VERGRABEN UND VERGESSEN

Wenn der Kampf vorüber ist, dann gräbt man, wenn man noch lebt. Man hebt Gräber aus für die toten Kameraden. Als letzte Achtungsbezeugung, egal, wie wenig man davon vielleicht für sie gehabt haben mag. Man gräbt so tief, wie man es für nötig hält, man schmeißt sie hinein, man deckt sie zu, sie verfaulen und sind vergessen. So war es schon immer.

Es würde ziemlich viel gegraben werden, wenn dieser Kampf vorbei wäre. Verdammt viel auf beiden Seiten.

Zwölf Tage waren nun vorüber, seit das Feuer erstmals vom Himmel gefallen war. Seit der Zorn Gottes auf diese hochmütigen Rosigs niedergegangen war und ihre stolze Stadt in schwarzen Schutt und Asche gelegt hatte. Zwölf Tage, seit das Töten begonnen hatte – auf den Mauern, in den Straßen, zwischen den Häusern. Seit zwölf Tagen, im kalten Sonnenlicht, im nieselnden Regen, im erstickenden Rauch, seit zwölf Tagen hatte Ferro stets im Licht der flackernden Feuer inmitten des Gewimmels mitgemischt.

Ihre Stiefel klatschten auf die polierten Fliesen und hinterließen schwarze Spuren auf dem makellosen Korridor. Asche. Die zwei Bezirke, in denen die Kämpfe tobten, waren jetzt ganz und gar damit bedeckt. Sie hatte sich mit dem dünnen Regen zu einer zähen Masse verbunden, wie schwarzer Klebstoff. Die Gebäude, die noch standen, und die schwarzen Ruinen derer, die es nicht mehr gab, die Menschen, die töteten, und jene, die starben – alles war damit bedeckt. Die verächtlich dreinblickenden Wächter und die Dienstboten mit ihren verkniffenen Gesichtern sahen ihr und den Spuren, die sie hinterließ, finster nach, aber sie hatte noch nie einen Scheiß drauf gegeben, was diese Leute über andere dachten, und damit würde sie nun auch nicht anfangen. Schon bald würden sie hier so viel Asche haben, dass sie gar nicht wissen würden, wohin damit. Die ganze Stadt würde nichts als Asche sein, wenn die Gurkhisen die Oberhand gewannen.

Und inzwischen sah es so aus, als ob genau das geschehen würde. Tag und Nacht, trotz aller Bemühungen der zerlumpten Verteidiger, trotz all ihrer Toten, die zwischen den Ruinen zurückblieben, arbeiteten sich die Truppen des Imperators allmählich weiter in die Stadt vor.

Auf den Agriont zu.

Yulwei saß in dem großen Saal, als sie dort ankam; er hatte sich in einen Sessel hineingefaltet, der in einer Ecke stand, und die Armreifen hingen matt von seinen schlaffen Handgelenken. Die Gelassenheit, die ihn stets wie eine alte Decke zu umgeben schien, war nun wie weggeblasen. Er sah besorgt aus, erschöpft, die Augen lagen tief in dunklen Höhlen. Ein Mann, der seinem Scheitern ins Gesicht sieht. Ein Blick, an den sich Ferro in den letzten Tagen gewöhnt hatte.

»Ferro Maljinn, zurück von der Front. Ich habe doch immer schon gesagt, dass du die ganze Welt töten würdest, wenn du könntest, und jetzt hast du die Gelegenheit dazu. Wie gefällt dir der Krieg, Ferro?«

»Ganz gut.« Sie warf ihren Bogen klappernd auf ein poliertes Tischchen, zerrte den Säbel aus dem Gürtel und nahm den Köcher ab. Es waren nur noch wenige Pfeile übrig. Die meisten, die sie gehabt hatte, steckten nun in gurkhisischen Soldaten, draußen zwischen den geschwärzten Ruinen am Rand der Stadt.

Aber Ferro brachte es nicht über sich zu lächeln.

Gurkhisen töten war wie Honig essen. Ein kleines bisschen weckte die Lust auf mehr. Aber zu viel verursachte Übelkeit. Leichen waren immer schon ein erbärmlicher Lohn für all die Mühe, die es kostete, jemanden vom Leben zum Tod zu befördern. Und doch konnte sie nicht mehr aufhören.

»Bist du verletzt?«

Ferro drückte an dem dreckigen Verband an ihrem Arm herum und beobachtete, wie Blut in das graue Tuch sickerte. »Nein«, sagte sie.

»Es ist noch nicht zu spät, Ferro. Du musst nicht hier sterben. Ich habe dich hierhergebracht. Ich kann dich immer noch weglotsen. Ich gehe, wohin es mir gefällt, und ich nehme mit mir, wen ich will. Wenn du jetzt mit dem Töten aufhörst, wer weiß? Vielleicht wird Gott immer noch einen Platz im Himmel für dich finden.«

Ferro gingen Yulweis Predigten allmählich auf die Nerven. Sie und Bayaz hatten sich vielleicht keinen Finger breit über den Weg getraut, aber zumindest hatten sie einander verstanden. Yulwei kapierte gar nichts.

»Himmel?«, fragte sie verächtlich und wandte sich von ihm ab. »Vielleicht gefällt mir die Hölle viel besser, hast du daran schon mal gedacht?«

Sie zog die Schultern hoch, als sie draußen auf dem Korridor Schritte hörte. Bayaz’ Zorn konnte sie bereits spüren, noch bevor die Tür sich öffnete und der alte, kahle Rosig ins Zimmer stürmte.

»Dieser kleine Bastard! Nach all dem, was ich für ihn getan habe, wie zahlt er es mir zurück?« Quai und Sulfur schlurften hinter ihm durch die Tür wie zwei Hunde, die ihrem Herrn ergeben folgen. »Er widerspricht mir vor dem Geschlossenen Rat! Er befiehlt mir, mich um meinen eigenen Kram zu kümmern! Mir! Woher will dieser beschränkte Dummbeutel überhaupt wissen, was meine Angelegenheiten sind und was nicht?«

»Ärger mit König Luthar dem Großartigen?«, knurrte Ferro.

Der Magus sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Vor einem Jahr gab es im ganzen Weltenrund keinen größeren Hohlkopf. Kaum schiebt man ihm eine Krone auf den Schädel und lässt einen Haufen alter Lügenbolde seinen Arsch küssen, schon hält sich der kleine Scheißer für Stolicus!«

Ferro zuckte die Achseln. Luthar hatte es nie an Selbstbewusstsein gemangelt, König hin oder her. »Du solltest dir eben besser überlegen, wem du eine Krone auf den Schädel schiebst.«

»Das ist ja das Problem mit den Kronen, irgendjemand muss sie tragen. Man kann sie nur irgendwo in der Menge fallen lassen und aufs Beste hoffen.« Bayaz warf Yulwei einen finsteren Blick zu. »Was ist mit dir, Bruder? Warst du außerhalb der Mauern unterwegs?«

»Das war ich.«

»Und was hast du gesehen?«

»Tod. Sehr viel Tod. Die Soldaten des Imperators strömen in die westlichen Bezirke Aduas, und seine Schiffe verstopfen die Bucht. Jeden Tag kommen mehr Truppen die Straße von Süden entlang und verstärken den Griff der Gurkhisen um die Stadt.«

»So viel kann ich auch von den Idioten im Geschlossenen Rat erfahren. Was ist mit Mamun und mit seinen Hundert Worten?«

»Mamun, dreimal gesegnet und dreimal verflucht? Der wundersame erste Lehrling des großen Khalul, Gottes rechte Hand? Er wartet. Er und seine Brüder und Schwestern, sie haben ein großes Zelt vor den Grenzen der Stadt. Sie beten um den Sieg, sie hören süße Musik, sie baden in duftendem Wasser, sie aalen sich nackt und geben sich der Fleischeslust hin.

Sie warten darauf, dass die gurkhisischen Soldaten die Mauern der Stadt überwinden, und sie essen.« Er sah zu Bayaz auf. »Sie essen Nacht und Tag, in offener Missachtung des Zweiten Gebots. Dreist verspotten sie die feierlichen Worte des Euz. Sie bereiten sich auf den Augenblick vor, an dem sie dich herausjagen wollen. Jenen Augenblick, für den Khalul sie gemacht hat. Sie glauben, dass es nun nicht mehr lange dauern wird. Sie polieren ihre Rüstungen.«

»Tun sie das?«, zischte Bayaz. »Dann sollen sie verdammt sein.«

»Sie haben sich bereits selbst verdammt. Aber das ist uns keine Hilfe.«

»Dann müssen wir das Haus des Schöpfers besuchen.« Ferros Kopf zuckte hoch. Es war etwas an diesem großen, nüchternen Turm, das sie seit ihrer Ankunft in Adua fasziniert hatte. Immer wieder merkte sie, dass ihre Augen von dem riesenhaften Gebäude angezogen wurden, das sich groß wie ein Berg und unberührbar über den Rauch und über den Wahnsinn erhob.

»Wieso?«, fragte Yulwei. »Beabsichtigst du, dich dort selbst einzuschließen? So wie Kanedias es einst tat, als wir nach unserer Rache dürsteten? Willst du dich in der Dunkelheit verkriechen, Bayaz? Und wirst diesmal du es sein, den man herunterwirft, damit er auf der Brücke zerschmettert wird?«

Der Erste der Magi schnaubte. »Du kennst mich besser, als dass du das glauben würdest. Wenn sie kommen, um mich zu holen, werde ich ihnen offen gegenübertreten. Aber es gibt immer noch Waffen in der Dunkelheit. Eine oder zwei Überraschungen aus der Schmiede des Schöpfers, die wir gegen unsere verfluchten Freunde vor den Mauern einsetzen könnten.«

Yulwei sah noch besorgter aus als zuvor. »Den Trenner?«

»Eine Klinge auf dieser«, wisperte Quai aus einer Ecke, »und eine auf der anderen Seite.«

Bayaz ignorierte ihn wie üblich. »Er durchtrennt alles, sogar einen Verzehrer.«

»Wird er auch hundert Verzehrer durchtrennen?«, fragte Yulwei.

»Mir würde Mamun allein reichen.«

Yulwei entfaltete seine Glieder und erhob sich seufzend aus seinem Sessel. »Nun gut, geh voran. Ich werde das Haus des Schöpfers mit dir betreten, ein letztes Mal.«

Ferro fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Die Vorstellung, dort hineinzugehen, war unwiderstehlich. »Ich werde mit euch kommen.«

Bayaz sah sie starr an. »Nein, das wirst du nicht. Du kannst hier bleiben und vor dich hin schmollen. Das war doch schon immer dein größtes Talent, oder nicht? Ich würde dich ungern der Möglichkeit berauben, es noch einmal richtig auszuspielen. Du wirst mit uns kommen«, blaffte er Quai an. »Und du musst dich um deine Geschäfte kümmern, nicht wahr, Yoru?«

»Das muss ich, Meister Bayaz.«

»Gut.« Der Erste der Magi schritt durch die Tür, gefolgt von Yulwei, und der Zauberlehrling huschte hinterdrein. Sulfur regte sich nicht. Ferro sah ihn finster an, und er grinste zurück, den Kopf gegen die Wandverkleidung gelehnt und das Kinn zur stuckverzierten Decke gereckt.

»Sind diese Hundert Worte nicht auch deine Feinde?«, wollte Ferro wissen.

»Meine schlimmsten und bittersten Feinde.«

»Wieso kämpfst du dann nicht?«

»Oh, es gibt andere Wege des Kämpfens, als sich da unten im Dreck herumzuwälzen.« Es lag etwas in diesen Augen, eines dunkel, eines hell, dessen Anblick Ferro nicht gefiel. Und es war etwas Hartes, Hungriges hinter seinem Lächeln. »Obwohl ich gern noch ein bisschen hier bleiben und mich mit dir unterhalten würde, muss ich nun doch wieder gehen, um die Räder weiter anzutreiben.« Er drehte einen Finger im Kreis in der Luft. »Die Räder müssen sich drehen, nicht wahr, Maljinn?«

»Dann geh«, raunzte Ferro. »Ich halte dich nicht auf.«

»Das könntest du auch nicht, selbst wenn du es wolltest. Ich würde dir einen guten Tag wünschen. Aber ich vermute, so etwas hast du noch nie gehabt.« Damit schlenderte er hinaus, und die Tür klickte hinter ihm ins Schloss.

Blitzschnell huschte Ferro durch das Zimmer und riss den Riegel des Fensters zurück. Sie hatte schon einmal getan, was Bayaz ihr gesagt hatte, und es hatte ihr nichts gebracht als ein verschwendetes Jahr. Jetzt würde sie ihre eigenen Entscheidungen fällen. Sie schob die Vorhänge zur Seite und glitt auf den Balkon. Der Wind trieb zusammengekrümmte Blätter vor sich her und peitschte den Nieselregen über die Rasenflächen. Ein schneller Blick den feuchten Weg hinauf und hinunter zeigte ihr, dass es nur einen Wachmann gab, und der blickte, in seinen Mantel eingewickelt, in die falsche Richtung.

Manchmal ist es am besten, die erste sich bietende Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Ferro schwang die Beine über das Geländer, überwand sich und sprang ins Leere. Sie bekam den glitschigen Ast eines Baumes zu fassen, schwang sich zu dessen Stamm hinüber, rutschte dann auf die feuchte Erde und kroch, sich stets nahe am Boden haltend, hinter eine sauber geschnittene Hecke.

Schon bald hörte sie Schritte, dann auch Stimmen. Bayaz’ Stimme und Yulweis, die sich über den fauchenden Wind miteinander unterhielten. Verdammt, aber diese alten Narren liebten es, mit den Lippen zu wackeln.

»Sulfur?«, war nun Yulwei zu hören. »Er ist immer noch bei dir?«

»Wieso sollte er nicht?«

»Seine Studien gerieten in ... gefährliches Fahrwasser. Das habe ich dir gesagt, Bruder.«

»Und? Khalul ist in der Auswahl seiner Diener nicht so pingelig ...«

Sie kamen außer Hörweite, und Ferro musste sich hinter der Hecke in geducktem Lauf beeilen, um mit ihnen Schritt halten zu können.

»... mir gefällt diese Angewohnheit nicht«, sagte Yulwei, »Gestalt anzunehmen, die Haut zu wechseln. Eine verfluchte Kunst. Du weißt, wie Juvens darüber dachte ...«

»Ich habe keine Zeit, um mich wegen der Gefühle eines Mannes zu sorgen, der seit Jahrhunderten unter der Erde liegt. Es gibt kein Drittes Gebot, Yulwei.«

»Vielleicht sollte es das geben. Das Gesicht eines anderen zu stehlen ... die Kniffe von Glustrod und seinen Teufelsblütern. Künste, die sie sich von der Anderen Seite liehen ...«

»Wir müssen alle Waffen einsetzen, die uns zu Gebote stehen. Ich habe für Mamun nichts übrig, aber er hat recht. Man nennt sie die Hundert Worte, weil sie hundert an der Zahl sind. Wir sind zu zweit, und die Zeit ist nicht gnädig zu uns gewesen.«

»Warum warten sie dann noch?«

»Du kennst Khalul, Bruder. Immer vorsichtig, wachsam, überlegt. Er wird seine Kinder erst dann aufs Spiel setzen, wenn er nicht mehr anders kann ...«

Durch die Lücken der nackten Zweige sah Ferro den drei Männern zu, wie sie an den Wachen vorbei und durch das Tor in der hohen Palastmauer schritten. Sie gab ihnen einen kurzen Vorsprung, dann ging sie hinter ihnen her, die Schultern erhoben, als hätte sie eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Sie fühlte die harten Blicke der Bewaffneten, die das Tor flankierten, aber sie waren daran gewöhnt, dass sie nach ihrem eigenen Gutdünken kam und ging. Endlich einmal schwiegen sie.

Zwischen den großen Gebäuden, vorbei an den Statuen, durch die langweiligen Gärten folgte sie den zwei Magi und ihrem Zauberlehrling über den Agriont. Sorgsam hielt sie Abstand, verbarg sich in Eingängen, unter Bäumen oder ging hinter den wenigen Menschen her, die über die windigen Straßen eilten. Manchmal ragte über den Gebäuden eines Platzes oder am Ende einer Straße das Haus des Schöpfers wie ein großer Berg auf. Zuerst verschwommen grau hinter dem Regenschleier, aber dann immer schwärzer, riesig und klar umrissen, je näher sie kamen.

Die drei Männer führten sie zu einem verfallenen Gebäude, von dessen eingesunkenem Dach abbröckelnde Türmchen aufragten. Ferro kniete sich hin und sah ihnen hinter einer Ecke verborgen zu, während Bayaz mit dem Ende seines Stabs gegen die wacklige Tür schlug.

»Ich bin froh, dass du den Samen nicht fandest, Bruder«, sagte Yulwei, während sie warteten. »Es ist besser, wenn er begraben bleibt.«

»Ob du wohl immer noch so denken wirst, wenn die Hundert Worte über die Straßen des Agrionts schwärmen und es sie nach deinem Blut gelüstet?«

»Gott wird mir vergeben, werde ich denken. Es gibt Schlimmeres als Khaluls Verzehrer.«

Ferros Nägel bohrten sich in ihre Handflächen. Eine Gestalt stand vor einem der dreckigen Fenster und beobachtete Yulwei und Bayaz. Eine große, schlanke Gestalt mit einer schwarzen Maske und kurzem Haar. Die Frau, die sie und Neunfinger vor langer Zeit gejagt hatte. Ferros Hand glitt instinktiv zu ihrem Säbel, bevor sie dann erkannte, dass sie ihn im Palast gelassen hatte. Sie verfluchte ihre Dummheit. Neunfinger hatte recht gehabt: Man konnte nie zu viele Messer haben.

Die Tür schwang zitternd auf, es wurden ein paar Worte gewechselt, und die beiden alten Männer traten ein, gefolgt von Quai, der den Kopf senkte. Die maskierte Frau beobachtete sie noch eine Weile, dann trat sie vom Fenster weg, zurück in die Schatten. Ferro sprang über eine Hecke zu der Tür, die sich gerade wackelnd schließen wollte, rammte den Fuß in die Lücke und glitt seitlich durch den Spalt, stahl sich in die tiefen Schatten auf der anderen Seite. Die Tür fiel in ihren kreischenden Angeln mit einem Rappeln ins Schloss.

Es ging einen langen Flur entlang, der auf einer Seite mit staubigen Gemälden geschmückt und auf der anderen Seite mit Fenstern durchsetzt war. Auf dem ganzen Weg prickelte Ferros Nacken, und sie erwartete jeden Augenblick, die schwarzen Masken aus den Schatten treten zu sehen. Aber nichts kam, außer dem Widerhall der Schritte vor ihr und dem endlosen Dröhnen der Stimmen der alten Männer.

»Dieser Ort hat sich verändert«, sagte Yulwei, »seit dem Tag, als wir gegen Kanedias kämpften. An jenem Tag, da die Alte Zeit endete. Damals hat es geregnet.«

»Ich erinnere mich daran.«

»Ich lag verwundet auf der Brücke im Regen. Ich sah sie fallen, den Schöpfer und seine Tochter. Von weit oben stürzten sie hinab. Kaum zu glauben, dass ich damals lächelte, als ich es sah. Rache ist ein flüchtiger Kitzel. Die Zweifel tragen wir in uns bis ins Grab.« Ferro schnaubte verächtlich, als sie das hörte. Dafür, dass sie ihre Rache bekam, würde sie gern mit den Zweifeln leben.

»Über die Jahre ist in uns beiden das Bedauern gewachsen«, murmelte Bayaz.

»Mehr und mehr, während die Zeit verging. Aber eines ist seltsam. Ich hätte schwören können, als ich dort lag, dass Kanedias als Erster stürzte und Tolomei als Zweite.«

»Erinnerungen können trügen, vor allem, wenn ein Mann so lange gelebt hat wie wir beide. Der Schöpfer warf seine Tochter hinab, dann schickte ich ihn hinterdrein. Und so endete die Alte Zeit.«

»So endete sie«, murmelte Yulwei. »So viel ging verloren. Und nun sind wir so weit gekommen ...«

Quais Kopf fuhr herum, und Ferro drückte sich hinter einem altersschiefen Schränkchen gegen die Wand. Dann folgte der Lehrling den anderen. Ferro wartete mit angehaltenem Atem, bis die Männer um eine Ecke herumgegangen und außer Sicht waren.

Auf einem heruntergekommenen Innenhof holte sie die drei wieder ein, einem Hof, der mit vertrocknetem Unkraut überwachsen war und voller Schieferschindeln lag, die von den umliegenden Dächern herabgefallen waren. Ein Mann in einem dreckigen Hemd führte sie eine lange Treppe hinauf zu einem großen Tor in der hohen Mauer des Agrionts. Er trug einen Ring klappernder Schlüssel in seinen knorrigen Händen und brummte etwas von Eiern. Nachdem sie in den Tunnel hinter dem Tor getreten waren, schlich Ferro über den offenen Platz und die Treppe empor, wo sie kurz unterhalb der obersten Stufen innehielt.

»Wir werden bald zurück sein«, hörte sie Bayaz. »Lassen Sie die Tür offen.«

»Sie wird immer abgeschlossen«, antwortete eine andere Stimme. »So ist es bestimmt. Mein ganzes Leben lang war sie stets verschlossen, und ich beabsichtige nicht ...«

»Dann warten Sie hier, bis wir zurückkehren! Aber gehen Sie nicht weg! Ich habe Besseres zu tun, als hier auf der falschen Seite Ihrer abgeschlossenen Tür herumzusitzen!« Schlüssel drehten sich. Alte Angeln kreischten. Ferros Finger schlossen sich um einen losen Stein und packten ihn fest.

Der Mann in dem dreckigen Hemd zog die Tore zu, als sie bis auf die obersten Stufen kroch. Er brummte zornig vor sich hin, während er mit seinen Schlüsseln klapperte und Metall knirschte. Es gab einen dumpfen Aufprall, als der Stein auf die kahle Stelle seines Kopfes schlug. Er keuchte, machte einen Satz vorwärts, und dann packte Ferro seinen schlaffen Körper unter den Armen und bettete ihn vorsichtig auf den Boden.

Nachdem sie den Stein zur Seite gelegt hatte, erleichterte sie den Mann mit einem gebogenen Finger um seine Schlüssel.

Als Ferro die Hand hob, um die Tür aufzustoßen, überfiel sie ein seltsames Gefühl. Wie eine kühle Brise an einem heißen Tag, erst überraschend, dann erfrischend. Ein Schauer, aber überhaupt nicht unangenehm, überlief ihren Rücken und ließ sie den Atem anhalten. Sie drückte mit der Hand gegen das wettergegerbte Holz, dessen Fasern warm und einladend über ihre Haut strichen. Dann schob sie die Tür gerade so weit auf, dass sie hindurchsehen konnte.

Eine schmale Brücke schwang sich von der Mauer des Agrionts, nicht mehr als einen Schritt breit und ohne Geländer oder Brüstung. Auf der anderen Seite traf sie die Mauern vom Haus des Schöpfers – eine hoch aufragende Klippe nackten Felsens, die schwarz im Regen schimmerte. Bayaz, Yulwei und Quai standen vor einem Tor am Ende dieses steinernen Pfades. Ein Tor aus dunklem Metall, in der Mitte mit hellen Kreisen geschmückt. Ringe aus Buchstaben, die Ferro nicht verstand. Sie sah, dass Bayaz etwas aus dem Ausschnitt seines Hemdes zog. Und dann begannen sich die Kreise zu bewegen, zu drehen, herumzuwirbeln, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Türen schwangen geräuschlos auf. Langsam, beinahe zögerlich verschwanden die drei Männer in diesem schwarzen Viereck und waren nicht mehr zu sehen.

Das Haus des Schöpfers stand offen.

Graues Wasser klatschte weit unten an harten Fels, als Ferro ihnen über die Brücke folgte. Der Regen küsste ihre Haut, und der Wind zupfte an ihr. Weit entfernt stiegen Rauchwolken über der schwelenden Stadt auf, hoch in den dreckigen Himmel, aber ihre Augen waren auf den gähnenden Eingang geradewegs vor ihr gerichtet. Sie hielt einen Augenblick auf der Schwelle inne, die Hände zu Fäusten geballt.

Dann trat sie in die Dunkelheit.

Auf der anderen Seite des Tores war es weder kalt noch warm. Die Luft war so still und flach und schweigend, dass sie schwer auf Ferros Schultern zu lasten und gegen ihre Ohren zu drücken schien. Ein paar gedämpfte Schritte, und alles Licht war verblasst. Wind und Regen und offener Himmel waren nur Träume, die in dunkler Erinnerung lagen. Sie fühlte sich, als hätte sie hundert Meilen unter der toten Erde zurückgelegt. Die Zeit selbst schien angehalten. Ferro kroch auf ein breites Tor zu und spähte hindurch.

Die Halle, die dahinter lag, war wie ein Tempel, aber selbst der große Tempel von Schaffa, in dem jede Stunde Tausende zu Gott beteten, hätte hier in seiner Gänze hineingepasst. Verglichen damit wirkte der große Kuppelsaal, in dem Jezal dan Luthar eine Krone aufgesetzt worden war, geradezu winzig. Die Halle war so groß, dass selbst die riesenhaften Gebäude des verfallenen Aulcus daneben klein erschienen. Ein Palast, gekrönt von ernsten Schatten, bevölkert von düsterem Widerhall, begrenzt von zornigem, unnachgiebigem Stein. Das Grab lange schon toter Riesen.

Das Grab vergessener Götter.

Yulwei und Bayaz standen in der Mitte des Raumes. Winzige, insektengleiche Gestalten in einem Meer schimmernder Dunkelheit. Ferro drückte sich ganz auf den kalten Boden und bemühte sich, ihre Worte aus den vielen Echos herauszufiltern.

»Geh zur Waffenkammer und hole einige der Klingen des Schöpfers. Ich werde nach oben gehen und ... dieses andere Ding mitbringen.«

Bayaz wandte sich ab, aber Yulwei hielt ihn am Arm fest. »Erst musst du mir eine Frage beantworten, Bruder.« »Welche Frage?«

»Jene, die ich immer stelle.«

»Schon wieder? Selbst jetzt? Nun gut, wenn es sein muss. Frage mich.«

Die zwei alten Männer standen endlos lange still. Bis die letzten Echos verhallt waren und nur ein Schweigen blieb, das schwer war wie Blei. Ferro hielt den Atem an.

»Hast du Juvens getötet?« Yulweis Flüstern zischte durch die Dunkelheit. »Hast du unseren Meister umgebracht?«

Bayaz wich nicht zurück. »Ich habe Fehler gemacht, vor langer Zeit. Viele Fehler, das weiß ich. Manche draußen im zerstörten Westen. Manche hier, an diesem Ort. Es vergeht kein Tag, an dem ich sie nicht bedaure. Ich kämpfte mit Khalul. Ich ignorierte die Weisheit meines Meisters. Ich spionierte im Haus des Schöpfers. Ich verliebte mich in seine Tochter. Ich war stolz und eitel und jähzornig, all das ist wahr. Aber ich habe Juvens nicht getötet.«

»Was ist an jenem Tag geschehen?«

Der Erste der Magi sprach die Worte, als seien sie ein Text, den er vor langer Zeit bereits einstudiert hatte. »Kanedias kam, um mich zu ergreifen. Weil ich seine Tochter verführt hatte. Weil ich seine Geheimnisse gestohlen hatte. Juvens aber gab mich nicht auf. Sie kämpften, ich floh. Ihr wilder Kampf erhellte den Himmel. Als ich zurückkehrte, war der Schöpfer verschwunden, und unser Meister war tot. Ich habe Juvens nicht getötet.«

Wieder folgte langes Schweigen, und Ferro blickte wie erstarrt zu den beiden Männern. »Nun gut.« Yulwei ließ die Hand von Bayaz’ Arm gleiten. »Dann hat Mamun gelogen. Khalul hat gelogen. Wir werden gemeinsam gegen sie kämpfen.«

»Gut, mein alter Freund, gut. Ich wusste, dass ich dir vertrauen kann, so wie du mir.« Ferro kräuselte die Lippen. Vertrauen. Es war ein Wort, das nur Lügner gebrauchten. Ein Wort, das die Wahrhaftigen nicht nötig hatten. Die Schritte des Ersten der Magi waren nun zu hören, während er auf einen der vielen Torbogen zuging und im Dämmerlicht dahinter verschwand.

Yulwei sah ihm nach. Dann seufzte er hart und schlich in eine andere Richtung, während seine Armreifen an den dünnen Handgelenken klapperten. Allmählich verhallten seine Schritte, und Ferro blieb allein mit den Schatten zurück, in Schweigen gehüllt.

Langsam, vorsichtig, schlich sie voran in die riesenhafte Leere. Der Boden schimmerte – verschlungene Linien aus hellem Metall, die in den dunklen Fels eingebettet worden waren. Die Decke, falls es eine gab, war in der Dunkelheit verborgen. Etwa zwanzig Schritt über ihnen lief eine hohe Galerie rund um die Mauern, eine weitere war hoch darüber auszumachen, noch eine und noch eine, die sich im Halblicht verloren. Über all dem hing ein wunderschönes Gebilde. Ringe aus dunklem Metall, große und kleine, schimmernde Scheiben und leuchtende Kreise, mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt. Sie alle bewegten sich. Ein Ring kreiste um den anderen, und in ihrer Mitte befand sich eine schwarze Kugel, der einzige Punkt völliger Ruhe.

Ferro drehte sich immer und immer wieder um die eigene Achse, oder vielleicht stand sie auch still, und der Raum drehte sich um sie. Ihr war schwindlig, sie fühlte sich trunken und atemlos. Der nackte Fels stieg in die Höhe, schwarze, rohe Steine, ohne Mörtel aufeinander gefügt, nicht einer wie der andere. Ferro versuchte sich vorzustellen, aus wie vielen Steinen der Turm bestand.

Aus Tausenden. Millionen.

Was hatte Bayaz gesagt, damals, auf der Insel am Ende der Welt? Wo versteckt der Weise einen Stein? Unter tausend anderen. Unter einer Million anderen. Die Ringe hoch über ihr bewegten sich sanft. Sie zerrten an ihr, und die schwarze Kugel in der Mitte zerrte am meisten. Wie eine Hand, die sie zu sich heranwinkte. Wie eine Stimme, die ihren Namen rief.

Sie grub die Finger in die trockenen Ritzen zwischen den Steinen und zog sich in die Höhe, eine Hand über die andere setzend, immer weiter hinauf. Es war ganz einfach. Als ob die Mauer wollte, dass sie erklettert wurde. Schon bald konnte sie die Beine über das Metallgeländer der ersten Galerie schwingen. Dann weiter, höher und höher, ohne Verschnaufpause. Sie erreichte die zweite Galerie, schweißüberströmt in der toten Luft. Dann kam sie nach Atem ringend auf die dritte. Schließlich packte sie das Geländer der vierten und schwang sich darüber. Dort blieb sie stehen und sah nach unten.

Weit unter ihr, auf dem Grund einer schwarzen Kluft, lag das ganze Weltenrund auf dem runden Boden der Halle ausgebreitet. Eine Landkarte, deren Küstenlinien aus schimmerndem Metall in den Stein eingelassen worden waren. Auf Ferros Augenhöhe, beinahe den ganzen Raum innerhalb der sanft geschwungenen Galerie ausfüllend und an Drähten hängend, die nicht dicker als Fäden waren, drehte sich langsam der große Mechanismus.

Finster blickte Ferro zu der schwarzen Kugel in der Mitte, und ihre Handflächen prickelten. Sie schien dort zu schweben, ohne irgendwo befestigt zu sein. Ferro hätte sich darüber wundern sollen, wie das sein konnte, aber sie beherrschte nur der eine Gedanke – wie sehr sie sich wünschte, diese Kugel zu berühren. Sie musste einfach. Sie hatte keine Wahl. Einer der Metallkreise schwenkte näher an sie heran und schimmerte matt.

Manchmal ist es am besten, die erste sich bietende Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Mit einem Ruck sprang sie auf das Geländer, verharrte kurz in der Hocke und sammelte sich. Sie dachte nicht nach. Nachdenken wäre Wahnsinn gewesen. Und dann sprang sie mit ausgestreckten Armen und Beinen ins Leere. Der ganze Apparat wackelte und schwankte, als sie den äußersten Ring erwischte. Kurze Zeit baumelte sie atemlos an dem Metallstück. Langsam und ganz vorsichtig, die Zunge gegen ihren Gaumen gedrückt, zog sie sich nach und nach mit den Armen höher, schob schließlich die Beine über den Ring und zog den Rest ihres Körpers hinterher. Es dauerte nicht lange, und der Ring führte sie nahe an eine breite Scheibe heran, in die lauter Rillen eingekerbt waren, und sie kletterte hinüber, während ihr ganzer Körper vor Anstrengung bebte. Das kalte Metall erschauerte unter ihrem Gewicht, schwankte, bog sich und bebte unter jeder ihrer Bewegungen; drohte, sie ins leere Nichts zu schleudern. Möglich, dass Ferro keine Angst kannte.

Aber ein Sturz aus etwa hundert Schritt auf den härtesten aller Steinböden nötigte auch ihr den größten Respekt ab.

Und so schlitterte sie weiter, von einem Ring auf den nächsten, und sie wagte dabei kaum zu atmen. Sie redete sich ein, es gäbe gar keinen Abgrund. Sie kletterte nur auf Bäumen, rutschte zwischen den Ästen hin und her, so wie sie es als Kind getan hatte, bevor die Gurkhisen gekommen waren. Endlich konnte sie den innersten Ring packen. Wild klammerte sie sich daran fest und wartete, bis seine Bewegung sie nahe an die Mitte heranführte. Die Beine über dem dünnen Metall gekreuzt, hing sie herab, hielt sich noch mit einer Hand fest, und die andere streckte sich nach der schimmernden schwarzen Kugel aus.

In der vollkommenen Oberfläche dieser Kugel sah sie ihr starres Gesicht, ihre griffbereite Hand, geschwollen und verzerrt. Mit jedem Nerv, die Zähne zusammengebissen, reckte sie sich weiter vor. Näher, noch näher. Nur eines zählte, dieses Ding zu berühren. Die Spitze ihres Mittelfingers tippte schließlich dagegen, und als ob eine Seifenblase geplatzt sei, verschwand die Kugel plötzlich wie im Nebel.

Etwas befand sich im freien Fall, ganz langsam, als ob es im Wasser versänke. Ferro sah, wie es sich von ihr entfernte, ein dunklerer Fleck in der tintenschwarzen Dunkelheit, der nach unten, immer weiter nach unten glitt. Dann schlug das Ding mit einem Krach auf den Boden, der das Haus des Schöpfers in seinen Grundfesten zu erschüttern schien und die Halle mit donnernden Echos erfüllte. Der Ring, an dem Ferro hing, zitterte, und einen bebenden Augenblick lang hätte sie beinahe losgelassen. Als sie sich wieder hinaufgezogen hatte, merkte sie, dass das Gebilde sich nicht mehr bewegte.

Der ganze Apparat war still.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es ihr gelang, über die bewegungslosen Ringe auf die oberste Galerie zu klettern und den langen Abstieg von der hoch aufragenden Mauer zu beginnen. Als sie endlich auf dem Boden des höhlenartigen Saales angelangt war, war ihre Kleidung zerrissen, ihre Hände, Ellenbogen und Knie abgeschürft und blutig, aber das bemerkte sie kaum. Hastig eilte sie durch die große Halle, und ihre Schritte dröhnten laut. Hin zum Mittelpunkt des Raumes, wo das Ding, das da herabgefallen war, noch immer lag.

Es sah aus wie ein Stück dunklen Steins mit unebener Oberfläche, das vielleicht die Größe einer Faust hatte. Aber es war kein Stein, und Ferro wusste das. Sie fühlte, dass etwas aus ihm herausleckte, herausströmte, wie eine Flut in erregenden Wellen. Etwas, das man nicht sehen und nicht berühren konnte, und dennoch füllte es den ganzen Raum bis in die dunkelsten Winkel. Unsichtbar und unwiderstehlich umspülte es sie und zog sie nach vorn.

Ferros Herz schlug heftig gegen ihre Rippen, als sich ihre Schritte dem Ding näherten. Ihr Mund füllte sich mit hungrigem Speichel, während sie sich daneben auf den Boden kniete. Der Atem brannte in ihrer Kehle, als sie mit kribbelnder Handfläche danach griff. Dann schlossen sich ihre Finger um die narbige, unebene Oberfläche. Sehr schwer und sehr kalt, als sei es ein Stück gefrorenes Blei. Sie hob es langsam hoch, drehte es in der Hand hin und her und betrachtete fasziniert, wie es in der Dunkelheit schimmerte.

»Der Samen.«

Bayaz stand in einem der Durchgänge, und sein Gesicht zuckte in einer hässlichen Mischung aus Freude und Entsetzen. »Verschwinde, Ferro, sofort! Bring ihn in den Palast.« Er wich zurück und hob einen Arm, als wolle er sich von einem blendenden Lichtstrahl schützen. »Die Kiste ist in meinen Gemächern. Leg ihn hinein und schließe die Kiste ganz fest, hörst du? Schließe sie ganz fest!«

Ferro wandte sich ab und verzog missmutig das Gesicht, als sie feststellte, dass sie nicht wusste, welcher der Durchgänge aus dem Haus des Schöpfers herausführte.

»Warte!« Quai lief durch die Halle zu ihr hinüber, und seine leuchtenden Augen waren auf ihre Hand gerichtet. »Bleib stehen!« Er zeigte nicht die geringste Angst, als er sich näherte. Nur eine schreckliche Art von Hunger, seltsam genug, dass Ferro einen Schritt zurückging. »Er war hier. Hier, die ganze Zeit.« Sein Gesicht wirkte blass, schlaff und voller Schatten. »Der Samen.« Seine weiße Hand kroch durch die Dunkelheit auf sie zu. »Endlich. Gib ihn ...«

Plötzlich krümmte er sich zusammen wie weggeworfenes Papier, wurde von den Füßen gerissen und durch den ganzen Raum geschleudert, und das alles ging so schnell, dass Ferro in der Zeit gerade einen überraschten Atemzug tun konnte. Quai schlug mit einem hallenden Krachen kurz unterhalb der untersten Galerie gegen die Mauer. Sie sah mit offenem Mund zu, wie sein zerschmetterter Körper abprallte und mit schlaffen, verdrehten Gliedern auf den Boden stürzte.

Bayaz trat vor, den Stab fest in seiner Faust. Die Luft um seine Schultern flimmerte ganz leicht. Ferro hatte schon viele Männer getötet, natürlich, und darüber keine Träne vergossen. Aber die Geschwindigkeit, mit der das eben geschehen war, erschütterte sogar sie.

»Was hast du getan?«, zischte sie, während das Echo von Quais tödlichem Aufprall an der entfernten Mauer immer noch grollte.

»Was ich tun musste. In den Palast mit dir. Sofort.« Bayaz deutete mit einem seiner dicken Finger auf einen Durchgang, und Ferro sah dahinter einen ganz schwachen Lichtschimmer. »Leg das Ding in die Kiste! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gefährlich es ist!«

Es gab zwar nur wenige Menschen, die eine größere Abneigung gegen das Befolgen von Befehlen hatten als sie, aber Ferro hegte nicht den geringsten Wunsch, noch länger an diesem Ort zu bleiben. Sie stopfte den Steinklumpen in ihr Hemd. Es war, als ob er dort hingehörte, an ihren Bauch gedrückt. Kühl und beruhigend, und dennoch hatte Bayaz gesagt, er sei gefährlich. Sie tat einen Schritt, und als ihr Stiefel den Boden berührte, schwebte ein durchdringendes Kichern von der anderen Seite der Halle heran.

Von dort, wo Quais zerschmetterter Körper aufgeprallt war.

Bayaz schien nicht überrascht. »So!«, rief er. »Endlich zeigst du dich! Ich hegte schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass du nicht der warst, der du zu sein schienst. Wo ist mein Zauberlehrling, und wann hast du seine Stelle eingenommen?«

»Schon vor Monaten.« Quai kicherte immer noch, als er sich langsam vom polierten Steinfußboden erhob. »Bevor du zu dieser närrischen Reise ins Alte Kaiserreich aufbrachst.« Auf seinem lächelnden Gesicht war kein Blut. Nicht einmal die kleinste Abschürfung. »Ich saß neben dir am Feuer. Ich sah dir zu, als du hilflos im Karren lagst. Ich war den ganzen Weg über bei dir, bis zum Ende der Welt und zurück. Dein Lehrling blieb hier. Seinen halb verzehrten Körper ließ ich im Gebüsch für die Fliegen liegen, keine zwanzig Schritt von dort, wo ihr fest schlieft, du und der Nordmann.«

»Ha.« Bayaz nahm den Stab von der einen in die andere Hand. »Ich dachte mir gleich, dass sich seine Fähigkeiten entscheidend gesteigert hatten. Du hättest mich umbringen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest.«

»Oh, jetzt ist auch noch Zeit.« Ferro erschauerte, als sie zusah, wie Quai aufstand. In der Halle schien es plötzlich sehr kalt geworden zu sein.

»Hundert Worte? Vielleicht. Ein Wort?« Bayaz’ Lippen kräuselten sich. »Welche von Khaluls Kreaturen bist du? Der Ostwind? Einer seiner verdammten Zwillinge?«

»Ich bin keine von Khaluls Kreaturen.«

Ein leises Aufflackern des Zweifels glitt über Bayaz’ Gesicht. »Wer bist du dann?«

»Wir kannten einander einst gut, in lang vergangener Zeit.«

Der Erste der Magi verzog das Gesicht. »Wer bist du? Sprich!«

»Gestalten annehmen.« Die Stimme einer Frau, sanft und tief. Es geschah etwas mit Quais Gesicht, als er langsam vortrat. Seine blasse Haut begann zu hängen, verzerrte sich. »Ein grauenhafter und hinterhältiger Trick.« Seine Nase, die Augen, die Lippen begannen zu schmelzen und liefen von seinem Schädel wie Wachs von einer Kerze. »Besinnst du dich meiner nicht mehr, Bayaz?« Nun zeigte sich ein anderes Gesicht darunter, ein hartes Gesicht, weiß wie blasser Marmor. »Du hast gesagt, du würdest mich ewig lieben.« Die Luft war eisig kalt. Ferros Atem kondensierte vor ihrem Mund. »Du hast mir versprochen, wir würden uns niemals trennen. Als ich das Tor meines Vaters für dich öffnete ...«

»Nein!« Bayaz taumelte einen Schritt zurück.

»Du wirkst überrascht. Nicht so überrascht jedoch wie ich, als du mich, statt mich in deine Arme zu nehmen, vom Dach warfst, oder, mein Geliebter? Und wieso? Damit du deine Geheimnisse behalten konntest? Damit du edel erscheinen würdest?« Quais langes Haar war kreideweiß geworden. Es umfloss nun das Gesicht einer Frau, schrecklich bleich, deren Augen zwei leuchtende, schwarze Punkte waren. Tolomei. Die Tochter des Schöpfers. Ein Geist, aus der verblichenen Vergangenheit wiederauferstanden. Ein Geist, der monatelang neben ihnen dahingegangen war, in einer gestohlenen Gestalt. Ferro konnte ihren eisigen Atem beinahe fühlen, wie er sich todeskalt mit der Luft verband. Ihre Augen glitten von dem bleichen Gesicht zum Durchgang und wieder zur anderen Seite des Raums, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu fliehen und mehr herauszufinden.

»Ich habe dich in deinem Grab gesehen!«, flüsterte Bayaz. »Ich selbst habe die Erde über dir angehäuft!«

»Das tatest du, und du hast geweint, als du es tatest, als ob du es nicht gewesen wärst, der mich herabstürzte.« Ihre schwarzen Augen schwenkten zu Ferro, zu der Stelle, wo der Samen ihren Bauch kitzelte. »Aber ich hatte die Andere Seite berührt. In diesen zwei Händen hielt ich ihn, während mein Vater arbeitete, und er hatte mich verändert. Dort lag ich, in der alten Umarmung der Erde. Zwischen Leben und Tod. Bis ich die Stimmen hörte. Die Stimmen, die auch Glustrod hörte, vor langer Zeit. Sie boten mir einen Handel an. Ihre Freiheit gegen meine.«

»Du brachst das Erste Gebot!«

»Gebote bedeuten jenen nichts, die begraben sind! Als ich mich endlich aus der Erde befreit hatte, die mich umklammerte, war der menschliche Teil von mir verschwunden. Aber der andere Teil, jener, der zu der Unterwelt gehört – jener Teil stirbt nicht. Er steht vor dir. Nun werde ich die Arbeit vollenden, die Glustrod begann. Ich werde die Tore öffnen, die mein Großvater versiegelte. Diese Welt und die Andere Seite sollen wieder vereint sein. Wie sie es vor der Alten Zeit noch waren. Wie sie es immer sein sollten.« Sie streckte die geöffnete Hand von sich, und eine so bittere Kälte ging von ihr aus, dass Ferro Schauer über den Rücken liefen, bis zu den Fingerspitzen. »Gib mir den Samen, Kind. Ich habe den Geheimnisverrätern ein Versprechen gegeben, und ich pflege meine Versprechen zu halten.«

»Das werden wir sehen!«, zischte der Erste der Magi. Ferro spürte ein Ziehen im Bauch und sah, wie die Luft um Bayaz zu flimmern begann. Tolomei stand zehn Schritt von ihm entfernt. Im nächsten Augenblick schlug sie ihn mit einem Geräusch wie Donnerhall. Sein Stab zerbarst, und Holzsplitter flogen herum. Er stieß ein erschrecktes Stottern aus, als er selbst durch die Dunkelheit flog, sich überschlug und schließlich mit dem Gesicht nach unten wie ein Bündel Lumpen auf dem Boden landete. Ferro starrte ihn an, während eine Welle kalter Luft sie überkam. Plötzlich spürte sie eine Übelkeit erregende, schreckliche Angst, die sie umso mehr entsetzte, da sie ihr so unvertraut war. Sie stand wie gelähmt da.

»Die Jahre haben dich schwach werden lassen.« Die Tochter des Schöpfers bewegte sich nun langsam und still auf Bayaz’ bewusstlosen Körper zu, und ihr weißes Haar umspielte sie wie kleine Wellen auf einem fast zugefrorenen Teich. »Deine Hohen Künste können mich nicht verletzen.« Sie beugte sich über ihn, und ihre trockenen, weißen Lippen teilten sich zu einem eisigen Lächeln. »Für alles, was du mir genommen hast. Für meinen Vater.« Sie hob ihren Fuß über Bayaz’ kahlen Kopf. »Für mich selbst ...«

Plötzlich zerbarst sie in leuchtende Flammen. Grelles Licht erstrahlte bis in die entferntesten Ecken der riesigen Halle, Helligkeit drang bis in die Ritzen zwischen den Steinen. Ferro stolperte zurück und hielt sich eine Hand vor die Augen. Zwischen ihren Fingern sah sie, dass Tolomei wie verrückt auf dem Boden zuckte, in wildem Tanz mit Armen und Beinen schlug, während weiße Flammen ihren Körper umhüllten und ihr Haar wie eine Flammenzunge hinter ihr herflog.

Sie fiel zu Boden, die Dunkelheit umschloss sie wieder, und Rauch stieg in einer stinkenden Wolke auf. Yulwei trat aus einem der Durchgänge, und seine dunkle Haut glänzte vor Schweiß. Er trug ein Bündel Schwerter unter einem mageren Arm. Schwerter aus mattem Metall, wie das eine, das Neunfinger getragen hatte, und jedes war mit einem silbernen Buchstaben gezeichnet. »Ist alles in Ordnung, Ferro?«

»Ich ...« Das Feuer hatte keine Wärme mit sich gebracht. Ferros Zähne klapperten, so kalt war es in der Halle geworden. »Ich ...«

»Geh.« Yulwei warf Tolomeis Körper einen misstrauischen Blick zu, während die letzten Flammen erstarben. Ferro fand endlich die Kraft, sich zu bewegen, und machte einige Schritte rückwärts. Sie spürte, wie sich ein hohles Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete, als sie sah, wie die Tochter des Schöpfers sich aufrichtete und die Asche von Quais Kleidung von ihrem Körper rieselte. Dann stand sie da, groß und tödlich schlank, nackt und so kahl wie Bayaz, nachdem all ihr Haar zu grauem Staub verbrannt war. Ihre leichenblasse Haut zeigte keinerlei Spuren und leuchtete makellos weiß.

»Und immer geht es noch einen Schritt weiter.« Sie starrte Yulwei mit ihren flachen, schwarzen Augen an. »Mich kann kein Feuer verbrennen, Zauberkünstler. Du kannst mich nicht aufhalten.«

»Aber ich muss es versuchen.« Der Magus warf seine Schwerter in die Luft. Sie wandten sich um, drehten sich, und ihre Schneiden schimmerten, als sie sich in der Dunkelheit voneinander trennten und auf unmögliche Weise zur Seite glitten. Dann begannen sie in einem wirbelnden Kreis um Yulwei und Ferro zu fliegen. Schneller und schneller, bis sie nur noch eine verschwommene Wand tödlichen Metalls waren. Nahe genug, dass sie Ferro die Hand abgeschlagen hätten, wenn sie sie ausgestreckt hätte.

»Beweg dich nicht«, sagte Yulwei.

Das verstand sich von selbst. Ferro spürte, wie der Zorn in ihr aufwallte, heiß und vertraut. »Erst soll ich weglaufen, dann soll ich mich nicht bewegen? Erst ist der Samen am Ende der Welt, und dann ist er hier in ihrer Mitte? Erst ist sie tot, und jetzt hat sie jemandem das Gesicht gestohlen? Ihr alten Ärsche müsst euch mal über eure Geschichten einig werden.«

»Sie sind Lügner!«, zischte Tolomei, und Ferro fühlte, wie die Kälte ihres eisigen Atems über ihre Wange strich und ihr bis auf die Knochen drang. »Sie benutzen andere nur! Du kannst ihnen nicht vertrauen!«

»Aber dir?«, schnaubte Ferro verächtlich. »Fick dich doch selbst!«

Tolomei nickte langsam. »Dann stirb zusammen mit den anderen.« Sie trat zur Seite, balancierte auf den Zehen, und Ringe aus weißem Frost breiteten sich überall dort aus, wo ihre nackten Füße den Boden berührten. »Du kannst nicht ewig mit deinen Messern jonglieren, alter Mann.«

Hinter ihrer weißen Schulter sah Ferro, wie Bayaz langsam auf die Beine kam und sich den Arm hielt, das starre Gesicht zerkratzt und blutverschmiert. Es hing etwas in seiner schlaffen Faust – eine langes Stück verschiedener Metallröhren mit einem Haken am Ende. Mattes Metall, das in der Dunkelheit schimmerte. Seine Augen verdrehten sich zur weit entfernten Decke, und die Adern an seinem Hals traten vor Anstrengung hervor, als die Luft um ihn herum zu flimmern begann. Ferro fühlte das bekannte Ziehen im Bauch, und ihre Augen wurden nach oben gelenkt. Zu dem großen Apparat, der über ihren Köpfen hing. Er begann zu zittern.

»Scheiße«, murmelte sie und machte einen Schritt zurück.

Falls Tolomei es entdeckt hatte, ließ sie sich nichts anmerken. Sie ging in die Knie und sprang dann hoch in die Luft, ein weißer Streifen über den sich drehenden Schwertern. Für kurze Zeit hing sie in der Luft, dann ließ sie sich auf Yulwei fallen. Die Knie voran, prallte sie auf den Boden, und der Aufschlag ließ den Raum erzittern. Ein Steinsplitter streifte Ferros Wange, und sie fühlte einen eisigen Windstoß auf ihrem Gesicht und wich einen Schritt zurück.

Die Tochter des Schöpfers runzelte die Stirn. »Du stirbst nicht leicht, alter Mann«, zischte sie, als die Echos verhallten.

Ferro konnte nicht sagen, wie es Yulwei gelungen war, ihr auszuweichen, aber er tanzte von dannen, seine Hände bewegten sich in langsamen Kreisen, seine Armreifen klapperten, und die Schwerter zischten hinter ihm immer noch durch die Luft. »Ich habe mein ganzes Leben lang geübt. Du stirbst auch nicht leicht.«

Die Tochter des Schöpfers blieb vor ihm stehen und sah ihm ins Gesicht. »Ich sterbe nicht.«

Hoch über ihnen zuckte der riesige Apparat, und die Aufhängung gab einen scharfen Ton von sich, als die Kabel rissen und durch die Dunkelheit peitschten. Mit einer fast traumartigen Langsamkeit fiel die Vorrichtung herab. Schimmerndes Metall drehte, kreischte und bog sich, als sie herunterstürzte. Ferro wandte sich um und rannte los. Fünf atemlose Schritte, und dann warf sie sich zu Boden und glitt flach auf dem Bauch über den polierten Stein. Sie fühlte, wie der Samen sich gegen ihren Bauch drückte und der Luftzug der kreisenden Schwerter scharf über ihren Rücken wischte, als sie geradewegs darunter hindurchrutschte.

Der große Mechanismus schlug hinter ihr auf den Boden und verursachte einen Lärm wie die Musik der Hölle. Jeder Ring klang wie ein riesiges Becken oder der Gong eines Riesen. Jeder hatte seinen eigenen irren Ton, ein Schreien, Klirren,

Dröhnen gequälten Metalls, laut genug, um jeden von Ferros Knochen vibrieren zu lassen. Sie hob den Kopf und sah eine große Scheibe an sich vorüberfliegen, die mit der Kante auf den Boden schlug und helle Funken aufstieben ließ. Eine andere schoss durch die Luft und drehte sich wild wie eine Münze. Ferro keuchte, rollte seitlich weg und rutschte rückwärts, als das runde Ding neben ihr aufkam.

Wo Yulwei und Tolomei sich gegenübergestanden hatten, lag ein Berg verdrehten Metalls, zerbrochene Ringe, verbogene Stangen und verwickelte Kabel. Ferro richtete sich benommen auf, während immer noch misstönende Echos durch die Halle waberten. Um sie herum waren Splitter aufgeschlagen und ragten nun aus dem polierten Boden. Die ganze Halle war von Bruchstücken übersät, die in den Schatten schimmerten wie Sterne am Nachthimmel.

Sie hatte keine Ahnung, wer tot war und wer noch leben mochte.

»Raus!«, knurrte Bayaz ihr durch die zusammengebissenen Zähne zu, das Gesicht eine schmerzverzerrte Maske. »Raus! Los!«

»Yulwei«, murmelte sie, »ist er ...«

»Ich werde später zurückkehren und nach ihm sehen!« Bayaz wedelte mit seinem gesunden Arm in ihre Richtung. »Geh!«

Es gibt eine Zeit zum Kämpfen und eine Zeit zum Fliehen, und Ferro wusste das eine sehr gut vom anderen zu unterscheiden. Das hatten ihr die Gurkhisen beigebracht, tief in den Wüsten Landen. Der Durchgang bebte und zitterte, als sie darauf zulief. Ihr eigener Atem dröhnte in ihren Ohren. Sie sprang über ein schimmerndes Rad aus Metall, und ihre Stiefel trafen hart auf dem glatten Stein auf. Fast war sie hindurch. Dann fühlte sie eine bittere Kälte an ihrer Seite, und entsetzlicher Schrecken überkam sie. Mit einem Ruck wich sie zurück.

Tolomeis weiße Hand verfehlte Ferro nur um Haaresbreite, riss ein großes Loch in die steinerne Wand und schleuderte Staub in die Luft.

»Du gehst nirgendwohin!«

Vielleicht war es die Zeit zum Fliehen, aber Ferros Geduld war nun endgültig am Ende. Als sie aufsprang, schwang sie bereits die Faust und legte die ganze Wut über ihre verschwendeten Monate, ihre verschwendeten Jahre, ihr verschwendetes Leben mit hinein. Ihre Knöchel prallten mit einem scharfen Krachen auf Tolomeis Kinn. Es war, als hätte man einen Eisblock geschlagen. Sie fühlte keinen Schmerz, als ihre Hand brach, aber sie fühlte, wie ihr Handgelenk nachgab und ihr Arm taub wurde. Zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Sie hatte bereits mit der anderen Hand ausgeholt.

Tolomei packte ihren Arm in der Luft, bevor er sie traf, zog Ferro nahe zu sich heran und drückte sie mit schrecklicher, unwiderstehlicher Kraft hilflos auf die Knie. »Der Samen!« Die zischenden Worte froren auf Ferros Gesicht ein, rissen ihr in schwachem Stöhnen den Atem aus dem Mund, und ihre Haut brannte dort, wo Tolomei sie festhielt. Sie fühlte, wie ihre Knochen sich verdrehten und ihr Unterarm wie ein brechender Zweig zur Seite knickte. Eine weiße Hand kroch durch die Schatten auf die Ausbuchtung in Ferros Hemd zu.

Plötzlich flammte Licht auf, eine gleißende Kurve aus Licht, das für einen blendenden Augenblick die ganze Halle erhellte. Ferro hörte einen durchdringenden Schrei, und dann war sie frei und lag zappelnd auf dem Rücken. Tolomeis Hand war sauber geradewegs unterhalb des Gelenks abgetrennt worden und hatte einen blutigen Stumpf zurückgelassen. Eine große Wunde klaffte in der glatten Wand, die tief bis in den Boden reichte; geschmolzener Stein sickerte heraus, brodelnd und zischend. Rauch ringelte sich von der seltsamen Waffe in Bayaz’ Hand, als er aus den Schatten sprang, und der Haken an ihrem Ende glühte noch immer hellrot. Tolomei stieß einen eisigen Schrei aus und schlug mit gekrümmten Fingern nach ihm.

Bayaz brüllte sie wild an, die Augen zu Schlitzen verengt, den blutigen Mund weit geöffnet. Ferro fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte, so heftig, dass sie sich zusammenkrümmte und beinahe auf die Knie sank. Die Tochter des Schöpfers wurde in die Luft gerissen und hinweggefegt, wobei eine ihrer weißen Fersen eine lange Schramme über die Landkarte auf dem Boden zog, eine Kerbe in den Stein schlug und das eingelegte Metall herauszerrte.

Das Wrack des großen Apparats hinter Tolomei wurde in Stücke gerissen, und die geborstenen Teile flogen schimmernd durch die Dunkelheit wie Blätter im Wind. Tolomei war eine mit Armen und Beinen zappelnde Gestalt in einem Sturm aus fliegendem Metall. Ein Hagel verbogener Bruchstücke rasselte, klapperte und knallte um sie herum gegen den Stein. Ringe, Nägel, Splitter wie Dolchklingen bohrten sich in die Mauer und ließen die halbrunde Wand wie ein riesiges Nagelbett aussehen.

Bayaz’ Augen traten aus den Höhlen, und sein ausgemergeltes Gesicht glänzte vor Schweiß. »Stirb, Dämon!«, brüllte er.

Staub rieselte herab, und Steine begannen sich zu bewegen. Kaltes Lachen drang durch die Halle. Ferro stolperte zurück, ihre Absätze schrammten über den glatten Stein, und sie floh. Ihre gebrochene Hand zitterte über die Tunnelwand, ihr gebrochener Arm hing an der Seite herab. Ein Viereck aus Licht zuckte ihr entgegen. Die Tür zum Haus des Schöpfers.

Sie taumelte ins Freie. Das Licht war stechend hell nach den Schatten im Haus des Schöpfers, und der dünne Regen erschien warm nach Tolomeis eiskalter Berührung.

Der Samen lastete schwer in ihrem Hemd und drückte rau und beruhigend an ihre Haut.

»Lauf!«, hörte sie Bayaz’ Stimme aus der Dunkelheit. »Zum Palast!« Ferro schwankte über die Brücke, setzte unsichere Füße auf den nassen Stein, und unter ihr lauerte das kalte Wasser. »Leg ihn in die Kiste und verschließ sie fest!« Hinter ihr erklang ein donnerndes Dröhnen, Metall krachte gegen Metall, aber sie warf keinen Blick zurück.

Hastig drängte sie sich durch die offene Tür in der Mauer des Agrionts und wäre beinahe über den Torwächter gefallen, der noch immer an die Wand gelehnt dasaß, so wie sie ihn dort zurückgelassen hatte, und sich mit einer Hand den Kopf hielt. Er wich zurück, als sie über ihn hinwegsprang und die Stufen hinunterrannte, immer drei auf einmal, dann über den verfallenen Innenhof hetzte und weder an irgendwelche Maskierten noch an sonst jemanden einen Gedanken verschwendete. Solche Feinde erschienen ihr jetzt eine höchst armselige Bedrohung. Noch immer spürte sie den eisigen Atem an ihrem Hals.

Nichts zählte mehr. Es ging nur noch darum, dieses Gefühl weit hinter sich zu lassen.

Sie rutschte bis zur Tür, fummelte mit dem Ballen der gebrochenen Hand an dem Riegel herum, stürmte in den Nieselregen und eilte die nassen Straßen entlang, denselben Weg, den sie gekommen war. Die Menschen auf den Straßen und Plätzen wichen ihr hastig aus und schienen entsetzt über ihren Anblick, verzweifelt und blutig, wie sie war. Zornige Stimmen hallten hinter ihr her, aber sie überhörte sie, rannte um eine Ecke herum auf eine breite Straße zwischen grauen Häusern und wäre beinahe auf dem nassen Pflaster ausgerutscht.

Eine große Menge heruntergekommener Menschen verstopfte die Straße. Frauen, Kinder, alte Männer, dreckig und zerlumpt.

»Aus dem Weg!«, schrie sie und bahnte sich einen Weg. »Bewegt euch!« Die Geschichte, die Bayaz auf den endlosen Ebenen erzählt hatte, nagte an ihr. Wie die Soldaten den Samen in den Ruinen von Aulcus gefunden hatten. Dass sie verdorrt und gestorben waren. Sie schob und trat und boxte sich durch die Leute. »Bewegt euch!« Schließlich hatte sie sich befreit und rannte die leere Straße entlang, den gebrochenen Arm an den Körper gedrückt, gegen das Ding in ihrem Hemd.

Sie rannte durch den Park, wo jeder kühle Windstoß die Blätter von den Bäumen riss. Die hohe Mauer des Palasts ragte dort auf, wo der Rasen aufhörte, und Ferro eilte zum Tor. Die zwei Wachleute standen links und rechts, so wie immer, und sie wusste, dass die beiden sie beobachteten. Sie hatten sie hinausgelassen, aber sie waren nicht ebenso bereit, sie wieder hineinzulassen, schon gar nicht jetzt, wo sie so dreckig und blutig, schmutz- und schweißverklebt zurückkehrte und noch dazu rannte, als ob ihr ein Teufel auf den Fersen sei.

»Warte mal, du!« Ferro wollte sich vorbeidrängen, aber einer von ihnen packte sie.

»Lasst mich los, ihr verdammten, blöden Rosigs!«, zischte sie. »Ihr wisst nicht, was los ist!« Damit versuchte sie sich dem Griff zu entwinden, und eine vergoldete Hellebarde knallte auf den Boden, als einer der Wachmänner die Arme um Ferro schlang.

»Dann erklär es uns doch!«, schnarrte es hinter dem Visier des anderen hervor. »Wieso hast du es so eilig?«

Seine behandschuhte Faust griff nach der Ausbuchtung in ihrem Hemd. »Was hast du da ...«

»Nein!« Ferro fauchte und wand sich, taumelte gegen die Wand und drängte einen der Wachmänner in den Durchgang. Die Hellebarde des anderen schwang elegant herab, und die schimmernde Spitze senkte sich auf Ferros Brust.

»Halt still!«, knurrte der Mann, »sonst werde ich ...«

»Lasst sie hinein! Sofort!« Sulfur stand auf der anderen Seite des Tores, und dieses Mal lächelte er nicht. Der Wachmann wandte ihm zweifelnd den Kopf zu. »Sofort!«, brüllte Sulfur, »im Namen von Lord Bayaz!«

Die beiden ließen sie gehen, und Ferro machte sich fluchend los. Dann rannte sie durch die Gärten und in den Palast, ihre Schritte hallten durch die Korridore, und Dienstboten und Wachleute machten ihr misstrauisch Platz. Sie fand die Tür zu Bayaz’ Gemächern und stieß sie auf, dann stolperte sie ins Zimmer. Die Kiste stand offen auf einem Tisch in der Nähe des Fensters, ein unauffälliger Block aus schwarzem Metall. Sie ging darauf zu, knöpfte ihr Hemd auf und zog das Ding hervor, das sie darunter versteckt gehalten hatte.

Ein dunkler, schwerer Stein von der Größe einer Faust. Die matte Oberfläche war immer noch kühl, kein bisschen wärmer als vorhin, als sie ihn zuerst in die Hand genommen hatte. Ihre Haut prickelte angenehm, wie unter der Berührung eines alten Freundes. Es machte sie irgendwie wütend, überhaupt daran zu denken, dass sie den Stein jetzt loslassen sollte.

Das war also endlich der Samen. Die fleischgewordene Andere Seite. Magie der reinsten Form. Sie erinnerte sich an die verödeten Ruinen von Aulcus. An das tote Land, das sich um die Stadt herum erstreckte, hundert Meilen in jede Richtung. Genug Kraft, um den Imperator und den Propheten und seine verfluchten Verzehrer und das ganze gurkhisische Volk und noch viel mehr in die Hölle zu schicken. Eine Kraft, die so schrecklich war, dass nur Gott allein sie besitzen sollte, und diese Kraft hielt sie nun in ihrer zarten Faust. Sie sah sie eine lange Zeit an. Dann begann Ferro langsam zu lächeln.

Jetzt würde sie ihre Rache bekommen.

Das Geräusch schwerer Schritte auf dem Flur brachte sie ruckartig zur Vernunft. Sie ließ den Samen in sein Nest fallen, riss ihre Hand mit Mühe von ihm los und schlug den Deckel der Kiste zu. Als hätte man in einem dunklen Zimmer eine Kerze ausgeblasen, erschien plötzlich alles gedämpfter, schwächer, seines Kitzels beraubt. Erst in diesem Augenblick merkte sie, dass ihre Hand ganz heil war. Sie sah sie mit gerunzelter Stirn an und dehnte ihre Finger. Sie bewegten sich so mühelos wie immer, und an den Knöcheln, von denen sie sich sicher gewesen war, dass sie zerschmettert worden waren, ließ sich keine Schwellung erkennen. Auch ihr anderer Arm war ganz, der Unterarm war gerade und glatt, und dort, wo Tolomeis Finger ihn gebrochen hatten, war nichts mehr zu sehen. Zwar waren Wunden bei ihr stets schnell verheilt. Aber dass sich Knochen selbst richteten, und das binnen so kurzer Zeit?

Das war nicht in Ordnung.

Bayaz schleppte sich mit verzerrtem Gesicht durch die Tür. Trockenes Blut klebte an seinem Bart, und ein dünner Schweißfilm bedeckte seinen kahlen Schädel. Er atmete keuchend, seine Haut war blass und zuckte, und einen Arm hielt er gegen seine Seite gepresst. Er sah aus wie ein Mann, der den ganzen Nachmittag gegen einen Dämon gekämpft hatte und knapp mit dem Leben davongekommen war.

»Wo ist Yulwei?«

Der Erste der Magi erwiderte ihren Blick. »Du weißt genau, wo er ist.«

Ferro erinnerte sich an das hallende Dröhnen, als sie aus dem Turm gerannt war. Als ob eine Tür zugeworfen wurde. Eine Tür, die keine Klinge, kein Feuer, keine Zauberkunst je öffnen konnte. Bayaz allein hatte den Schlüssel. »Du bist nicht zurückgegangen. Du hast die Tore versiegelt, als sie beide noch darin waren.«

»Es müssen Opfer gebracht werden, Ferro, das weißt du doch. Ich habe heute ein großes Opfer gebracht. Meinen eigenen Bruder.« Der Erste der Magi humpelte durchs Zimmer auf sie zu. »Tolomei brach das Erste Gebot. Sie schloss einen Pakt mit den Geheimnisverrätern. Sie wollte den Samen dazu verwenden, um die Tore zur Unterwelt zu öffnen. Damit wäre sie gefährlicher gewesen als alle Verzehrer Khaluls zusammen. Das Haus des Schöpfers muss versiegelt bleiben. Bis zum Ende aller Zeiten, wenn es sein muss. Eine Entwicklung nicht ohne Ironie. Sie begann ihr Leben eingeschlossen in diesem Turm. Jetzt ist sie dorthin zurückgekehrt. Die Geschichte bewegt sich im Kreis, wie Juvens schon immer sagte.«

Ferro runzelte die Stirn. »Scheiß auf deine Kreise, Rosig. Du hast mich angelogen. Was Tolomei betrifft. Und den Schöpfer und überhaupt alles.«

»Und?«

Sie blickte noch finsterer drein. »Yulwei war ein guter Mensch. Er hat mir in der Wüste geholfen. Er hat mir das Leben gerettet.«

»Und auch mir, mehr als einmal. Aber gute Menschen können auf dunklen Wegen nur eine gewisse Strecke zurücklegen.« Bayaz’ helle Augen glitten zu dem Würfel aus dunklem Metall unter Ferros Hand. »Andere müssen den Rest des Pfades für sie beschreiten.«

Sulfur kam durch die Tür, und Bayaz zog nun die Waffe unter seinem Mantel hervor, die er aus dem Haus des Schöpfers mitgebracht hatte, graues Metall, das im sanften Licht von den Fenstern schimmerte. Ein Relikt aus der Alten Zeit. Eine Waffe, die, wie Ferro gesehen hatte, Stein wie Butter schnitt. Sulfur nahm sie ihm mit nervösem Respekt ab und wickelte sie vorsichtig in altes Ölzeug. Dann öffnete er seinen Ranzen und ließ das alte schwarze Buch herausgleiten, das Ferro schon einmal gesehen hatte. »Jetzt?«, fragte er leise.

»Jetzt.« Bayaz nahm es ihm ab, legte die Hand sanft auf den vernarbten Umschlag, schloss die Augen und holte tief Luft. Als er sie wieder öffnete, sah er Ferro direkt ins Gesicht. »Die Wege, auf denen wir nun wandeln müssen, du und ich, sind wahrlich dunkel. Das hast du jetzt gesehen.«

Sie fand keine Antwort darauf. Yulwei war ein guter Mensch gewesen, aber das Tor zum Haus des Schöpfers war versiegelt, und er war im Himmel oder in der Hölle. Ferro hatte viele Männer auf die verschiedenste Weise begraben. Ein weiterer Erdhügel in der Wüste war nichts Außergewöhnliches. Sie war es satt, ihre Rache nur körnchenweise ausüben zu dürfen. Dunkle Wege machten ihr keine Angst. Sie hatte sie ihr ganzes Leben lang beschritten. Selbst durch das Metall der Kiste hindurch hatte sie das Gefühl, dass sie einen ganz feinen Hauch von einem Flüstern vernahm, das zu ihr sprach. »Ich will nur meine Rache.«

»Und du sollst sie haben, wie ich dir versprochen habe.«

Sie stand Bayaz gegenüber, sie sahen einander ins Gesicht, und sie zuckte die Achseln. »Was spielt es dann für eine Rolle, wer vor tausend Jahren wen getötet hat?«

Der Erste der Magi lächelte elend, und seine Augen leuchteten hell in seinem blassen, blutigen Gesicht. »Du sprichst mir aus der Seele.«