DER NEUE MANN

Und so kehren wir zurück.« Bayaz sah mit finsterem Blick zur Stadt hinüber: ein leuchtendes weißes Halbrund, das sich um die schimmernde Bucht zog. Langsam, aber unaufhörlich rückte es näher, streckte seine Finger nach Jezal aus und schloss ihn in seine warme Umarmung. Die Umrisse wurden klarer, grüne Parks lugten zwischen den Häusern hervor, weiße Türmchen strebten von den vielen Gebäuden in den Himmel. Er konnte die hohen Wälle des Agrionts erkennen, auf dessen glänzenden Kuppeldächern sich das Sonnenlicht spiegelte. Das Haus des Schöpfers ragte über der Stadt empor, aber selbst das abschreckende, massige Gebäude schien jetzt auf gewisse Weise Wärme und Sicherheit auszustrahlen.

Er war zu Hause. Er hatte überlebt. Ihm war, als ob es hundert Jahre her sei, dass er am Bug eines nicht ganz unähnlichen Schiffes gestanden hatte, kläglich und verloren, und zugesehen hatte, wie Adua traurig aus seinem Blickfeld entschwand. Allmählich konnte er über dem Schmatzen der Wellen, dem schlagenden Segeltuch und den Schreien der Seevögel den noch entfernten Lärm der Stadt heraushören. Er klang wie die erhabenste Musik in seinen Ohren. Er schloss die Augen und zog scharf die Luft durch die Nase ein. Der faulige, salzige Geruch der Bucht lag süß wie Honig auf seiner Zunge.

»Man möchte glauben, Sie hätten unsere Reise genossen, Herr Hauptmann?«, fragte Bayaz triefend vor Ironie.

Jezal konnte nur grinsen. »Ich genieße vor allem ihr Ende.«

»Zu Niedergeschlagenheit besteht kein Anlass«, warf Bruder Langfuß ein. »Oft erweist eine schwierige Fahrt ihren vollen Nutzen erst lange Zeit nach der Rückkehr. Die Entbehrungen sind kurz, aber die Weisheit, die man erwirbt, hält ein ganzes Leben!«

»Hm.« Der Erste der Magi verzog den Mund. »Nur der Weise erlangt Weisheit auf seinen Reisen. Der Ungebildete kehrt unwissender denn je zurück. Meister Neunfinger! Seid Ihr entschlossen, in den Norden zurückzukehren?«

Logen hörte kurz damit auf, schlecht gelaunt über das Wasser zu blicken. »Für mich gibt es keinen Grund zu bleiben.« Er warf Ferro einen schnellen Seitenblick zu, den sie böse erwiderte.

»Was glotzt du mich so an?«

Logen schüttelte langsam den Kopf. »Weißt du was? Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung.« Wenn es je etwas zwischen den beiden gegeben hatte, das man auch nur entfernt als Romanze hätte bezeichnen können, dann schien es sich inzwischen unabänderlich in mürrische Abneigung verwandelt zu haben.

»Nun«, sagte Bayaz und hob die Brauen, »wenn Ihr dazu entschlossen seid.« Er streckte dem Nordmann die Hand hin, und Jezal sah ihnen beim Händeschütteln zu. »Gebt Bethod einen Tritt von mir, wenn Ihr ihn unter Eurem Stiefel habt.«

»Das werde ich, es sei denn, er erwischt mich mit seinem zuerst.«

»Es ist niemals leicht, nach oben zu treten. Ich danke Euch für Eure Hilfe und für Euer höfliches Entgegenkommen. Vielleicht werdet Ihr eines Tages wieder einmal mein Gast sein, oben in der Bibliothek. Wir werden auf den See hinausblicken und über unsere Abenteuer im Westen der Welt lachen.«

»Darauf werde ich hoffen.« Aber Logen sah nicht so aus, als ob viel Lachen oder Hoffnung in ihm steckten. Er wirkte wie ein Mann, dem nicht mehr besonders viele Möglichkeiten offen standen.

Schweigend sah Jezal zu, wie die Taue zum Kai hinuntergeworfen und festgemacht wurden, wie sich die lange Planke dem Ufer entgegenschob und über die Steine schrammte. Bayaz rief seinen Lehrling. »Meister Quai! Zeit, an Land zu gehen!« Der bleiche junge Mann ging nach seinem Meister vom Schiff, ohne sich noch einmal umzusehen. Bruder Langfuß folgte ihnen.

»Dann viel Glück«, sagte Jezal und bot Logen seine Hand.

»Dir auch.« Der Nordmann grinste, übersah die Hand und zog ihn in eine feste, unangenehm riechende Umarmung. Sie verharrten für einen gleichermaßen berührenden und peinlichen Augenblick in dieser Haltung, dann klopfte ihm Neunfinger auf den Rücken und ließ ihn los.

»Vielleicht treffe ich dich oben im Norden ja wieder.« Jezals Stimme war trotz all seiner Bemühungen ein klein wenig unsicher. »Wenn sie mich dorthin schicken ...«

»Vielleicht ja, aber ... ich glaube, ich hoffe nicht. Wie ich schon gesagt habe: Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mir eine gute Frau suchen und das Töten denen überlassen, die weniger Verstand haben.«

»Wie dir?«

»Genau. Wie mir.« Logen sah zu Ferro hinüber. »Das war’s dann also, was, Ferro?«

»Hm.« Sie zuckte die mageren Schultern und schritt die Planke hinunter.

Logens Gesicht verzog sich bei diesem Anblick. »Na gut«, brummte er ihr nach. »Schön, dich kennengelernt zu haben.« Er wackelte mit dem Stumpf seines fehlenden Fingers in Jezals Richtung. »Eins kann man von Logen Neunfinger sagen – er hat ein Händchen für Frauen.«

»Mmmm.«

»Joh.«

»Nun denn.« Jezal fand diesen Abschied seltsam schwierig. Die letzten sechs Monate hatten sie beinahe ständig in der Gesellschaft des anderen verbracht. Zu Anfang hatte er für diesen Mann nichts als Verachtung empfunden, aber wenn er nun in sich hineinhorchte, war es beinahe so, als ob er sich von einem älteren Bruder trennen musste, den er sehr schätzte. Es war sogar noch schlimmer, denn Jezal hatte von seinen echten Brüdern nie besonders viel gehalten. Also lungerte er noch ein Weilchen an Deck herum, und Logen grinste ihn an, als ahne er, was in ihm vorging.

»Mach dir keine Sorgen. Ich werde versuchen, ohne dich zurechtzukommen.«

Jezal brachte ein halbes Lächeln zustande. »Denk einfach immer daran, was ich dir gesagt habe, wenn du wieder einmal in einen Kampf verwickelt wirst.«

»Das wird wohl leider mit ziemlicher Sicherheit passieren.«

Schließlich blieb Jezal nichts anderes mehr übrig, als sich abzuwenden und an Land zu gehen, wobei er so tat, als ob ihm etwas ins Auge gekommen sei. Der Weg bis zum belebten Kai, wo er schließlich neben Bayaz und Quai, Langfuß und Ferro stand, erschien ihm sehr lang.

»Meister Neunfinger kann auf sich selbst aufpassen, würde ich vermuten«, sagte der Erste der Magi.

»O ja, mit Sicherheit«, kicherte Langfuß, »wenige können das besser als er!«

Jezal warf einen letzten Blick über die Schulter, während sie der Stadt entgegenstrebten. Logen hob die Hand von der Reling des Schiffes und winkte ihm zu, dann schob sich die Ecke eines Lagerhauses dazwischen, und er war verschwunden. Ferro trödelte kurz und sah mit grimmigem Gesicht und geballten Fäusten zum Meer hinüber, während ein Muskel in ihrem Gesicht zuckte. Dann wandte sie sich um und bemerkte, dass Jezal sie beobachtete.

»Was glotzt du so?« Damit drängte sie sich an ihm vorbei und folgte den anderen in das Gewimmel der Straßen von Adua.

Die Stadt war genau so, wie Jezal sie in Erinnerung hatte, und dennoch erschien ihm nun alles anders. Die Gebäude schienen kleiner als zuvor und wenig großzügig aneinandergedrängt. Selbst der breite Mittenweg, die große Hauptschlagader der Stadt, vermittelte einen schrecklich beengten Eindruck, verglichen mit dem weiten, offenen Land des alten Kaiserreichs und dem Ehrfurcht gebietenden Anblick des verfallenen Aulcus. Der Himmel war dort auf der großen Ebene höher gewesen. Hier war alles wie eingeschrumpft, und dann kam noch dieser unangenehme Geruch dazu, der ihm nie zuvor aufgefallen war. Er ging mit gerümpfter Nase weiter und wich dem entgegenkommenden Strom von Passanten ungeschickt aus.

Es waren vor allem die Menschen, die auf ihn nun so seltsam wirkten. Es war Monate her, dass Jezal mehr als zehn Leute auf einmal gesehen hatte. Und nun drängten sich Tausende um ihn, alle wild entschlossen eigene Ziele verfolgend. Weich, sauber geschrubbt und in grelle Farben gekleidet, erschienen sie ihm nun so ungewöhnlich wie Zirkusartisten. Die Mode hatte sich weiterentwickelt, während er unterwegs gewesen war und im öden Westen der Welt dem Tod ins Angesicht geblickt hatte. Nun trug man die Hüte in einem anderen Winkel, die Ärmel waren aufgeblähter und weiter geschnitten, und die Hemdkragen waren auf eine Breite geschrumpft, die man ein Jahr zuvor noch als lächerlich schmal empfunden hätte. Jezal schnaubte leise. Es schien bizarr, dass ihn so ein Unsinn je hatte interessieren können, und die Gruppe parfümierter Stutzer, die an ihm vorüberging, bedachte er mit einem äußerst verächtlichen Blick.

Die Reisegesellschaft löste sich auf ihrem Weg durch die Stadt allmählich auf. Als Erster verabschiedete sich Langfuß auf seine überschwängliche Weise mit allerlei Händeschütteln, viel Gerede von Ehre und dem Versprechen, sich einmal wiederzusehen; ein Versprechen, von dem Jezal vermutete und tatsächlich auch hoffte, dass es nicht ehrlich gemeint war. Nahe dem großen Marktplatz bei den Vier Ecken wurde Quai auf eine Besorgung oder dergleichen geschickt und verschwand, wie üblich mürrisch schweigend. Damit blieb ihm nur der Erste der Magi als Gesellschaft, während Ferro schlecht gelaunt hinter ihnen herschlurfte.

Wenn er ehrlich war, dann hätte es Jezal nichts ausgemacht, wenn sich die Gruppe noch weiter verkleinert hätte. Neunfinger mochte sich als treuer Kamerad erwiesen haben, aber von den Übrigen, die zu ihrer seltsamen Familie gehört hatten, wäre niemand auf Jezals Gästeliste für ein gelungenes Abendessen aufgetaucht. Schon längst hatte er die Hoffnung aufgegeben, es könnte sich ein Sprung in Ferros abwehrendem, missmutigem Gesichtsausdruck zeigen, der darunter eine milde Seele offenbarte. Aber wenigstens waren die Abgründe ihres Temperaments halbwegs berechenbar. Bayaz hingegen war als Gesellschaft wesentlich anstrengender: Auf der einen Seite gab er sich großväterlich und gemütlich, aber wer vermochte schon zu sagen, woraus seine andere Seite bestand? Sobald der alte Mann den Mund öffnete, zuckte Jezal bereits in der Erwartung einer unangenehmen Überraschung zusammen.

Im Augenblick war er es jedoch offenbar zufrieden, sich einfach nur mit ihm zu unterhalten. »Darf ich fragen, was nun Ihre Pläne sind, Hauptmann Luthar?«

»Nun ja, ich vermute, dass man mich nach Angland schicken wird, um gegen die Nordmänner zu kämpfen.«

»Das vermute ich auch. Obwohl wir ja nie wissen, wie sich unser Schicksal wenden mag.«

Diese Vorstellung gefiel Jezal gar nicht. »Und Sie? Gehen Sie wieder zurück nach ...« Ihm wurde bewusst, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, woher der Magus überhaupt jemals gekommen war.

»Noch nicht, nein. Ich werde ein wenig in Adua bleiben. Große Dinge werfen ihre Schatten voraus, mein Junge, große Dinge. Vielleicht bleibe ich noch und sehe mir an, was geschehen wird.«

»Beweg dich, du Schlampe!«, ertönte ein lauter Ruf vom Straßenrand.

Drei Mitglieder der Stadtwache umstanden eine junge Frau mit schmutzigem Gesicht und zerlumptem Kleid. Einer beugte sich über sie, einen Stock in der Faust, und brüllte sie an, während sie vor ihm zurückwich. Eine mürrische Menge hatte sich bereits versammelt und sah zu, hauptsächlich Arbeiter und Tagelöhner, die kaum sauberer waren als die Bettlerin selbst.

»Wieso lasst ihr sie nicht in Ruhe?«, knurrte ein Mann.

Einer der Wachmänner machte warnend einen Schritt auf die Leute zu und hob seinen Stock, während sein Kumpel die Bettlerin an der Schulter packte und dabei eine kleine Schale umstieß, so dass ihre wenigen Münzen in die Gosse rollten.

»Das ist doch wohl ein bisschen stark«, sagte Jezal unterdrückt.

»Nun.« Bayaz sah an seiner Nase herab. »So etwas passiert ständig. Wollen Sie mir sagen, Sie hätten nie zuvor erlebt, wie ein Bettler vertrieben wird?«

Natürlich hatte Jezal so etwas schon gesehen, oft sogar, und er hatte gewöhnlich nicht einmal die Augenbrauen gehoben, wenn das geschah. Schließlich konnte man nicht zulassen, dass Bettler die Straßen verstopften. Und dennoch vermittelte ihm diese Szene auf einmal ein sehr unbehagliches Gefühl. Das unglückliche Geschöpf trat um sich und schrie, während der Wachmann die Frau mit unnötiger Gewalt noch einen Schritt weiter zurückzerrte und dabei sichtlich seinen Spaß hatte. Es war nicht so sehr die Tat an sich, die Jezal gegen den Strich ging, sondern der Umstand, dass dies vor seinen Augen geschah, ohne dass man dabei auf seine Gefühle Rücksicht nahm. Das machte ihn gewissermaßen zum Komplizen.

»Das ist eine Schande«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne.

Bayaz zuckte die Achseln. »Wenn es Sie so sehr stört, wieso tun Sie dann nichts dagegen?«

Der Wächter beschloss ausgerechnet in diesem Augenblick, die junge Frau an ihrem struppigen Haar zu packen und ihr einen heftigen Schlag mit seinem Stock zu versetzen. Sie schrie auf und stürzte, die Arme schützend über den Kopf erhoben. Jezal fühlte, wie sich sein Gesicht verzerrte. Ruckzuck hatte er sich durch die Menge gedrängt und trat dem Kerl mit großer Wucht in den Hintern, so dass er mit einem Satz bäuchlings in der Gosse landete. Einer seiner Kameraden kam mit erhobenem Stock auf ihn zu, machte dann aber ein paar stolpernde Schritte zurück. Jezal merkte, dass er seine Eisen gezogen hatte; die polierten Klingen blinkten im Schatten der Häuser.

Die Umstehenden holten erschrocken Luft und drängten ebenfalls zurück. Jezal blinzelte. Er hatte nicht die Absicht gehabt, diese Sache derart weit zu treiben. Das lag alles an Bayaz und seinem blödsinnigen Rat. Aber nun hatte er keine andere Möglichkeit, als sie bis zum Ende durchzufechten. Er setzte sein furchtlosestes und überheblichstes Gesicht auf.

»Noch ein Schritt, und ich steche Sie ab wie das Schwein, das Sie sind.« Er sah von einem Wachmann zum anderen. »Nun? Möchte mich vielleicht einer von Ihnen auf die Probe stellen?« Er hoffte sehr, dass keiner es wagen würde, und seine Sorge erwies sich als grundlos. Im Angesicht des entschlossenen Widerstands waren die Wachmänner erwartungsgemäß feige und hielten sich vorsichtig außerhalb der Reichweite seiner Eisen.

»Niemand führt sich der Stadtwache gegenüber so auf. Wir werden Sie aufspüren, darauf können Sie sich verlassen ...«

»Mich zu finden, wird nicht weiter schwierig sein. Ich bin Hauptmann Luthar von den Königstreuen. Ich wohne im Agriont. Den können Sie nicht verfehlen, das ist die Festung, die diese Stadt überragt!« Er ließ die Klinge in die betreffende Richtung zucken, und einer der Wachmänner sprang angstvoll beiseite. »Ich werde Sie empfangen, wann immer es Ihnen passt, und dann können Sie meinem Gönner, Lord Marschall Varuz, Ihr beschämendes Verhalten gern erklären, wo doch diese Frau eine Bürgerin der Union ist, die sich keines anderen Verbrechens schuldig gemacht hat, als arm zu sein!«

Natürlich war das eine geradezu albern aufgeblasene Rede. Jezal wäre beinahe rot geworden, so peinlich war ihm der letzte Teil. Er hatte arme Menschen schon immer verabscheut, und er war sich keinesfalls sicher, dass sich seine Meinung über sie grundlegend geändert hatte, aber er war derart in Fahrt gekommen, dass ihm keine andere Wahl blieb, als zum Schluss noch einmal zu einer großen Geste auszuholen.

Dennoch verfehlten seine Worte keineswegs ihre Wirkung auf die Stadtwache. Die drei Männer zogen sich zurück und grinsten aus irgendeinem Grund, als sei die ganze Szene so verlaufen, wie sie es geplant hatten; dann überließen sie Jezal den peinlichen Gunstbezeigungen der Menge.

»Gut gemacht, Junge!«

»Großartig, dass doch noch so manch einer Mumm in den Knochen hat.«

»Was hat er gesagt, wie heißt er?«

»Hauptmann Luthar!«, brüllte Bayaz plötzlich, so dass Jezal, der gerade seine Eisen wieder in die Scheiden steckte, halb zu ihm herumfuhr. »Hauptmann Jezal dan Luthar, der Gewinner des Turniers im letzten Jahr, der gerade von seinen Abenteuern im Westen zurückgekehrt ist! Luthar heißt er!«

»Luthar, hat er gesagt?«

»Der, der das Turnier gewonnen hat?«

»Das ist er! Ich habe gesehen, wie er Gorst besiegt hat!«

Die Menge starrte ihn nun mit großen Augen und voller Respekt an. Einer streckte die Hand aus, als wolle er den Saum seines Mantels berühren, und Jezal stolperte rückwärts, wobei er um ein Haar über die Bettelfrau gefallen wäre, die der Auslöser dieser scheußlichen Szene gewesen war.

»Danke!«, stieß sie hervor, und ihr hässlicher, gewöhnlicher Akzent klang aus ihrem blutigen Mund nur noch abstoßender. »Oh, ich danke Ihnen so sehr, mein Herr.«

»Keine Ursache.« Jezal wich zurück und fühlte sich äußerst unbehaglich. Sie war, derart aus der Nähe betrachtet, schrecklich schmutzig, und er hatte nicht den Wunsch, sich bei ihr mit einer Krankheit anzustecken. Die Aufmerksamkeit der Leute war insgesamt alles andere als angenehm. Er ging weiter langsam rückwärts, während sie ihn beobachteten, lächelten und bewundernde Worte murmelten.

Ferro sah ihn finster an, als sie die Vier Ecken allmählich hinter sich ließen. »Ist was?«, blaffte er.

Sie zuckte die Achseln. »Du bist nicht mehr ganz so ein Feigling wie früher.«

»Herzlichen Dank für dieses großzügige Kompliment.« Er wandte sich an Bayaz. »Was, zur Hölle, sollte das?«

»Sie haben einen Akt der Nächstenliebe vollführt, mein Junge, und ich war stolz, das mit ansehen zu dürfen. Es scheint, dass die Lektionen, die ich Ihnen erteilt habe, doch ein wenig auf fruchtbaren Boden gefallen sind.«

»Ich meinte«, knurrte Jezal, der tatsächlich der Ansicht war, aus Bayaz’ ständigen Vorträgen überhaupt nichts gelernt zu haben, »was haben Sie sich dabei gedacht, meinen Namen vor der ganzen Welt herauszuposaunen? Die Geschichte wird sich in der ganzen Stadt wie ein Lauffeuer verbreiten!«

»Daran hatte ich nicht gedacht.« Der Magus lächelte fein. »Ich hatte lediglich das Gefühl, dass Sie auch den Ruhm für Ihre noble Tat einheimsen sollten. Sie, der Sie den weniger Glücklichen beispringen, einer Dame in Bedrängnis helfen, die Schwachen beschützen und so weiter. Wahrlich bewundernswert.«

»Aber ...«, begann Jezal, der sich nun nicht mehr sicher war, ob er vielleicht schlicht zum Besten gehalten wurde.

»Hier trennen sich unsere Wege, mein junger Freund.« »Oh. Tun sie das?«

»Wohin gehst du?«, fragte Ferro misstrauisch.

»Ich habe ein paar Angelegenheiten zu erledigen«, sagte der Magus, »und du wirst mich begleiten.«

»Wieso sollte ich?« Sie schien, seit sie das Schiff verlassen hatten, sogar noch schlechterer Laune zu sein als sonst, und das war immerhin eine reife Leistung.

Bayaz verdrehte die Augen himmelwärts. »Weil dir die Umgangsformen fehlen, die es dir erlauben würden, länger als fünf Minuten allein in einer Stadt wie dieser zu überleben. Wieso denn sonst? Sie werden sicherlich zum Agriont gehen, nehme ich an?«, wandte er sich nun an Jezal.

»Ja. Ja, natürlich.«

»Nun gut. Ich möchte Ihnen danken, Hauptmann Luthar, für die Rolle, die Sie in unserem kleinen Abenteuer gespielt haben.«

»Wie können Sie es wagen, Sie magiebesessenes Arschloch? Diese ganze Geschichte war eine enorme, schmerzvolle, entstellende Verschwendung meiner Zeit und ist zudem in Gänze gescheitert.« Aber was Jezal dann wirklich sagte, war: »Natürlich, gern.« Er gab dem alten Mann die Hand und wollte sie schlaff ein wenig schütteln. »Es war mir eine Ehre.«

Bayaz’ Griff war erschreckend fest. »Das freut mich zu hören.« Jezal fand sich unversehens überraschend dicht vor dem Gesicht des alten Mannes und starrte nun aus unbehaglich großer Nähe in seine funkelnden grünen Augen. »Vielleicht wird die Notwendigkeit bestehen, noch einmal zusammenzuarbeiten.«

Jezal blinzelte. Zusammenarbeit war in diesem Zusammenhang ein wirklich hässliches Wort. »Nun ... äh ... dann werde ich Sie ja vielleicht ... später wiedersehen?« Lieber hätte er »niemals« gesagt.

Aber Bayaz grinste nur, während er Jezals prickelnde Finger losließ. »Oh, ich habe ganz sicher das Gefühl, dass wir uns wiedersehen werden.«

Die Sonne schien freundlich durch die Zweige der Duftzeder und warf einen unregelmäßigen Schatten auf den Boden, genau wie immer. Eine angenehme Brise strich über den Hof, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen, so wie sie es stets getan hatten. Die alten Kasernengebäude hatten sich nicht verändert, sie umschlossen, von Efeu überwuchert, den engen Hof an allen Seiten. Aber hier endete die Übereinstimmung mit Jezals glücklichen Erinnerungen. Ein Schimmer von Moos war die Beine der Stühle hinauf gekrochen, die Platte des Tisches war dick mit Vogeldreck überkrustet, das Gras hatte man seit Wochen nicht geschnitten, und Jezal schlugen die Köpfe kräftiger Unkräuter gegen die Waden, als er über den Rasen schritt.

Die Kartenspieler von damals waren lange schon nicht mehr da. Er verfolgte das Schattenspiel auf dem grauen Holz, erinnerte sich an das Geräusch ihres Lachens, an den Geschmack von Rauch und starker geistiger Getränke, an das Gefühl der Karten in seiner Hand. Hier hatte Jalenhorm gesessen, wie immer hart und männlich spielend. Hier hatte Kaspa über die Witze gelacht, die man auf seine Kosten riss. Hier hatte sich West zurückgelehnt und mit resignierter Missbilligung den Kopf geschüttelt. Hier hatte Brint nervös sein Blatt sortiert und auf die großen Gewinne gehofft, die sich niemals einstellten.

Und hier war Jezals Platz gewesen. Er zog den Stuhl aus dem Gras, das dessen Beine umklammerte, setzte sich, legte einen Stiefel auf den Tisch und kippelte auf die hinteren Stuhlbeine. Es erschien ihm auf einmal kaum vorstellbar, dass er einst hier gesessen hatte, die anderen beobachtete, sie auszutricksen versuchte und darüber nachdachte, wie es ihm am besten gelingen würde, seine Freunde neben sich klein zu machen. Er versicherte sich, dass er sich nun nicht mehr auf derart närrische Beschäftigungen einlassen wollte. Jedenfalls nicht für mehr als ein paar Runden.

Wenn er erwartet hatte, sich nach einer ausgiebigen Wäsche, einer sorgfältigen Rasur, dem Auszupfen einiger Stoppeln und dem langwierigen Zurechtlegen seiner Frisur wieder heimisch zu fühlen, dann wurde er enttäuscht. Die vertraute Körperpflege vermittelte ihm nur noch mehr den Eindruck, in seiner eingestaubten Wohnung ein Fremder zu sein. Es fiel ihm schwer, sich am Glanz der Stiefel und Knöpfe zu ergötzen oder an der Anordnung der goldenen Tressen.

Als er endlich vor dem Spiegel stand, wo er früher so viele angenehme Stunden zugebracht hatte, beunruhigte ihn sein eigener Anblick entschieden. Ein hagerer, wettergegerbter Abenteurer sah ihn mit hellen Augen aus dem Visserine-Glas an, und dem sandfarbenen Bart gelang es kaum, die hässliche Narbe an seinem schiefen Kiefer zu verdecken. Seine alten Uniformen saßen allesamt unangenehm eng, der gestärkte Stoff kratzte, und der hohe Kragen würgte ihn. Er hatte überhaupt nicht mehr das Gefühl, in diese Kleidung hineinzupassen. Er empfand sich nicht länger als Soldat.

Auch hatte er keine Ahnung, bei wem er sich nun melden sollte, nachdem er so lange unterwegs gewesen war. Jeder Offizier, der ihm einfiel, war mit dem Heer in Angland, jedenfalls soweit er wusste. Vermutlich hätte er sich an Lord Marschall Varuz wenden können, wenn er es wirklich gewollt hätte, aber inzwischen hatte er genug über Gefahren gelernt, um ihnen nicht willentlich entgegenzueilen. Er würde seine Pflicht tun, wenn man es von ihm verlangte. Aber dafür würde man ihn zunächst einmal aufspüren müssen.

In der Zwischenzeit gab es andere Dinge, um die er sich kümmern musste. Allein der Gedanke daran versetzte ihn gleichzeitig in Angst und Aufregung, und er schob sich einen Finger in den Kragen und zerrte an dem Stoff, um den Druck auf seine Kehle zu vermindern. Es nützte nichts. Aber, wie Lögen Neunfinger immer so gern gesagt hatte: Wenn man etwas tun muss, vor dem man sich fürchtet, dann geht man die Sache besser gleich an, statt lange mit der Angst zu leben. Er nahm seinen Paradedegen zur Hand, doch nachdem er eine Minute lang auf die unsinnigen Messingverzierungen am Griff gestarrt hatte, warf er die Waffe zu Boden und schob sie mit einem Fußtritt unter das Bett. Erscheine geringer, als du bist, hätte Logen gesagt. Also nahm er sein von der Reise abgeschabtes langes Eisen wieder an sich und steckte es durch die Schlaufe in seinem Gürtel, holte tief Luft und ging aus der Tür.

Die Straße hatte überhaupt nichts Einschüchterndes an sich. Sie lag in einem ruhigen Viertel der Stadt, abseits des lebhaften Handels und des lärmenden Gewerbes. In einer Nebenstraße bot ein Scherenschleifer mit kehliger Stimme seine Dienste an. Unter den Dachvorsprüngen der bescheidenen Häuser gurrte eine Taube. Irgendwo in der Nähe ertönte das Geräusch klappernder Hufe und knirschender Wagenräder und entfernte sich wieder. Ansonsten war alles still.

Er war bereits einmal in jede Richtung am Haus vorübergegangen und wagte es nicht, das noch einmal zu tun, weil er fürchtete, Ardee könne ihn aus einem der Fenster erblicken, ihn erkennen und sich fragen, was zur Hölle er dort trieb. Also schlenderte er nun den oberen Teil der Straße entlang und übte, was er sagen wollte, wenn sie die Tür öffnete.

»Ich bin zurückgekehrt.« Nein, viel zu geschraubt. »Hallo, wie geht es Ihnen?« Nein, viel zu lässig. »Ich bin es, Luthar.« Zu steif. »Ardee ... ich habe Sie vermisst.« Zu bedürftig. Als er entdeckte, dass ihn ein Mann aus einem Fenster im oberen Stockwerk finster ansah, hüstelte er und ging nun schnellen Schrittes zu Ardees Haus hinüber, wobei er immer wieder vor sich hinmurmelte. »Die Sache gleich angehen, die Sache gleich angehen ...«

Seine Faust schlug gegen die Tür. Dann stand er da und wartete, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Riegel klickte, und Jezal setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. Die Tür öffnete sich, und vor ihm stand ein kurz gewachsenes, rundgesichtiges und höchst unattraktives Mädchen, das ihn von der Schwelle aus anstarrte. Es bestand kein Zweifel: Wie auch immer sich die Dinge geändert haben mochten, das war nicht Ardee. »Ja?«

»Ähm ...« Ein Dienstmädchen. Wie hatte er nur so dumm sein können zu glauben, dass Ardee höchstselbst die Haustür öffnen würde? Sie war zwar eine Bürgerliche, aber doch keine Bettlerin. Er räusperte sich. »Ich bin zurückgekehrt ... ich meine ... wohnt Ardee West hier?«

»Das tut sie.« Das Dienstmädchen öffnete die Tür nun weit genug, dass Jezal in den düsteren Flur treten konnte. »Wen darf ich melden?«

»Hauptmann Luthar.«

Ihr Kopf fuhr herum, als ob er an einem unsichtbaren Band befestigt sei, an dem jemand mit einem Ruck gezogen hatte. »Hauptmann ... Jezal dan Luthar?«

»Ja«, murmelte er überrascht. Hatte Ardee vielleicht mit dieser Bediensteten über ihn gesprochen?

»Oh ... oh, wenn Sie einen Augenblick warten wollen ...« Das Mädchen deutete auf eine Tür und eilte mit aufgerissenen Augen davon, als ob der Imperator von Gurkhul auf Besuch gekommen sei.

Das düstere Wohnzimmer wirkte, als ob es jemand eingerichtet hätte, der zu viel Geld, zu wenig Geschmack und nicht annähernd genug Platz für die eigenen Ambitionen besaß. Es gab einige grell bezogene und aufwändig gepolsterte Stühle, eine übergroße und übertrieben verzierte Vitrine, und an einer Wand hing ein Gemälde, für das man, wenn es nur ein wenig größer gewesen wäre, die Wand zum Nachbarhaus hätte einreißen müssen. Zwei staubdurchwirbelte, breite Lichtstrahlen blitzten durch die Lücken zwischen den Vorhängen und schimmerten auf der hochpolierten, wenn auch etwas unebenen Platte eines antiken Tischs. Für sich genommen wäre jedes der Möbelstücke wohl durchgegangen, aber in dieser Zusammenstellung wirkten sie erdrückend. Dennoch, sagte sich Jezal, als er sich stirnrunzelnd umsah, er war schließlich wegen Ardee gekommen und nicht wegen ihrer Möbel.

Es war schon albern. Seine Knie waren weich, sein Mund trocken, sein Kopf drehte sich, und mit jedem Augenblick, der verging, wurde es schlimmer. Nicht einmal in Aulcus hatte er solche Angst gehabt, als eine Rotte brüllender Schanka ihn verfolgt hatte. Nervös tigerte er durch das Zimmer, ballte die Fäuste und lockerte sie wieder. Dann sah er auf die ruhige Straße hinaus. Er beugte sich über einen Stuhl, um das riesige Gemälde genauer in Augenschein zu nehmen. Ein muskulös wirkender König saß mit einer übergroßen Krone da, während Edelleute in Pelzen vor ihm knieten und sich ihm zu Füßen versammelten. Harod der Große, wie Jezal vermutete, aber diese Erkenntnis machte ihn auch nicht froh. Bayaz’ liebstes und auch langweiligstes Gesprächsthema waren die Leistungen dieses Mannes gewesen. Harod der Große hätte sich, was Jezal anging, in Essig einlegen lassen dürfen. Harod der Große konnte ihn mal ...

»Na, sieh mal einer an.«

Sie stand in der Tür, das helle Licht aus dem Flur hinter ihr schimmerte auf ihrem dunklen Haar und an den Rändern ihres weißen Kleids. Den Kopf hatte sie ein wenig zur Seite gelegt, und die winzige Spur eines Lächelns lag auf ihrem schattenumlagerten Gesicht. Offenbar hatte sie sich kaum verändert. Oft im Leben sind jene Augenblicke, die man so lange herbeisehnt, große Enttäuschungen. Aber das Wiedersehen mit Ardee nach dieser langen Trennung war ganz eindeutig eine Ausnahme dieser Regel. All seine sorgfältig zurechtgelegte Konversation verpuffte im Bruchteil eines Augenblicks, und sein Kopf war plötzlich so leer wie an jenem Tag, als er sie das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.

»Sie leben also noch«, sagte sie leise.

»Ja ... äh ... gerade so eben.« Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Dachten Sie, ich sei tot?«

»Ich hatte es gehofft.« Das trieb ihm das Lächeln sofort wieder aus dem Gesicht. »Weil ich nicht einmal einen einzigen Brief bekam. Aber wenn ich ehrlich bin, dann glaubte ich eher, Sie hätten mich vergessen.«

Jezal verzog das Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht geschrieben habe, wirklich sehr leid. Ich wollte ja ...« Sie schloss die Tür und lehnte sich, die Hände hinter dem Rücken, gegen das Holz, während sie ihn weiterhin mürrisch ansah. »Es verging kein Tag, ohne dass ich Ihnen schreiben wollte. Aber ich wurde abberufen und hatte überhaupt keine Gelegenheit, irgendjemanden zu benachrichtigen, noch nicht einmal meine Familie. Ich war ... weit, weit weg, im Westen.«

»Das habe ich gehört. Die ganze Stadt erzählt sich davon, und wenn ich es schon gehört habe, dann muss es wirklich allgemein bekannt sein.«

»Sie haben es gehört?«

Ardee machte eine Kopfbewegung in Richtung Flur. »Von dem Dienstmädchen.«

»Von dem Dienstmädchen?« Wie, zur Hölle, konnte es sein, dass irgendjemand in Adua, und dann noch Ardee Wests Dienstmädchen, etwas von seinem Unglück erfahren hatte? Plötzlich überfielen ihn unangenehme Bilder. Grüppchen von Bediensteten, die über die Vorstellung kicherten, wie er wegen seines zerschlagenen Gesichts heulte. Dass jeder auch nur einigermaßen bedeutende Mensch in der Stadt darüber klatschte, wie dämlich er ausgesehen haben musste, als ihn ein vernarbter, grobschlächtiger Nordmann mit einem Löffel fütterte. Er fühlte, dass er bis über die Ohren errötete. »Was hat sie erzählt?«

»Oh, Sie wissen schon.« Sie schritt gedankenverloren durch das Zimmer. »Dass Sie bei der Belagerung von Darmium die Mauern erkletterten, nicht wahr? Dass Sie dann den Truppen des Kaisers die Tore öffneten und so weiter.«

»Was?« Jetzt war er noch verwirrter als zuvor. »Darmium? Ich meine ... wer hat ihr erzählt ...«

Sie kam nun näher, noch näher, und er wurde immer nervöser, bis er stotternd abbrach. Noch näher kam sie, und nun sah sie mit leicht geöffneten Lippen zu ihm auf. Sie war so nahe, dass er sich sicher war, dass sie ihn in ihre Arme nehmen und küssen würde. So nahe, dass er sich voll Vorfreude ein wenig nach vorn beugte und halb die Augen schloss, während seine Lippen bereits prickelten ... Und dann ging sie an ihm vorüber, so dass ihr Haar beinahe sein Gesicht streifte, und trat zu der Vitrine, öffnete eine Tür und nahm einen Dekanter heraus, während sie ihn auf dem Teppich gestrandet zurückließ.

Wortlos wie ein Narr sah er zu, wie sie zwei Gläser füllte und ihm eines hinhielt, wobei der Wein über den Rand schwappte und klebrig am Glas herunterrann. »Sie haben sich verändert.« Jezal fühlte plötzliche Scham, und seine Hand zuckte an sein Kinn, um instinktiv die Narbe am Kiefer zu verdecken. »Das meine ich nicht. Jedenfalls nicht nur. Alles. Sie sind irgendwie anders.«

»Ich ...« Die Macht, die sie über ihn besaß, war, wenn überhaupt, noch stärker als früher. Da hatte es das Gewicht der Erwartungen, die langen Tagträume und die Vorfreude in der Wildnis noch nicht gegeben. »Ich habe Sie vermisst.« Er sagte es, ohne nachzudenken, merkte dann, dass er rot wurde, und versuchte, das Thema zu wechseln. »Haben Sie von Ihrem Bruder gehört?«

»Er hat mir jede Woche geschrieben.« Sie warf den Kopf in den Nacken und leerte ihr Glas, dann füllte sie es wieder. »Jedenfalls, seit ich herausfand, dass er noch lebte.«

»Was?«

»Ich hielt ihn für tot, einen Monat lang oder noch länger. Er war gerade so eben einer Schlacht entronnen.«

»Es gab eine Schlacht?«, kiekste Jezal, erinnerte sich dann aber sofort, dass ja Krieg herrschte. Natürlich hatte es Schlachten geben müssen. Er brachte seine Stimme wieder in seine Gewalt. »Was für eine Schlacht?«

»Die, bei der Prinz Ladisla getötet wurde.«

»Ladisla ist tot?«, quietschte er nun, und wieder schoss seine Stimme in mädchenhafte Höhen. Er hatte den Kronprinzen nur wenige Male gesehen, und der Mann hatte stets einen derart selbstzentrierten Eindruck vermittelt, dass er unantastbar wirkte. Es war kaum vorstellbar, dass man ihn einfach so mit einem Schwert hatte erschlagen oder mit einem Pfeil erschießen können und dass er dann gestorben wäre wie jeder andere auch, aber so war es.

»Und dann wurde sein Bruder ermordet ...«

»Raynault? Ermordet?«

»In seinem Bett im Palast. Wenn der König stirbt, wird man durch eine Wahl im Offenen Rat einen neuen bestimmen.«

»Eine Wahl?« Jezals Stimme erklomm derartige Höhen, dass er ganz hinten in der Kehle beinahe ein wenig Erbrochenes spürte.

Sie schenkte sich bereits wieder nach. »Uthmans Botschafter wurde für den Mord gehenkt, obwohl er höchstwahrscheinlich unschuldig war, und deswegen schleppt sich der Krieg mit den Gurkhisen weiter dahin ...«

»Wir sind auch im Krieg mit den Gurkhisen?«

»Dagoska ist zu Beginn des Jahres gefallen.«

»Dagoska ... ist gefallen?« Jezal leerte sein Glas mit einem langen Schluck und starrte auf den Teppich, während er versuchte, all diese Neuigkeiten in seinem Kopf zu sortieren. Er hätte eigentlich nicht überrascht sein sollen, dass sich allerlei ereignet hatte, während er unterwegs gewesen war, aber dass die ganze Welt beinahe auf dem Kopf stand, hatte er nun doch nicht erwartet. Krieg mit den Gurkhisen, Schlachten im Norden, eine Wahl zur Ernennung des nächsten Königs?

»Brauchen Sie noch einen Schluck?«, fragte Ardee und schwenkte den Dekanter in ihrer Hand.

»Ich glaube, ich sollte noch einen nehmen, ja.« Große Ereignisse, natürlich, ganz wie Bayaz gesagt hatte. Er sah ihr beim Einschenken zu, wie sie angespannt und beinahe zornig beobachtete, wie der Wein aus der Öffnung gurgelte. Dabei entdeckte er eine kleine Narbe auf ihrer Oberlippe, die ihm noch nie zuvor aufgefallen war, und er spürte plötzlich das Verlangen, sie zu berühren, seine Finger in ihrem Haar zu versenken und sie an sich zu pressen. Große Ereignisse, aber sie erschienen ihm plötzlich unbedeutend im Vergleich zu dem, was hier, in diesem Zimmer, geschah. Wer konnte es voraussagen? Sein ganzes Leben mochte sich in den nächsten wenigen Augenblicken verändern, wenn er nur die rechten Worte finden und sich dazu überwinden könnte, sie zu sagen.

»Ich habe Sie wirklich vermisst«, brachte er hervor. Ein erbärmlicher Versuch, den sie mit einem verächtlichen Schnauben quittierte.

»Seien Sie nicht albern.«

Er griff nach ihrer Hand und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich war mein ganzes Leben lang albern. Aber jetzt nicht. Es gab Zeiten, dort draußen auf der Ebene, da mich nur eines am Leben hielt, nämlich der Gedanke, dass ... dass ich vielleicht wieder bei Ihnen sein würde. Jeden Tag wollte ich Sie wiedersehen ...« Sie tat nichts, außer ihn völlig unbeeindruckt anzustarren. Ihre Weigerung, in seinen Armen dahinzuschmelzen, war höchst frustrierend, nach all dem, was er durchgemacht hatte. »Ardee, bitte, ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu streiten.«

Sie warf dem Fußboden einen finsteren Blick zu, während sie noch ein Glas hinunterstürzte. »Ich habe keine Ahnung, weswegen Sie überhaupt gekommen sind.«

»Weil ich dich liebe und weil ich nie wieder ohne dich sein will! Bitte sag mir, dass du meine Frau werden willst!« Beinahe hätte er diese Worte laut ausgesprochen, aber im letzten Augenblick bemerkte er ihren verächtlichen Gesichtsausdruck und hielt inne. Er hatte ganz vergessen, wie schwierig sie sein konnte. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Ich habe Sie im Stich gelassen, ich weiß. Ich bin hierher geeilt, so schnell ich konnte, aber ich sehe, Sie sind nicht in der richtigen Stimmung. Ich werde ein anderes Mal wiederkommen.«

Er schob sich an ihr vorbei und hielt auf die Tür zu, aber Ardee war schneller, drehte den Schlüssel im Schloss herum und zog ihn ab. »Sie lassen mich hier ganz allein, schreiben mir nicht einmal, und wenn Sie dann zurückkommen, dann wollen Sie mich ohne einen Kuss verlassen?« Damit trat sie ruckartig einen Schritt auf ihn zu, und Jezal fuhr unwillkürlich zurück.

»Ardee, Sie sind betrunken.«

Sie warf verärgert den Kopf herum. »Ich bin immer betrunken. Sagten Sie nicht, Sie hätten mich vermisst?«

»Aber«, murmelte er und begann aus irgendeinem Grund plötzlich, sich ein wenig zu fürchten, »ich dachte ...«

»Da haben Sie Ihr Problem, sehen Sie? Das Denken! Das liegt Ihnen nicht besonders.« Sie trieb ihn zurück, bis er gegen die Tischplatte stieß, und er blieb mit dem Bein so ungeschickt hinter seinem Degen hängen, dass er mit der Hand hinter sich greifen und sich abstützen musste, um nicht zu fallen.

»Habe ich denn nicht auch gewartet?«, hauchte sie, und ihr Atem, der über sein Gesicht strich, war heiß und süßsauer vom Wein. »Ganz, wie Sie mich gebeten haben?« Ihr Mund berührte sanft den seinen, und dann fuhr ihre Zunge hervor und stieß gegen seine Lippen. Aus ihrer Kehle drangen gurrende Laute, und sie drängte sich gegen ihn. Er spürte, wie ihre Hand nach seinem Schritt tastete und ihn durch seine Hosen sanft massierte.

Es war natürlich ein sehr angenehmes Gefühl und führte dazu, dass er sofort hart wurde. Wirklich extrem angenehm, aber gleichzeitig auch mehr als nur ein wenig irritierend. Er sah nervös zur Tür. »Was ist mit den Dienstboten?«, krächzte er.

»Wenn ihnen irgendetwas nicht gefällt, können sie sich verdammt noch mal eine andere Stelle suchen. Sie sind nicht auf mein Betreiben hier.«

»Aber wer hat sie – ah!«

Sie krallte ihre Finger in sein Haar und riss ihm schmerzhaft den Kopf zurück, so dass sie ihm nun direkt ins Gesicht sah. »Vergessen Sie das! Sie sind doch meinetwegen hierhergekommen, oder nicht?«

»Ja ... ja, natürlich!«

»Dann sagen Sie es!« Ihre Hand griff fest in seine Hosen. Fast tat es ein bisschen weh, aber nur fast.

»Ah ... ich kam Ihretwegen hierher.«

»Nun? Hier bin ich.« Und ihre Finger machten sich an seinem Gürtel zu schaffen und zogen ihn auf. »Da müssen Sie jetzt nicht schüchtern sein.«

Er versuchte, ihr Handgelenk zu packen. »Ardee, warten Sie ...« Ihre andere Hand verpasste ihm einen harten Schlag ins Gesicht und schleuderte ihm den Kopf zur Seite, heftig genug, dass ihm die Ohren dröhnten.

»Sechs Monate habe ich hier herumgesessen und nichts getan!«, zischte sie ihm ins Gesicht, die Worte leicht undeutlich hervorstoßend. »Wissen Sie überhaupt, wie sehr ich mich gelangweilt habe? Und jetzt verlangen Sie von mir, dass ich warte? Ficken Sie sich doch selbst!« Sie fuhr grob in seine Hosen und zog sein Glied heraus, rieb es mit einer Hand und drückte die andere gegen sein Gesicht, während er die Augen schloss, flach in ihren Mund hineinatmete und nichts anderes mehr sein Denken bestimmte als nur ihre Finger.

Ihre Zähne knabberten an seiner Lippe. Beinahe schmerzte es, als sie sich über ihn hermachte. »Ah!«, schnaufte er. »Ah!« Jetzt biss sie ihn tatsächlich. Sie biss richtig entschlossen zu, als sei seine Lippe ein Stück Knorpel, das zerteilt werden musste. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, aber er hatte den Tisch im Rücken, und sie hielt ihn fest. Der Schmerz war fast so groß wie der Schreck, dann aber, als sie weiter zubiss, überwog er schließlich deutlich.

»Aaargh!« Er packte ihr Handgelenk und verdrehte es hinter ihrem Rücken, riss sie herum und drückte nun sie auf den Tisch hinunter. Er hörte ihr Keuchen, als ihr Gesicht hart gegen das polierte Holz gestoßen wurde.

Rasch beugte er sich über sie, doch ein Gefühl der Bestürzung ließ ihn verharren. Sein Mund war von salzigem Blutgeschmack erfüllt. Er konnte ein dunkles Auge durch Ardees verwuscheltes Haar sehen, wie es ihn ausdruckslos über ihre verdrehte Schulter hinweg beobachtete. Das Haar bewegte sich rund um ihren Mund, als sie hastig atmete. Dann ließ er plötzlich ihr Handgelenk los, sah, wie sich ihr Arm bewegte und entdeckte die zornigroten Spuren, die seine Finger auf ihrer Haut hinterlassen hatten. Seine Hand glitt nach unten, packte eine Hand voll Kleid und zog es hoch, dann griff er erneut in den Stoff, bis sich ihre Röcke um ihre Hüften türmten und ihr nackter, weißer Po zu ihm aufragte.

Nun denn. Er war vielleicht ein neuer Mann geworden, aber dessen ungeachtet war er doch immer noch ein Mann.

Bei jedem Stoß stieß ihr Kopf leicht gegen den Putz, seine Haut klatschte gegen die Rückseite ihrer Schenkel, und seine Hosen rutschten ihm immer tiefer und tiefer die Beine hinunter, bis der Knauf seines Degens über den Teppich schrammte. Bei jedem Stoß gab der Tisch ein wütendes Knarren von sich, als ob sie sich über dem Rücken eines missbilligenden alten Mannes fickten. Bei jedem Stoß gab Ardee ein Stöhnen von sich, und Jezal keuchte – nicht direkt aus Lust oder Schmerz, sondern aus reiner Notwendigkeit, um für diese Kraftanstrengung genug Luft in die Lungen zu bekommen. Es war alles in gnädiger Schnelligkeit vorüber.

Oft im Leben sind jene Augenblicke, die man lange herbeisehnt, große Enttäuschungen. Dieser Moment gehörte zweifelsohne dazu. Immer wieder hatte er sich das Wiedersehen mit Ardee ausgemalt, während all der unendlichen Stunden auf der weiten Ebene, die er sattelwund und um sein Leben fürchtend zugebracht hatte, aber nie hatte er sich dabei einen derart schnellen und harten Akt auf dem Tisch in ihrem geschmacklosen Wohnzimmer vorgestellt. Als sie fertig waren und er sein schlaffes Glied wieder in der Hose verstaut hatte, fühlte er sich schuldig, verschämt und entsetzlich elend. Er hörte das Klicken seiner Gürtelschnalle und hätte am liebsten sein Gesicht gegen die Wand geschlagen.

Sie richtete sich auf, ließ ihre Röcke hinunterrutschen und glättete sie, das Gesicht dem Boden zugewandt. Er griff nach ihrer Schulter. »Ardee ...« Zornig wehrte sie ihn ab und ging davon. Dabei warf sie etwas hinter sich auf den Boden, das klappernd auf den Teppich fiel. Den Schlüssel zur Tür.

»Du kannst gehen.«

»Ich kann was?«

»Geh! Du hast doch bekommen, was du wolltest, oder nicht?«

Er leckte sich ungläubig die blutige Lippe. »Du glaubst, das sei es, was ich gewollt hätte?« Schweigen antwortete ihm. »Ich liebe dich.«

Sie gab eine Art Husten von sich, als ob ihr übel werden wollte, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Wieso?«

Er war sich nicht sicher, ob er das wusste. Er war sich auch nicht darüber im Klaren, was er meinte oder wie er überhaupt fühlte. Am liebsten hätte er von vorn angefangen, aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Die ganze Angelegenheit war ein unerklärlicher Albtraum, von dem er schnell zu erwachen hoffte. »Was meinst du damit, wieso?«

Sie beugte sich vor, die Fäuste geballt, und schrie ihn an: »Ich bin ein verdammtes Nichts! Jeder, der mich kennt, hasst mich! Mein eigener Vater hat mich gehasst! Mein eigener Bruder!« Ihr brach die Stimme, ihr Gesicht verzerrte sich, und ihr Mund zuckte vor Zorn und innerer Qual. »Alles, was ich berühre, zerstöre ich! Ich bin nichts als Dreck! Wieso begreifst du das nicht?« Damit schlug sie sich die Hände vors Gesicht, wandte ihm den Rücken zu, und ihre Schultern zuckten.

Er sah sie blinzelnd an, und seine eigenen Lippen bebten ebenfalls. Der alte Jezal dan Luthar wäre wahrscheinlich schnellstens nach dem Schlüssel getaucht, aus dem Zimmer gerannt und auf die Straße geflüchtet, um nie wieder zurückzukehren, und er hätte sich glücklich geschätzt, so leicht davongekommen zu sein. Der neue dachte ebenfalls über diese Möglichkeit nach. Sehr intensiv sogar. Aber er hatte mehr Charakter. Jedenfalls redete er sich das ein.

»Ich liebe dich.« Die Worte schmeckten in seinem blutigen Mund nach Lüge, aber er war nun zu weit gegangen, um noch umkehren zu können. »Ich liebe dich immer noch.« Nun ging er auf sie zu, und obwohl sie ihn wegzuschubsen versuchte, legte er den Arm um sie. »Es hat sich nichts verändert.« Er vergrub seine Finger in ihrem Haar und drückte ihren Kopf sachte an seine Brust, während sie leise weinte und Rotz auf seine bunte Uniform tropfen ließ.

»Es hat sich nichts verändert«, flüsterte er. Aber das stimmte nicht.