grimm. Gut für die anderen Toten, wir werden sie alle vermissen.« Logen wandte den Kopf und spuckte auf den Boden. »Auf euch andere scheiß ich.« Damit drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

In die Dunkelheit.