DER KÖNIGSMACHER

Draußen war ein heißer Tag, und das Sonnenlicht schien gleißend durch die großen Buntglasfenster und warf bunte Muster auf den Fliesenboden des Fürstenrunds. Der riesige Raum war normalerweise luftig und kühl, sogar im Sommer. Jetzt aber wirkte er stickig und unangenehm heiß. Jezal schob seinen verschwitzten Kragen vor und zurück und versuchte, einen kühlen Luftzug in seine Uniform zu lassen, ohne seine formvollendete Haltung aufzugeben.

Als er das letzte Mal auf diesem Fleck gestanden hatte, mit dem Rücken an der ausgebuchteten Wand, war die Gilde der Tuchhändler aufgelöst worden. Es war kaum zu glauben, dass das kaum mehr als ein Jahr her war, so viel war inzwischen passiert. Er hatte damals gedacht, dass sich unmöglich noch mehr Menschen ins Fürstenrund drängen und noch mehr Spannung und Aufregung herrschen konnten. Wie sehr er sich getäuscht hatte.

Die leicht gebogenen Bankreihen, die den Großteil des Saales ausfüllten, waren bis zum Bersten mit den mächtigsten Edelleuten der Union besetzt, und die Luft war durchdrungen von ihrem erwartungsvollen, angespannten, ängstlichen Wispern. Der gesamte Offene Rat war anwesend, eine pelzbesetzte Schulter drängte sich gegen die nächste, und jeder Mann trug die schimmernde Kette um die Schultern, die ihn in Gold oder Silber als Oberhaupt seiner Familie auswies. Jezal verstand von Politik wohl nur wenig mehr als ein Kohlkopf, aber selbst ihn berührte die Bedeutung dieses großen Ereignisses: die Ernennung eines neuen Hochkönigs der Union durch offene Wahl. Bei dem Gedanken spürte er ein aufgeregtes Kribbeln in seiner Kehle. Eine größere, wichtigere Entscheidung als diese konnte man sich kaum vorstellen.

Die Menschen in Adua waren sich dessen bewusst, das stand fest. Jenseits der Mauern, auf den Straßen und Plätzen der Stadt, wartete man gespannt auf Neuigkeiten bezüglich der Entscheidung des Offenen Rates. Darauf, dem neuen Herrscher zuzujubeln, oder ihn vielleicht auch mit Buhrufen zu begrüßen, je nachdem, auf wen die Wahl fiele. Jenseits der hohen Türen des Fürstenrunds wartete eine riesige, wogende Menge auf dem Marschallsplatz, Männer und Frauen des Agrionts, die danach gierten, den Ausgang der Wahl als Erste zu erfahren. Die Zukunft vieler Menschen hing davon ab, große Schulden würden beglichen werden, riesige Summen waren auf die Wahl gesetzt worden und würden entsprechend gewonnen oder verloren sein. Nur wenige Glückliche hatte man auf der Besuchergalerie zugelassen, aber es waren doch immer noch so viele, dass sie sich dicht bis an das Geländer drängten und dabei Gefahr liefen, hinübergeschoben zu werden und auf den Fliesenboden der Halle zu stürzen.

Die intarsiengeschmückten Tore am anderen Ende des Saales öffneten sich mit einem lauten Krachen, das von der hohen Decke widerhallte und durch den großen Raum dröhnte. Allgemeines Rascheln war zu hören, als sich alle Ratsmitglieder auf den Sitzen umdrehten, um zum Eingang zu sehen. Dann ertönten Schritte, und der Geschlossene Rat kam gemessen den Gang zwischen den Bänken entlang. Ein Grüppchen Sekretäre, Schreiber und Wichtigtuer eilte hinter ihnen her, Papiere und Folianten in den nervösen Händen. Lord Schatzmeister Hoff ging voran, das Gesicht in grimmige Falten gelegt. Ihm folgten Sult, ganz in Weiß, und Marovia, ganz in Schwarz, beide gleichermaßen feierlich dreinblickend. Dann kamen Varuz und Halleck, und ... Jezals Miene verdüsterte sich. Niemand anders als der Erste der Magi, der wieder einmal in seinen albernen Zauberermantel gekleidet war, mit dem missmutig wirkenden Lehrling im Schlepptau. Bayaz grinste, als ob er weiter nichts als einen unterhaltsamen Theaterbesuch vor sich hätte. Ihre Blicke trafen sich, und der Magus besaß die Dreistigkeit, ihm zuzuwinken. Jezal war überhaupt nicht amüsiert.

Während um sie herum das Murmeln immer lauter wurde, nahmen die alten Männer auf den hohen Stühlen hinter einem langen, leicht gebogenen Tisch Platz, so dass sie den Edelleuten auf den Bänken entgegenblickten. Die Schreiber setzten sich auf kleinere Stühle und legten sich ihre Papiere zurecht, öffneten ihre Bücher und flüsterten mit gedämpfter Stimme mit ihren Herren. Die Spannung im Saal stieg noch einmal an und näherte sich gefährlich der Hysterie.

Jezal fühlte, wie ihm ein kalter Schauer über den verschwitzten Rücken lief. Glokta war dort, neben dem Erzlektor, und dieses wohlbekannte Gesicht war alles andere als beruhigend. Jezal war am Morgen noch in Ardees Haus gewesen, wo er zudem die ganze Nacht zugebracht hatte. Wie zu erwarten gewesen war, hatte er sich weder von ihr losgesagt noch ihr die Ehe versprochen. In seinem Kopf drehte es sich, weil er ständig über diese Sache nachdachte. Je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto unmöglicher schien es ihm, sich zu entscheiden.

Gloktas fiebrige Augen glitten zu den seinen, hielten seinen Blick, huschten dann wieder davon. Jezal schluckte krampfhaft. Er hatte sich da in eine ganz schön üble Lage hineinmanövriert. Was, zur Hölle, sollte er nur tun?

 

Glokta warf Luthar einen kurzen, brennenden Blick zu. Nur, um ihn daran zu erinnern, wie die Sache steht. Dann drehte er sich auf seinem Stuhl wieder um, streckte mit schmerzvollem Gesicht das pochende Bein aus und drückte die Zunge hart gegen das leere Zahnfleisch, als er das Knacken im Knie fühlte. Wir haben Wichtigeres zu besprechen als Jezal dan Luthar. Weitaus Wichtigeres.

Für diesen einen Tag liegt die Macht beim Offenen Rat, nicht beim Geschlossenen. Bei den Edelleuten, nicht bei den Bürokraten. Bei den Zahlreichen, nicht den Wenigen. Glokta sah an seinem Tisch herunter und betrachtete die Gesichter der großen Männer, die das Geschick der Union die letzten zehn oder mehr Jahre gelenkt hatten: Sult, Hoff, Marovia, Varuz und die anderen. Nur ein Mitglied des Geschlossenen Rates lächelte: Der jüngste und unwillkommenste Neuzugang.

Bayaz saß auf seinem hochlehnigen Stuhl, allein von seinem blassen Lehrling Malacus Quai begleitet. Und der macht nicht gerade den Eindruck, als ob er besonders gute Gesellschaft wäre. Der Erste der Magi schien die beinahe schmerzhafte Anspannung in dem Maße zu genießen, in dem seine Mitmenschen unter ihr litten, und sein Lächeln wirkte zwischen all den gerunzelten Stirnen seltsam unpassend. Besorgte Gesichter. Schweißnasse Brauen. Nervöses Flüstern mit den Kumpanen. Sie alle hocken wie auf Reißzwecken. Genau wie ich natürlich auch. Lasst uns den armen Sand dan Glokta nicht vergessen, den treuen Diener des Gemeinwesens! Wir krallen uns mit den Fingernägeln an die Macht – und rutschen, rutschen. Wir sitzen wie Beschuldigte bei unseren eigenen Verhandlungen. Wir wissen, dass das Urteil bald gefällt wird. Wird es sich um eine unverdiente Zurückweisung handeln? Glokta fühlte ein Lächeln in seinem Mundwinkel zucken. Oder um ein wesentlich blutigeres Urteil? Was sagen die ehrenwerten Geschworenen?

Seine Augen huschten über die Gesichter der Ratsmitglieder auf den Bänken. Zweihundertundzwanzig Gesichter. Glokta dachte an die Zettel an der Wand des Erzlektors und ordnete sie den Männern zu, die vor ihm saßen. Die Geheimnisse, die Lügen und die Bündnisse. Vor allem die Bündnisse. Wie werden sie abstimmen?

Er sah einige von denen, deren Unterstützung er gesichert hatte. Oder zumindest so sehr gesichert hatte, wie in diesen unsicheren Zeiten möglich war. Er sah Ingelstads rosiges Gesicht im Gedränge recht weit hinten, und der Mann schluckte und sah weg. Solange du so wählst, wie wir wollen, kannst du hinsehen, wo du willst. Er sah Wetterlants schlaffes Gesicht ein paar Reihen weiter hinten, und der Mann nickte ihm beinahe unmerklich zu. Also war unser letztes Angebot erfolgreich. Vier mehr für den Erzlektor? Reicht das für eine Entscheidung, die uns in Lohn und Brot halten wird? Die uns am Leben erhält? Glokta fühlte, wie sein leeres Grinsen noch breiter wurde. Das werden wir bald sehen ...

In der Mitte der ersten Reihe unter den ältesten und besten Familien des Midderländer Adels hatte Lord Brock Platz gefunden, die Arme verschränkt, mit hungriger Erwartung im Gesicht. Unser Favorit, kurz vor dem Erreichen der Zielgeraden. Nicht weit von ihm entfernt saß Lord Ischer, alt und stattlich. Der zweite Favorit, der durchaus noch gewinnen kann. Barezin und Heugen hatten ihre Plätze ebenfalls in der Nähe, beide unbehaglich aneinandergedrängt, wobei sie sich immer wieder gegenseitig mit einem großen Maß an Verachtung musterten. Wer weiß,? Ein letzter Sprint, und der Thron könnte ihnen gehören. Lord Statthalter Skald saß ganz links vor den Abgeordneten aus Angland und Starikland. Neue Männer aus neuen Provinzen. Aber eine Stimme ist noch immer eine Stimme, ganz gleich, ob wir über sie die Nase rümpfen oder nicht. Ganz rechts befanden sich die zwölf Stadträte von Westport, die durch den Schnitt ihrer Kleidung und ihre Gesichtsfarbe deutlich als Außenseiter zu erkennen waren. Dennoch bedeuten auch sie ein Dutzend Stimmen, von dem noch niemand weiß, wohin sie gehen werden.

Vertreter Dagoskas waren heute keine anwesend. Es gibt leider keine mehr. Lord Statthalter Vurms wurde seines Postens enthoben. Sein Sohn verlor seinen Kopf und konnte daher leider nicht kommen. Was den Rest der Stadt betrifft, so wurde sie von den Gurkhisen erobert. Tja. Ein gewisser Schwund ist überall zu erkennen. Wir werden auch ohne sie weiterkämpfen. Die Figuren stehen auf dem Brett, bereit für den ersten Zug. Wer wird dieses schäbige Spiel gewinnen, was glauben wir? Das werden wir bald sehen ...

Der Ratssprecher trat in die Mitte der kreisrunden Fläche vor den Bänken, hob seinen Stab hoch über den Kopf und ließ ihn mehrmals so hart auf den Boden krachen, dass die Schläge laut von den polierten Marmorwänden zurückgeworfen wurden. Das Gemurmel verebbte, und die Würdenträger setzten sich allesamt so hin, dass sie zur Saalmitte blickten, die Gesichter von Anspannung gezeichnet. Ein bedeutungsschweres Schweigen legte sich über das voll besetzte Fürstenrund, und Glokta spürte, dass Zuckungen seine linke Wange packten und sein Augenlid tränen ließen.

»Hiermit erkläre ich die Versammlung des Offenen Rates der Union für eröffnet!«, donnerte der Ratssprecher. Langsam und mit grimmig gerunzelter Stirn erhob sich Lord Hoff und wandte sich den Anwesenden zu.

»Liebe Freunde! Liebe Kollegen! Hoch verehrte Lords von Midderland, Angland und Starikland, geschätzte Stadträte von Westport! Guslav der Fünfte, unser König ... ist tot. Seine beiden Erben ... sind tot. Einer fiel unter den Händen unserer Feinde im Norden, der andere unter den Händen unserer Feinde aus dem Süden. Dies ist wahrlich eine sorgenvolle Zeit, und wir stehen ohne einen Mann da, der uns führt.« Damit hob er die Arme beschwörend zu den Ratsmitgliedern. »Ihnen wurde nun eine große Verantwortung auferlegt. Die Wahl eines neuen Hochkönigs der Union aus Ihrer Mitte. Jeder Mann, der einen Sitz im Offenen Rat hier innehat, ist ein möglicher Kandidat! Jeder von Ihnen ... könnte unser nächster König sein.« Eine Salve fast hysterischen Flüsterns flutete von der Besuchergalerie heran, und Hoff musste die Stimme heben, um sich Gehör zu verschaffen.

»Eine solche Wahl hat in der langen Geschichte unserer großen Nation bisher nur ein einziges Mal stattgefunden!

Nach dem Bürgerkrieg und dem Sturz von Morlick dem Verrückten, als Arnault in beinahe einstimmiger Wahl auf den Thron gehoben wurde. Er ist der Ahnherr des großen Herrschergeschlechts, das bis vor wenigen Tagen Bestand hatte.« Er ließ die Arme wieder fallen und starrte traurig auf den Fliesenboden. »Weise war die Wahl, die Ihre Vorväter weiland trafen. Wir können nur hoffen, dass jener Mann, der heute gewählt wird, von und im Angesicht seiner Landsleute, ein Herrschergeschlecht gründen möge, das ebenso edel, stark, gerecht und langlebig sein wird!«

Wir können nur hoffen, dass die Wahl auf jemanden fällt, der tut, was man ihm sagt.

 

Ferro schob eine Frau in einem langen Liberkleid aus dem Weg. Sie schubste mit den Ellbogen einen dicken Mann zur Seite, dessen Hamsterbacken empört zitterten. Sie kämpfte sich bis an das Geländer vor und sah nach unten. Der große Saal unter ihr war voll besetzt mit alten Männern in pelzbesetzter Kleidung, die sich auf hohen Sitzbänken zusammendrängten, und jeder hatte eine funkelnde Kette um die Schultern und einen schimmernden Schweißfilm auf dem blassen Gesicht. Ihnen gegenüber, hinter einem gebogenen Tisch, saßen weitere Männer, allerdings viel weniger. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie Bayaz an einer Seite entdeckte, der lächelte, als wüsste er etwas, das keiner der anderen auch nur ahnte.

Wie immer.

Neben ihm stand ein fetter Rosig mit einem Gesicht voller geplatzter Äderchen, der irgendwas davon brüllte, dass jeder Mann nach seinem Gewissen entscheiden sollte. Ferro schnaubte. Es hätte sie sehr gewundert, wenn die paar hundert Männer da unten es insgesamt auf mehr als fünf Gewissen gebracht hätten. Oberflächlich schien es, als ob sie alle der Ansprache des fetten Mannes lauschten, aber Ferro sah noch etwas anderes.

Der Raum war voller geheimer Zeichen.

Männer sahen sich von der Seite an und nickten einander verstohlen zu. Sie zwinkerten mit den Augenlidern. Sie hoben den Zeigefinger an die Nase oder ans Ohr. Sie kratzten sich auf seltsame Art und Weise. Ein Spinnennetz voller Geheimnisse, das sich bis in die entfernten Ecken des Saales erstreckte und in dessen Mitte Bayaz grinsend hockte. Ein Stück hinter ihm vor der Wand stand Jezal dan Luthar in einer Uniform, auf der leuchtende Fäden prangten. Ferro kräuselte die Lippen. Sie erkannte es an der Art, wie er dort stand.

Er hatte überhaupt nichts gelernt.

Der Ratssprecher schlug wieder mit seinem Stab auf die Fliesen. »Die Abgabe der Stimmen wird nun beginnen!« Ein abgehacktes Stöhnen war zu hören, und Ferro sah, dass die Frau, an der sie sich zuvor vorbeigedrängt hatte, ohnmächtig zu Boden gesackt war. Jemand zog sie weg und fächelte ihr mit einem Stück Papier Kühlung zu, während die gereizte Menge die entstandene Lücke sofort wieder schloss. »In der ersten Runde wird das Feld auf drei Kandidaten eingegrenzt! Dann wird per Handzeichen über jene Kandidaten mit den größten Ländereien und Besitztümern abgestimmt!«

Unten auf den Bänken begannen die kostbar gekleideten Männer zu schwitzen und zu zittern, als stünde ihnen eine Schlacht bevor.

»Als Erster!«, schrie ein Schreiber, dem die Stimme brach, während er einen riesenhaften Folianten zu Rate zog. »Lord Brock!«

Oben auf der Galerie betupften sich die Besucher die Gesichter, murmelten und keuchten, als stünden sie dem Tode gegenüber. Vielleicht traf das auf einige auch zu. Der ganze Saal stank nach Zweifel, Erregung und Entsetzen, so stark, dass es beinahe ansteckend wirkte. So stark, dass sogar Ferro, die sich einen Scheißdreck um die Rosigs und ihre blöde Wahl kümmerte, merkte, wie ihr Mund trocken wurde, ihre Finger juckten und ihr Herz zu klopfen begann.

Der Ratssprecher wandte sich nun der Versammlung zu. »Der erste Kandidat ist Lord Brock! All jene Mitglieder des Offenen Rates, die Lord Brock zum nächsten König der Union wählen möchten, heben bitte die ...«

»Einen Augenblick, meine edlen Herren!«

 

Glokta wandte ruckartig den Kopf, aber seine Halswirbel rasteten auf halbem Wege ein, und er musste sich anstrengen, um aus dem Winkel seines tränenden Auges mitzubekommen, was vor sich ging. Er hätte sich die Mühe sparen können. Ich hätte mir ja denken können, wer da spricht, auch ohne mich umzusehen. Bayaz hatte sich von seinem Stuhl erhoben und lächelte dem Offenen Rat nachsichtig entgegen. Zeitlich genau abgestimmt. Ein Hagel zorniger Rufe schallte ihm von den Versammelten entgegen.

»Das ist nicht die richtige Zeit für Unterbrechungen!« »Lord Brock! Ich stimme für Brock!«

»Ein neues Herrschergeschlecht!«

Bayaz’ Lächeln blieb fest. »Aber was, wenn das alte Herrschergeschlecht fortgeführt werden könnte? Was, wenn wir alle einen neuen Anfang wagen«, und damit warf er seinen Kollegen im Geschlossenen Rat bedeutungsvolle Blicke zu, »und gleichzeitig das bewahren könnten, was an unserer jetzigen Regierung gut und richtig ist? Was, wenn es einen Weg gäbe, Wunden heilen zu lassen, anstatt neue zu schlagen?«

»Wie das?«, ertönten nun spöttische Rufe.

»Auf welche Weise?«

Bayaz’ Lächeln wurde noch breiter. »Nun, durch einen königlichen Bastard.«

Ein allgemeiner Aufschrei folgte. Lord Brock sprang von seinem Sitz. Als ob er eine Feder unter seinem Hintern hätte. »Das ist eine Beleidigung dieses Hauses! Ein Skandal! Sie beschmutzen das Andenken an König Guslav!« Nun wirkt er tatsächlich nicht mehr wie ein geifernder, sondern wie ein gefährlicher Kohlkopf. Andere Ratsmitglieder sprangen ihm bei, die Gesichter rot vor Zorn oder weiß vor Wut, reckten ihre Fäuste in die Luft und brüllten. Die gesamten Bankreihen schienen zu schnauben, zu grunzen und in Aufruhr zu geraten. Wie die eingepferchten Schweine im Schlachthaus, die gierig nach Küchenabfällen aller Art drängen.

»Halt!«, schrie der Erzlektor, der die weiß behandschuhte Hand flehentlich erhob. Ist nun vielleicht ein schwacher Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit zu erkennen? »Warten Sie, meine edlen Herren! Es kann doch nichts schaden, ihn anzuhören! Wir werden die Wahrheit zutage fördern, auch wenn sie schmerzhaft ist! Die Wahrheit sollte unser einziges Streben sein!« Glokta musste sich hart aufs Zahnfleisch beißen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen. Oh, aber natürlich, Euer Eminenz! Die Wahrheit war stets das Einzige, was Ihnen je am Herzen lag!

Nach und nach verebbte das Gemurmel. Die Ratsmitglieder, die aufgesprungen waren, wurden mit vorwurfsvollen Blicken wieder zur Ordnung gerufen. Die Angewohnheit, dem Geschlossenen Rat zu gehorchen, legt man nicht so schnell ab. Aber das ist mit Gewohnheiten schließlich immer so. Vor allem, wenn es um Gehorsam geht. Da muss man sich nur einmal die Hunde meiner Mutter ansehen. Sie nahmen grummelnd wieder Platz und ließen Bayaz weitersprechen.

»Die edlen Herren haben vielleicht schon einmal von Carmee dan Roth gehört?« Raunen drang von der Besuchergalerie und bestätigte, dass der Name in der Tat nicht unbekannt war. »Sie war eine große Favoritin des Königs in seinen jüngeren Jahren. Eine sehr große Favoritin. So sehr, dass sie schließlich ein Kind empfing.« Wieder wallte Gemurmel auf, diesmal lauter. »Ich hatte schon immer eine sentimentale Schwäche für die Union. Eines meiner Augen war stets auf das Wohl dieses Landes gerichtet, obwohl man es mir kaum gedankt hat.« An dieser Stelle sah Bayaz kurz und mit leicht gekräuselten Lippen zu den Mitgliedern des Geschlossenen Rates hinüber. »Als diese Dame schließlich im Kindbett starb, nahm ich den Bastard des Königs in meine Obhut. Schließlich brachte ich ihn in einer Adelsfamilie unter, wo er gut erzogen und ausgebildet werden sollte, für den Fall, dass die Nation eines Tages ohne Erben dastehen würde. Heute zeigt sich, dass ich damals wahrlich vorausschauend gehandelt habe.«

»Lüge!«, kreischte jemand. »Lüge!« Aber nur wenige Stimmen fielen ein, und sie klangen tatsächlich eher neugierig.

»Ein leiblicher Sohn?«

»Ein Bastard?«

»Carmee dan Roth, hat er gesagt?«

Sie haben diese Geschichte schon einmal gehört. Gerüchte, schon möglich, aber vertraute Gerüchte. Vertraut genug, damit sie jetzt alle aufmerksam lauschen. Und abwägen, ob es in ihrem Interesse liegen mag, sie zu glauben.

Lord Brock jedoch war nicht überzeugt. »Das ist doch offenkundig eine bloße Erfindung! Mehr als Gerüchte und Vermutungen werden nötig sein, um dieses Haus umzustimmen! Stellen Sie uns diesen Bastard vor, wenn Sie können, Sie sogenannter Erster der Magi! Zeigen Sie uns etwas Magisches!«

»Hier ist keine Magie vonnöten«, sagte Bayaz abfällig. »Der Sohn des Königs ist schon hier bei uns in diesem Saal.« Konsterniertes Schnaufen war von der Galerie zu hören, überraschtes Aufseufzen von den Ratsmitgliedern, verblüfftes Schweigen vom Geschlossenen Rat und seinen Helfern. Jedes Auge war auf Bayaz’ Zeigefinger gerichtet, als sein ausgestreckter Arm auf die Wand hinter sich wies. »Kein Geringerer als Oberst Jezal dan Luthar!«

Der Krampf begann in Gloktas zehenlosem Fuß, schoss sein verstümmeltes Bein hinauf, ließ das verdrehte Rückgrat vom Hintern bis zum Schädel erzittern, und sein Gesicht zuckte wie eine zornige Qualle, die wenigen Zähne klapperten gegen das leere Zahnfleisch und das Augenlid schlug so schnell wie ein Insektenflügel.

Der Widerhall von Bayaz’ letzten Worten fuhr wispernd durch den plötzlich völlig stillen Saal. »Luthar, Luthar, Luthar ...«

Das soll wohl ein verdammter Witz sein.

 

Die blassen Gesichter der Ratsmitglieder waren starr, die Augen weit aufgerissen vor Überraschung oder zusammengekniffen vor Wut. Die blassen Männer hinter dem Tisch glotzten blöde. Die blassen Leute auf der Galerie schlugen sich die Hand vor den Mund. Jezal dan Luthar, der vor Selbstmitleid geheult hatte, als Ferro ihm das Gesicht genäht hatte. Jezal dan Luthar, dieser undichte Pisspott voller Selbstsucht, Hochmut und Eitelkeit. Jezal dan Luthar, den sie die Prinzessin der Union genannt hatte, bekam an diesem Tag die Möglichkeit, tatsächlich ihr König zu werden.

Ferro konnte sich nicht länger beherrschen.

Sie warf den Kopf zurück und prustete und gurgelte und hustete vor Heiterkeit. Tränen traten ihr in die Augen, ihre Brust bebte, und ihre Knie zitterten. Sie umklammerte das Geländer, sie keuchte, blubberte, sabberte. Ferro lachte nicht oft. Wann sie es das letzte Mal getan hatte, wusste sie kaum noch. Aber Jezal dan Luthar und König?

Das war mal wirklich lustig.

 

Hoch oben auf der Besuchergalerie war jemand lauthals in Gelächter ausgebrochen. Ein abgehacktes Gackern, das dem feierlichen Augenblick so ganz und gar nicht angemessen war. Aber als Jezal begriff, dass es sein Name war, den Bayaz gerufen hatte, und dass er es war, auf den der ausgestreckte Finger zeigte, war es seine erste Regung, in dieses Gelächter einzufallen. Die zweite, als jedes Gesicht in dem riesigen Saal sich auf ihn richtete, war es, sich zu übergeben. Daraus entstanden ein unelegantes Husten, ein schamerfülltes Grinsen, ein unangenehmes Brennen im Rachen und eine fahle Blässe, die seine Wangen überzog.

»Ich ...«, krächzte er unwillkürlich und hatte dann keine Ahnung, wie er den Satz fortführen sollte. Welche Worte konnten in einem solchen Augenblick weiterhelfen? Er stand einfach nur da, schwitzte fürchterlich und zitterte unter seiner steifen Uniform, während Bayaz mit tönender Stimme fortfuhr und das Gelächter abschnitt, das von oben herunterperlte.

»Ich habe die beeidete Aussage seines Adoptivvaters hier, der bestätigt, dass das, was ich sage, die reine Wahrheit ist, aber spielt es eine Rolle? Die Wahrheit kann jeder Mann mit eigenen Augen sehen!« Sein Arm zuckte wieder in Jezals Richtung. »Er hat vor Ihnen allen das Turnier gewonnen und hat mich auf einer Reise voller Gefahren begleitet, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken! Er führte den Ausfall auf der Brücke von Darmium, ohne einen Gedanken an seine eigene Sicherheit zu verschwenden! Er bewahrte Adua vor einem Aufstand, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen! Sein Mut und seine Tapferkeit, seine Weisheit und seine Selbstlosigkeit sind uns allen bekannt! Kann daher bezweifelt werden, dass das Blut der Könige in seinen Adern rinnt?«

Jezal blinzelte. Seltsame Tatsachen drängten an die Oberfläche seines langsam arbeitenden Verstandes. Er war seinen Brüdern nicht besonders ähnlich. Sein Vater hatte ihn stets anders behandelt. Er allein aus der Familie war mit gutem Aussehen gesegnet. Ihm klappte der Mund ein wenig auf, aber er merkte, dass er nicht in der Lage war, ihn zu schließen. Als sein Vater beim Turnier im letzten Jahr Bayaz getroffen hatte, war er weiß wie eine Wand geworden, als hätte er ihn wiedererkannt.

Das hatte er getan – und er war überhaupt nicht Jezals Vater.

Als der König Jezal zu seinem Sieg gratuliert hatte, hatte er ihn für seinen eigenen Sohn gehalten. Der war offenbar viel weniger verblendet und idiotisch gewesen, als man damals gedacht haben mochte. Der alte Narr war der Wahrheit viel näher gekommen als sonst jemand. Plötzlich fügte sich all das auf schreckliche Weise zusammen.

Er war ein Bastard. Im wahrsten Sinn des Wortes.

Er war der leibliche Sohn eines Königs. Und noch schwerer wog, wie er langsam und mit wachsendem Entsetzen begriff, dass man ihn offenbar ernsthaft als dessen Nachfolger in Betracht zog.

»Meine edlen Herren!«, rief Bayaz in das ungläubige Geschnatter hinein, das mit jedem Augenblick lauter wurde. »Sie staunen! Es ist natürlich eine unglaubliche Sache, die schwer zu akzeptieren ist; das verstehe ich sehr gut. Vor allem bei der erdrückenden Hitze hier drin!« Er gab den Wachen auf beiden Seiten des Saales ein Zeichen. »Öffnen Sie die Tore, bitte, und lassen Sie ein wenig frische Luft herein!«

Die Türen schwangen auf, und eine sanfte Brise wehte ins Fürstenrund. Eine kühlende Brise, die noch etwas anderes mitbrachte. Erst war es schwer auszumachen, dann wurde es klarer. Es ähnelte dem Lärm am Ende des Turniers. Sanft, sich stets wiederholend und mehr als nur ein bisschen furchteinflößend.

»Luthar! Luthar! Luthar!« Der Klang seines eigenen Namens, der immer wieder aus Tausenden von Kehlen vor den Mauern des Agrionts erscholl, war unverkennbar.

Bayaz grinste. »Offenbar haben die Menschen der Stadt ihren Favoriten schon gefunden.«

»Es ist nicht an ihnen, ihn zu wählen!«, brüllte Brock, der immer noch auf den Beinen war, sich allmählich aber wieder fasste. »Ebenso wenig wie an Ihnen!«

»Aber es wäre dumm, ihre Meinung zu ignorieren. Die Unterstützung des gemeinen Volkes sollte nicht leichtherzig abgetan werden, schon gar nicht in diesen unruhigen Zeiten. Wenn man sie enttäuschte, gerade in der jetzigen Stimmung, wer könnte da sagen, was geschehen mag? Aufruhr in den Straßen oder noch Schlimmeres? Das will von uns doch sicherlich niemand, oder, Lord Brock?«

 

Eine faszinierende Geschichte, aber wenn er denkt, dass die gierigsten Männer der Union seine Worte einfach glauben und damit die Krone aufgeben werden, dann ist er schief gewickelt, ganz gleich, ob sich das gemeine Volk vor Begeisterung über Luthar in die Hosen macht oder nicht.

Nun erhob sich zum ersten Mal Lord Ischer aus der ersten Reihe, stattlich und prunkvoll, und die Edelsteine auf seiner Adelskette glitzerten. Und jetzt geht es los mit den wilden Einsprüchen, dem wütenden Bestreiten, den Forderungen nach Bestrafung.

»Ich glaube aus ganzem Herzen«, rief Ischer nun durchdringend, »dass der Mann, den wir als Oberst Jezal dan Luthar kennen, niemand anderes ist als der leibliche Sohn des kürzlich verstorbenen Königs, Guslavs des Fünften!« Glokta klappte die Kinnlade herunter. Offenbar war jeder im Saal derselben Meinung. »Und dass er aufgrund seines vorbildlichen Charakters und seiner außergewöhnlichen Leistungen, innerhalb wie außerhalb der Union, absolut dafür geeignet ist, die Regierung zu übernehmen!« Wieder ertönte ein Schwall hässlichen Gelächters von der Galerie, aber Ischer ging nicht darauf ein. »Meine Stimme und die Stimmen derer, die mich unterstützen, gebe ich von ganzem Herzen Luthar!«

Wenn Luthar die Augen noch weiter hätte aufreißen können, wären sie ihm aus dem Kopf gequollen. Und wer könnte ihm deswegen einen Vorwurf machen? Nun sprang einer der Vertreter Westports auf. »Die Stadträte von Westport stimmen wie ein Mann für Luthar!«, sang er in seinem styrischen Akzent. »Dem leiblichen Sohn und Erben von König Guslav dem Fünften!«

Ein paar Bänke weiter hinten erhob sich ein weiterer Mann. Er warf Glokta einen kurzen und etwas nervösen Blick zu. Es war niemand anders als Lord Ingelstad. Der verlogene kleine Scheißer, was will der denn jetzt? »Ich bin für Luthar!«, kreischte er.

»Und ich, auch für Luthar!« Das war Wetterlant, dessen tief liegende Augen ebenso wenig Gefühl preisgaben wie an dem Tag, als er die Enten gefüttert hatte. Bessere Angebote, wie, meine Herren? Oder schlagkräftigere Drohungen? Glokta sah kurz zu Bayaz. Ein leichtes Lächeln lag auf den Zügen des Magus, während er beobachtete, wie weitere Männer von ihren Bänken aufsprangen, um dem angeblich leiblichen Sohn Guslavs des Fünften ihre Unterstützung zu versichern. Und immer noch war von draußen das Geschrei der Menge in der Stadt zu hören.

»Luthar! Luthar! Luthar!«

Als das Entsetzen sich allmählich legte, begann Gloktas Hirn zu arbeiten. Also deswegen hat unser Erster der Magi zu Luthars Gunsten beim Turnier betrogen. Deswegen hat er ihn die ganze Zeit in seiner unmittelbaren Nähe gehalten. Deswegen hat er ihn für eine so aufsehenerregende Mission abkommandieren lassen. Hätte er irgendeinen Niemand als Sohn des Königs präsentiert, hätte man ihn im Saal ausgelacht. Aber Luthar, man mag ihn lieben oder hassen, ist einer von uns. Er ist bekannt, er ist vertraut, er ist ... annehmbar. Glokta betrachtete Bayaz nun mit einem Blick, der an Bewunderung grenzte. Kleine Mosaiksteinchen, die geduldig jahrelang vorbereitet wurden, um nun vor unseren ungläubigen Augen alle an die richtige Stelle zu rutschen und ein fertiges Bild zu ergeben. Und gibt es nichts, was wir tun könnten, außer nach seiner Pfeife zu tanzen?

Sult lehnte sich seitlich zu Glokta hinüber und zischte dem Superior ins Ohr: »Dieser Bursche, dieser Luthar, was ist er für ein Mann?«

Glokta sah mit gerunzelter Stirn zu dem Genannten hinüber, der immer noch wie vom Donner gerührt an der Wand stand. In diesem Augenblick machte er den Eindruck, als sei ihm kaum die Herrschaft über seine Gedärme zuzutrauen, von der Herrschaft über ein Land gar nicht zu reden. Dennoch hätte man mehr oder weniger dasselbe auch über unseren früheren König sagen können, und er hat seine Pflicht stets bewundernswert versehen. Seine Pflicht, dazusitzen und zu sabbern, während wir für ihn regiert haben. »Vor dieser Reise ins Ausland, Euer Eminenz, war er einer der hohlköpfigsten, rückgratlosesten und eitelsten jungen Narren im ganzen Land. Als ich allerdings das letzte Mal mit ihm sprach ...«

»Perfekt!«

»Aber, Euer Eminenz, Sie erkennen doch sicherlich, dass all das Bayaz in die Hände spielt ...«

»Mit diesem alten Narren werden wir uns später beschäftigen. Ich lasse mich beraten.« Sult wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, zur anderen Seite, um Marovia etwas zuzuzischen. Schließlich sahen die beiden alten Männer zum Offenen Rat hinüber, gaben ihre Zeichen und nickten den Männern zu, deren Stimmen sie kontrollierten. Und währenddessen lächelte Bayaz weiter. So wie ein Konstrukteur vielleicht lächelt, wenn seine Maschine zum ersten Mal läuft und genauso funktioniert, wie er gedacht hat. Der Magus fing Gloktas Blick auf und nickte ihm kaum merklich zu. Glokta konnte nur die Achseln zucken und die Geste mit einem zahnlosen Grinsen erwidern. Ich frage mich, ob wohl noch eine Zeit kommen wird, in der wir uns alle wünschen werden, für Brock gestimmt zu haben.

Marovia sprach inzwischen hastig mit Hoff. Der Lord Schatzmeister runzelte die Stirn, nickte, wandte sich dem Haus zu und gab dem Ratssprecher ein Zeichen, der daraufhin mit lauten, heftigen Schlägen Aufmerksamkeit einforderte.

»Edle Herren des Offenen Rates!«, brüllte Hoff, nachdem ein wenig mehr Ruhe eingekehrt war. »Das Erscheinen eines leiblichen Sohnes gibt dieser Entscheidung ein ganz anderes Gesicht! Offenbar schenkt uns das Schicksal die Möglichkeit, das Herrschergeschlecht Arnaults ohne Zweifel und Konflikte aufrechtzuerhalten!« Das Schicksal? Ich vermute, wir haben das vielmehr einem Wohltäter zu verdanken, dem wesentlich weniger egal ist, was geschieht. »Angesichts dieser außergewöhnlichen Umstände und der starken Unterstützung, die bereits von Mitgliedern dieses Hauses geäußert wurde, ist der Geschlossene Rat der Meinung, dass nun eine außergewöhnliche Wahl stattfinden sollte. Eine Abstimmung, die ausschließlich klären soll, ob der Mann, der früher als Jezal dan Luthar bekannt war, mit sofortiger Wirkung zum Hochkönig der Union erklärt werden sollte!«

»Nein!«, brüllte Brock, dem die Adern am Hals hervortraten. »Ich protestiere aufs Schärfste!« Aber er hätte ebenso gut gegen die kommende Flut protestieren können. Überall hoben sich in großer Zahl die Arme in die Höhe. Die Stadträte von Westport, die Männer von Lord Ischer, die Wähler, die Sult und Marovia bedrängt und bestochen hatten. Glokta sah noch viele, viele weitere, Männer, von denen er gedacht hatte, sie seien unentschlossen oder fest mit diesem oder jenem verbündet. Und sie alle unterstützen Luthar mit einer Geschwindigkeit, die stark dafür spricht, dass dies von langer Hand vorbereitet war. Bayaz saß mit verschränkten Armen zurückgelehnt da und sah zu, wie die Arme hochgereckt wurden. Schon war unübersehbar klar, dass mehr als die Hälfte des Saales für Luthar war.

»Ja!«, zischte der Erzlektor, ein triumphierendes Lächeln auf dem Gesicht. »Ja!«

Jene, die ihre Arme unten behalten hatten, Männer, die zu Brock hielten, oder zu Barezin oder Heugen, sahen sich mit großen Augen um, verblüfft und nicht nur ein wenig darüber entsetzt, wie die Ereignisse sie förmlich überrannt hatten. Wie schnell ihnen die Möglichkeit der Machtergreifung durch die Finger geglitten ist. Und wer könnte es ihnen verdenken? Es war ein Tag voller Überraschungen für uns alle.

Lord Brock unternahm einen letzten Versuch und hob einen Finger, als wolle er Luthar erstechen, der noch immer an der Wand stand. »Welche Beweise haben Sie, dass er tatsächlich der Sohn von jemand Bestimmtem ist, abgesehen von den Worten dieses alten Lügners?« Damit deutete er auf Bayaz. »Welche Beweise, meine edlen Herren? Ich verlange Beweise!«

Zorniges Gemurmel breitete sich über den Bänken aus, aber niemand trat hervor. Es ist schon das zweite Mal, dass Lord Brock vor diesem Rat Beweise verlangt hat, und das zweite Mal, dass er auf taube Ohren stößt. Welchen Beweis könnte es aber auch geben? Ein Muttermal auf Luthars Arsch in Form einer Krone? Beweise sind langweilig. Beweise sind lästig. Beweise spielen keine Rolle. Die Leute geben sich viel lieber mit einer einfachen Lüge zufrieden, als nach der schweren Wahrheit zu suchen, vor allem, wenn es ihren eigenen Interessen entgegenkommt. Und den meisten von uns wäre ein König ohne Freunde und ohne Feinde lieber als ein König, der von beidem reichlich hat. Die meisten von uns würden es vorziehen, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind, als eine ungewisse Zukunft zu riskieren.

Noch mehr Hände wurden erhoben, und Luthars Unterstützung war nun zu stark, als dass sich jemand ihr hätte entgegenstellen können. Jetzt ist es wie ein großer Felsbrocken, der einen Abhang herunterrollt. Niemand wagt es, ihm in die Quere zu kommen, um nicht zu Mus zerquetscht zu werden. Und so drängen sie sich alle dahinter zusammen, verleihen dem Felsen noch mehr Gewicht und hoffen, anschließend die Krumen einzusammeln.

Brock wandte sich mit tödlich finsterem Gesicht ab, stürmte den Gang hinunter und verließ den Saal. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass ein beträchtlicher Teil des Offenen Rates ihm hinterdrein stürmen würde. Aber in dieser Hinsicht, wie auch in so vieler anderer, wird er heute schwer enttäuscht. Höchstens ein Dutzend seiner treuesten Anhänger begleitete ihn auf seinem einsamen Marsch durch das Fürstenrund. Die anderen haben mehr Verstand. Lord Ischer tauschte einen langen Blick mit Bayaz, dann hob er seine blasse Hand. Die Lords Barezin und Heugen waren Zeugen, wie der Großteil ihrer Leute zu dem jungen Thronanwärter überlief: Sie sahen sich an, lehnten sich auf ihren Sitzen zurück und blieben vorsichtig stumm. Skald öffnete den Mund, um laut etwas zu rufen, sah sich um und überlegte es sich noch einmal; stattdessen hob er mit deutlichem Zögern langsam den Arm.

Es gab keine weiteren Proteste.

König Jezal der Erste wurde beinahe einstimmig auf den Thron erhoben.