DUNKLE PFADE

Jezal eilte durch den hohen Bogengang in die Palastgärten, umgeben von seinen Rittern. Es war überraschend, dass Kronrichter Marovia mit ihnen hatte Schritt halten können, als sie hastig durch den Agriont geeilt waren, aber der alte Mann schien kaum außer Atem zu sein. »Verschließt die Tore!«, brüllte er. »Die Tore!«

Die riesigen Türen wurden zugeschoben, und zwei Balken, die dick wie Schiffsmasten waren, wurden quer als Riegel vorgelegt. Jezal gestattete es sich, ein wenig befreiter zu atmen. Das Gewicht dieser Tore, die Höhe und Dicke der Palastmauern und die beträchtlich große Gruppe gut ausgebildeter und gut bewaffneter Männer, die sie verteidigten, vermittelten ein beruhigendes Gefühl.

Marovia hatte die Hand sacht auf Jezals Schulter gelegt und lenkte ihn den gepflasterten Weg zur nächsten Tür, die in den Palast hineinführte. »Wir sollten den sichersten Platz finden, den es gibt, Euer Majestät ...«

Jezal schüttelte ihn ab. »Wollen Sie mich in meinem Schlafzimmer einschließen? Oder soll ich mich im Keller verschanzen? Ich werde hier bleiben und die Verteidigung des ...«

Ein langer Schrei, der einem das Blut in den Adern gerinnen ließ, ertönte von der anderen Seite der Mauer und hallte durch die kahlen Gärten. Es war, als bohrte er ein Loch in Jezal, aus dem all seine Selbstsicherheit schnell herausleckte. Die Tore erzitterten hinter den mächtigen Balken, und die Vorstellung, sich im Keller zu verschanzen, gewann in erschreckender Geschwindigkeit deutlich an Anziehungskraft.

»Aufstellung!«, brüllte Gorst mit seiner schrillen Stimme. »Zum König!« Eine Mauer aus schwer bewaffneten Männern schloss sich binnen eines Augenblicks um Jezal. Sie zogen ihre Schwerter und hoben die Schilde. Andere knieten vor ihnen, holten Bolzen aus ihren Köchern und bedienten die Spannvorrichtungen der schweren Flachbogen. Alle Augen waren nun auf die mächtige Flügeltür gerichtet. Sie klapperte erneut und erbebte dabei leicht.

»Da unten!«, rief jemand von den Mauern über ihnen. »Da ...« Ein Kreischen ertönte, ein bewaffneter Mann stürzte von den Zinnen und kam mit dumpfem Schlag auf dem Boden auf. Ein Zittern ging durch seinen Körper, dann wurde er schlaff.

»Wie ...«, murmelte jemand und verstummte.

Eine weiße Gestalt sprang von der Mauer, drehte sich elegant in der Luft und kam hart auf dem Pfad vor ihnen auf. Sie erhob sich. Es war ein dunkelhäutiger Mann, angetan mit einer Rüstung in Weiß und Gold und mit einem Gesicht, das so glatt war wie das eines Jungen. In einer Hand trug er einen Speer aus dunklem Holz, in der anderen eine geschwungene Klinge. Jezal starrte ihn an, und der Junge sah mit ausdruckslosem Blick zurück. Es lag etwas Seltsames in diesen schwarzen Augen, oder vielmehr: Es fehlte etwas. Jezal wusste sofort, dass er keinen Menschen vor sich hatte. Das war ein Verzehrer. Einer, der das Zweite Gebot gebrochen hatte. Einer von Khaluls Hundert Worten, gekommen, um eine uralte Rechnung mit dem Ersten der Magi zu begleichen. Jezal erschien es ziemlich ungerecht, dass sein Name plötzlich mit auf dem Zettel stand. Der Verzehrer hob eine Hand, als wolle er sie segnen.

»Möge Gott uns alle in den Himmel erheben.«

»Und Schuss!«, quiekte Gorst. Die Flachbogen rasselten und spuckten. Eine Reihe von Bolzen glitt an der Rüstung des Verzehrers ab, ein paar weitere schlugen in sein Fleisch, einer unter den Brustpanzer, der andere in die Schulter. Ein Bolzen traf ihn direkt im Gesicht, so dass die Federn unter dem Auge herausragten. Jeder Mensch wäre tot zusammengebrochen. Der Verzehrer jedoch sprang mit entsetzlicher Schnelligkeit auf sie zu.

Einer der Ritter hob seinen Flachbogen in dem verzweifelten Versuch, sich zu verteidigen. Der Speer zerteilte die Waffe in zwei Teile und schnitt auch den Schützen auf Bauchhöhe in der Mitte durch, schlug dann mit hallendem Lärm in einen weiteren Mann und warf ihn zehn Schritt durch die Luft. Teile der eingedellten Rüstung und des zersplitterten Bogens flogen umher. Der erste Ritter gab ein seltsames Pfeifen von sich, als seine obere Hälfte auf den Weg krachte und seine sprachlosen Kameraden mit Blut bespritzte.

Jezal wurde zurückgedrängt und konnte zwischen den Bewegungen seiner Leibwächter nur Bruchstücke des Geschehens beobachten. Er hörte Schreie und Stöhnen, klapperndes Metall, sah blitzende Schwerter und spritzendes Blut. Ein Körper flog in einer Rüstung in die Luft, wedelte wie eine Lumpenpuppe mit Armen und Beinen und prallte dann auf der anderen Seite des Gartens gegen eine Mauer.

Die Körper glitten auseinander. Der Verzehrer war eingekreist und schwang den Speer in blendenden Kreisen. Dabei traf er einen Mann an der Schulter und warf ihn schreiend um, während der Schaft durch die Kraft des Stoßes brach und die Klinge mit der Spitze voran in die Erde drang. Ein Ritter griff von hinten an und durchbohrte den Verzehrer, so dass die schimmernde Spitze seiner Hellebarde ohne einen Tropfen Blut durch die weiße Rüstung über seiner Brust drang. Ein weiterer Ritter schlug ihm den Arm mit seiner Axt ab, und Staub rieselte aus dem Stumpf. Der Verzehrer schrie auf, schlug den Ritter mit der Rückhand gegen den Brustpanzer und schickte ihn stöhnend zu Boden.

Ein Schwertstreich drang kreischend durch die weiße Rüstung und wirbelte Staub auf, als würde ein Teppich ausgeklopft. Jezal sah wie gelähmt zu, als der Verzehrer auf ihn zuwirbelte. Gorst schubste ihn aus dem Weg und stieß ein tiefes Knurren aus, als er sein langes Eisen mit einem dumpfen Aufschlag tief in den Hals des Verzehrers fahren ließ. Das Geschöpf kam still ins Trudeln, während sein Hals nur noch an einem Stückchen Knorpel hing, und brauner Staub strömte aus seinen klaffenden Wunden. Es packte Gorst mit der verbliebenen Hand und der Ritter stolperte, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, dann sank er auf die Knie, als es ihm den Arm umdrehte.

»Hier hast du deinen Himmel, Bastard!« Jezals Schwert durchtrennte das letzte Stück seines Halses, und der Kopf des Verzehrers fiel aufs Gras. Er ließ Gorst los, und der Ritter packte seinen verdrehten Unterarm, in dessen schwerer Rüstung sich der Handabdruck des Wesens zeigte. Der kopflose Körper kippte langsam nach vorn.

»Verdammtes Ding!« Jezal trat gegen den Kopf, der in den Garten hineinrollte, und sah, wie er in ein Blumenbeet kippte und dabei eine lange Spur von Staub im Gras hinterließ. Drei Männer beugten sich über den Körper, der schwere Atem rauschte unter ihren Helmen hervor, und ihre Degen blitzten in der Sonne, als sie ihn in Stücke hackten. Die Finger zuckten immer noch.

»Sie sind aus Staub«, hauchte einer.

Marovia sah die Überreste stirnrunzelnd an. »Manche. Andere bluten. Jeder von ihnen ist anders. Wir sollten uns in den Palast zurückziehen!«, brüllte er und rannte durch den Garten. »Es werden noch mehr von ihnen kommen!«

»Mehr?« Zwölf Ritter der Wacht waren tot. Jezal schluckte, als er ihre zerschlagenen und blutigen, verdrehten und geschundenen Körper zählte. Die besten Männer, die die Union zu bieten hatte, lagen wie Altmetall zwischen den braunen Blättern im Palastgarten. »Mehr? Aber wie können wir ...?« Die Tore erzitterten. Jezals Kopf fuhr herum, und der blinde Mut, den ihm der Kampf kurzzeitig eingegeben hatte, verließ ihn schnell wieder, um übler Panik Platz zu machen.

»Hier entlang!«, brüllte Marovia, der eine Tür aufhielt und ihn verzweifelt zu sich winkte. Dabei gab es ohnehin keine anderen Möglichkeiten. Jezal eilte ihm entgegen, blieb mit einem seiner vergoldeten Stiefel am anderen hängen und stürzte drei Schritte, bevor er den Eingang erreicht hatte, schmerzhaft vornüber. Ein Krachen ertönte hinter ihm, ein Splittern, ein Knirschen von Holz und Metall. Er rollte sich auf den Rücken und sah, dass die Tore in einer Wolke fliegender Holzspäne aufbrachen. Geborstene Planken flogen durch die Luft, gebogene Nägel fielen metallisch klingend auf die Wege, Splitter rieselten auf den Rasen.

Eine Frau schlenderte durch das offene Tor, und die Luft schimmerte sanft um ihren hochgewachsenen, dünnen Körper. Eine bleiche Frau mit langem, goldenem Haar. Eine weitere schritt neben ihr dahin, die ihr bis aufs Haar glich, sah man davon ab, dass ihre linke Seite von Kopf bis Fuß mit rotem Blut bespritzt war. Zwei Frauen mit einem glücklichen Lächeln auf ihren wunderschönen, vollkommenen, völlig gleichen Gesichtern. Eine von ihnen schlug einem Heroldsritter auf den Kopf, als er sie angriff, riss ihm den geflügelten Helm vom zerschmetterten Schädel und ließ ihn durch die Luft wirbeln. Die andere richtete ihre schwarzen, leeren Augen auf Jezal. Er kam unsicher auf die Füße und floh, keuchend vor Angst, rutschte neben Marovia durch die Tür und in den schattenumlagerten Korridor, der mit uralten Waffen und Rüstungen gesäumt war.

Gorst und ein paar Ritter der Wacht folgten ihnen stolpernd. Hinter ihnen ging der ungleiche Kampf im Garten weiter. Ein Mann hob einen Flachbogen, um sofort in einer Blutfontäne zu explodieren. Ein in einer Rüstung steckender Leichnam krachte gegen einen Ritter, als dieser gerade die Flucht ergreifen wollte, und schleuderte ihn seitlich durch ein Fenster, so dass ihm das Schwert aus der Hand gerissen wurde. Ein anderer rannte mit schwingenden Armen auf die Angreifer zu, brach ein paar Schritt vor ihnen zusammen, und Flammen schlugen aus den Gelenken seiner Rüstung.

»Hilfe!«, heulte jemand. »Hilfe! Hil...« Gorst schlug die schwere Tür mit seinem gesunden Arm zu, und einer seiner Kameraden ließ den dicken Balken in die Befestigungen rutschen. Sie rissen sich alte Stangenwaffen von den Wänden, wobei an einer noch eine alte Kriegsflagge hing, und verkeilten sie vor dem Eingang.

Jezal wich bereits zurück. Kalter Schweiß rann unter seiner Rüstung über seine Haut, und er hielt den Griff seiner Klinge umklammert – weniger, um sich zu verteidigen, sondern vielmehr, weil ihm die Geste Sicherheit vermittelte. Sein stark verringertes Gefolge wich mit ihm zurück – Gorst, Marovia und nur noch fünf andere, und ihr keuchender, entsetzter Atem hallte im dunklen Korridor wider. Sie alle starrten die Tür an.

»Das letzte Tor hat sie nicht aufgehalten«, flüsterte Jezal. »Wieso sollte es dieses hier tun?«

Niemand antwortete.

 

»Bitte halten Sie Ihre sechs Sinne beisammen«, sagte Glokta. »Die Tür, bitte.«

Der dicke Söldner hob seine Axt gegen das Eingangstor der Universität. Splitter flogen. Es bebte bereits beim ersten Schlag, zitterte beim zweiten, sprang beim dritten auf. Der einäugige Zwerg huschte hindurch, ein Messer in jeder Hand, und Cosca folgte ihm mit gezogenem Schwert.

»Alles klar«, tönte sein gedehnter styrischer Dialekt von drinnen, »wenn auch ein bisschen muffig.«

»Hervorragend.« Glokta sah Ardee an. »Es wäre vielleicht am besten, wenn Sie sich ein wenig im Hintergrund hielten.«

Sie nickte erschöpft. »Das dachte ich auch gerade.«

Er humpelte voller Schmerzen über die Schwelle, nach ihm drängten die schwarz gekleideten Söldner in die Halle, und der letzte zog den sich sträubenden Goyle an seinen bandagierten Handgelenken hinter sich her. Und jetzt die Wege entlang, die ich einschlug, als ich diese staubige Hütte zum ersten Mal betrat, vor so vielen Monaten. Vor der Wahl. Sogar noch vor Dagoska. Wie schön, wieder hier zu sein ...

Die Dielenbretter knarrten gequält unter den Stiefeln der Söldner, während sie den dunklen Flur entlangschritten, vorbei an den fleckigen Bildern vergessener Adepti. Humpelnd betrat Glokta den großen Speisesaal.

Das Gruselkabinett von Praktikalen verteilte sich über den ganzen dämmrigen Raum, genau wie beim letzten Mal, als er hier gewesen war. Die zwei gleich aussehenden Männer aus Suljuk mit ihren Krummschwertern. Der große Dünne, die dunklen Männer mit ihren Äxten, der riesenhafte Nordmann mit dem zerschlagenen Gesicht. Und so weiter. Insgesamt gut zwanzig Leute. Haben die hier die ganze Zeit herumgesessen, frage ich mich, und sich gegenseitig bedroht, oder was?

Vitari war bereits von ihrem Stuhl aufgesprungen. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten sich von hier fernhalten, Krüppel.«

»Ich habe es ja versucht, wirklich, aber ich konnte Ihr Lächeln einfach nicht vergessen.«

»Ho, ho, Schylo!« Cosca schlenderte aus dem Flur herein und zwirbelte die gewachsten Enden seines Schnurrbarts mit einer Hand, während er mit der anderen den Degen zog.

»Cosca! Stirbst du denn niemals?« Vitari ließ ein Messer, das wie ein Kreuz gefertigt war, an einer langen Kette von ihrer Hand bis auf die Dielenbretter fallen. »Offenbar ist das heute der Tag der Männer, von denen ich gehofft hatte, sie nie wieder sehen zu müssen.« Ihre Praktikalen scharten sich um sie, Schwerter glitten aus ihren Scheiden, Äxte, Streitkolben, Speere schabten über den Tisch. Die Söldner polterten in den Saal, die eigenen Waffen im Anschlag. Glokta räusperte sich. »Ich denke, es wäre für alle Beteiligten besser, wenn wir diese Angelegenheit wie zivilisierte ...«

»Sehen Sie hier irgendeinen zivilisierten Menschen?«, unterbrach ihn Vitari ruppig.

Gut beobachtet. Ein Praktikal sprang auf den Tisch, und das Besteck klirrte. Der einhändige Söldner streckte seinen Haken in die Luft. Die beiden schwer bewaffneten Gruppen rückten zögernd aufeinander zu. Es sah tatsächlich ganz so aus, als wollten sich Cosca und seine gedungenen Streiter ihr Geld verdienen. Ein hübsches Blutbad wird es wohl geben, und das Ergebnis eines Blutbads ist immer sehr schwer vorauszusagen. Eigentlich würde ich dieses Risiko lieber gar nicht erst eingehen.

»Eine Schande ist das, vor allem wegen Ihrer Kinder. Wirklich eine Schande, dass keine zivilisierten Menschen zugegen sind!«

Vitaris orangerote Augenbrauen zogen sich wütend zusammen. »Die sind weit weg!«

»Oh, ich fürchte nicht. Zwei Jungen und ein Mädchen? Wunderschön, flammend rotes Haar, ganz wie ihre Mutter?« Durch welches Tor mögen sie geflohen sein? Die Gurkhisen kamen von Westen, von daher ... »Sie wurden am Osttor aufgehalten und in Gewahrsam genommen.« Glokta schob die Unterlippe vor. »In Schutzhaft, sozusagen. Es sind schließlich schlimme Zeiten für Kinder, um allein auf der Straße unterwegs zu sein.«

Obwohl sie ihre Maske trug, erkannte Glokta, wie das Entsetzen ihre Gesichtzüge erfasste. »Wann?«, zischte sie.

Wann hätte eine liebende Mutter ihre Kinder wohl in Sicherheit gebracht? »Nun, gleich am ersten Tag, als die Gurkhisen landeten, das wissen Sie doch.« An der Art, wie sich ihre Augen weiteten, erkannte er, dass er recht gehabt hatte. Und jetzt das Messer hübsch in der Wunde umdrehen. »Machen Sie sich aber keine Sorgen, für sie ist gesorgt. Praktikal Severard spielt das Kindermädchen. Aber wenn ich nicht zurückkehre ...«

»Sie würden ihnen nichts antun.«

»Was haben die Leute heute nur alle? Grenzen, die ich nicht übertreten werde? Menschen, denen ich nichts antun werde?« Glokta zeigte sein ekelerregendstes Grinsen. »Kinder? Hoffnung und gute Aussichten und noch das ganze glückliche Leben vor sich? Ich hasse die verdammten kleinen Bastarde!« Er zuckte seine verkrüppelten Schultern. »Aber vielleicht kennen Sie mich ja besser. Wenn Sie gern das Leben Ihrer Kinder aufs Spiel setzen möchten, dann können wir das ja herausfinden. Oder wir kommen zu einer Übereinkunft, so wie damals in Dagoska.«

»Scheiß auf dieses ganze Gequatsche«, knurrte einer der Praktikalen, hob seine Axt und tat einen Schritt nach vorn. Und die Gewaltbereitschaft steigert sich noch ein wenig und bewegt sich einen weiteren benommenen Schritt auf den Abgrund zu ...

Vitari streckte ihm die offene Handfläche entgegen. »Keine Bewegung.«

»Sie haben Kinder, was soll’s? Mir bedeutet das gar nichts. Und Sult wird das auch nichts bedeuiiiiii...« Metall blitzte auf, das Rasseln einer Kette war zu hören, und der Praktikal stolperte nach vorn. Blut rann aus seiner aufgeschlitzten Kehle.

Vitaris kreuzförmiges Messer glitt zurück in ihre Hand, und ihre Augen richteten sich wieder auf Glokta. »Eine Übereinkunft?«

»Ganz genau. Sie bleiben hier. Wir gehen an Ihnen vorbei. Sie haben nichts gesehen, wie man in den älteren Stadtteilen zu sagen pflegt. Sie wissen verdammt gut, dass Sie Sult nicht vertrauen können. Er hat Sie in Dagoska den Hunden überlassen, oder nicht? Und er ist sowieso fertig. Die Gurkhisen klopfen schon an die Tür. Es ist an der Zeit, dass wir mal etwas Neues versuchen, meinen Sie nicht auch?«

Vitaris Maske bewegte sich, als sie ihre Kinnmuskeln anspannte. Sie denkt nach, sie denkt nach. Die Augen ihrer Mörder funkelten, die Klingen ihrer Waffen schimmerten. Komm ja nicht auf den Gedanken zu glauben, dass ich dich nur täusche, du verdammtes Luder ...

»In Ordnung!« Sie machte eine Armbewegung, und die Praktikalen zogen sich murrend zurück, wobei sie die Söldner immer noch blutgierig anstarrten. Vitari nickte mit ihrem strubbeligen Kopf zu einem Eingang am Ende des Saales. »Den Flur dort entlang, die Treppe an seinem Ende hinunter, und dann kommt eine Tür. Eine Tür mit schwarzen Eisenbeschlägen.«

»Hervorragend.« Ein paar Worte sind doch immer noch wirkungsvoller als viele Klingen, selbst in Zeiten wie diesen. Glokta humpelte davon, und Cosca und seine Männer folgten ihm.

Vitari sah ihm mit finsterem Blick nach, die Augen zu tödlichen Schlitzen verengt. »Wenn Sie meine Kinder auch nur anrühren ...«

»Ja, ja.« Glokta winkte ab. »Ich bin ganz starr vor Entsetzen.«

 

Es folgte ein Augenblick völliger Stille, während sich die Überbleibsel des ausgeweideten Hauses auf einer Seite des Marschallsplatzes allmählich setzten. Die Verzehrer standen da, ebenso schockiert wie Ferro, ein staunender Kreis. Bayaz schien der Einzige zu sein, der vom Ausmaß der Zerstörung nicht überrascht war. Sein abgehacktes Glucksen hallte von den Mauern wider. »Es funktioniert!«, rief er.

»Nein!«, schrie Mamun, und die Hundert Worte eilten voran.

Immer näher kamen sie, die polierten Klingen ihrer wunderschönen Waffen glänzten, ihre hungrigen Münder standen offen, ihre weißen Zähne schimmerten. Noch näher kamen sie, strömten mit schrecklicher Geschwindigkeit dem Mittelpunkt des Kreises entgegen und kreischten in einem Chor des Hasses, der sogar Ferros Blut in den Adern gefrieren ließ.

Aber Bayaz lachte nur. »Lasst das Gericht beginnen!«

Ferro knurrte durch die zusammengebissenen Zähne, während der Samen kalt in ihrer Hand brannte. Ein mächtiger Windstoß fuhr von der Mitte des Platzes aus in die Ecken, ließ Verzehrer wie Kegel zu Boden fallen, wo sie sich mit schlackernden Gliedern überschlugen. Der Wind zerschlug jedes Fenster, drückte jede Tür auf und erfasste die Dächer aller angrenzenden Häuser.

Die großen, intarsienverzierten Tore des Fürstenrunds wurden mit mächtiger Saugwirkung aufgerissen, dann aus ihren Angeln gehoben und über den Platz geschleudert. Tonnen von Holz flogen durch die Luft wie Papierfetzen bei einer Bö. Sie schlugen eine verrückte Schneise in die hilflosen Verzehrer. Sie rissen die weiß gerüsteten Körper in Stücke, ließen Glieder einzeln durch die Gegend wirbeln und Blut und Staub hervorsprudeln und spritzen.

Ferros Hand schimmerte, ebenso die Hälfte ihres Unterarms. Sie atmete hastig, als sich die Kälte durch ihre Adern in jeden Körperteil ausbreitete und in ihrem Inneren brannte. Der Samen verschwamm und bebte, als ob sie ihn durch schnell fließendes Wasser betrachtete. Der Wind riss an ihren Augen, während weiße Gestalten wie Spielzeug emporgeschleudert wurden und in einem Sturm zersprungener Fensterscheiben, gesplitterten Holzes oder geborstenen Steins zuckten. Höchstens noch ein Dutzend stand auf den Beinen, taumelte, krallte sich am Boden fest, während die schimmernden Haare ihre Köpfe umwehten und sie sich gegen den Sturmwind stemmten.

Einer von ihnen griff nach Ferro, das verzerrte Gesicht gegen den Wind gereckt. Eine Frau, deren glänzender Kettenpanzer scheppernd hin und her schlug. Ihre Hände krallten sich in die schreiende Luft. Sie rückte näher und näher. Ein glattes, stolzes Gesicht, von Verachtung gezeichnet.

Wie die Gesichter der Verzehrer, die sie in der Nähe von Dagoska angegriffen hatten. Wie die Gesichter der Sklavenhalter, die ihr das Leben gestohlen hatten. Wie das Gesicht von Uthman-ul-Dosht, als er über ihren Zorn und ihre Hilflosigkeit gelächelt hatte.

Ferros Wutschrei verschmolz mit dem Kreischen des Windes. Sie hatte nicht gewusst, dass sie ihren Säbel mit so viel Kraft schwingen konnte. Das Entsetzen hatte nur einen winzigen Augenblick Zeit, um sich über das vollkommene Gesicht der Verzehrerin zu legen, bevor die gekrümmte Klinge durch ihren ausgestreckten Arm zuckte und ihr den Kopf von den Schultern schlug. Der Leichnam wurde davongerissen, und Staub quoll aus seinen klaffenden Wunden.

Die Luft war voller blitzender Formen. Ferro stand wie gebannt da, während die Trümmer um sie herumflogen. Ein Balken traf einen kämpfenden Verzehrer gegen die Brust und trug ihn schreiend davon, hoch in die Luft, wie eine Heuschrecke an einem Spieß.

Ein anderer zerbarst plötzlich in eine Wolke aus Blut und Fleisch, und die Überbleibsel wurden wirbelnd in den bebenden Himmel hinaufgesogen.

Der große Verzehrer mit dem Bart kämpfte sich voran, hob die schwere Keule über den Kopf und brüllte Worte, die niemand hören konnte. Durch die pulsierende, zuckende Luft beobachtete Ferro, wie Bayaz ihn ansah, eine Augenbraue hob und mit den Lippen ein einziges Wort formte.

»Brenne.«

Einen kurzen Augenblick flammte er auf wie ein heller Stern, und seine Umrisse brannten sich weiß in Ferros Augen ein. Dann wurden seine geschwärzten Knochen vom Sturm davongetragen.

Nur Mamun war noch geblieben. Er mühte sich verzweifelt nach vorn, schob die Füße über den Stein, über das Eisen, Zoll für Zoll Bayaz entgegen. Ein Beinschützer löste sich von seiner Rüstung und flog kreiselnd durch die tosende Luft, dann folgte ein Teil seines Schulterpanzers. Zerfetzter Stoff flatterte im Sturm. Die Haut über seinem verzerrten Gesicht begann sich zu falten und zu dehnen.

»Nein!« Ein suchender, greifender Arm drängte sich verzweifelt dem Ersten der Magi entgegen, die Fingerspitzen weit ausgestreckt.

»Ja«, sagte Bayaz, und die Luft um sein lächelndes Gesicht flimmerte wie die Luft über der Wüste. Die Nägel lösten sich von Mamuns Fingern, sein ausgestreckter Arm federte zurück, brach, wurde von der Schulter gerissen. Makellose Haut wellte sich von den Knochen, flatterte wie Segeltuch in einer Bö, und brauner Staub flog aus seinem aufgebrochenen Körper wie ein Sandsturm über die Dünen.

Ganz plötzlich wurde er hinweggefegt und schlug durch eine Mauer weit oben in einem der hohen Gebäude. Steinblöcke wurden von den Kanten des zerklüfteten Lochs, das er hinterlassen hatte, nach außen und nach oben geschleudert. Sie gesellten sich zum tanzenden Papier, den schlingenden Steinen, kreiselnden Bohlen, schlaffen Leichen, die in der Luft über dem Rand des Platzes herumwirbelten, schneller und schneller, ein Rund der Zerstörung, das den eisernen Kreisen auf dem Boden folgte. Es hatte nun die Höhe der großen Gebäude erreicht und trieb weiter nach oben. Alles auf seinem Wege saugte es ein, noch mehr Stein, Glas, Holz, Metall, Fleisch, und wurde mit jedem Augenblick dunkler, schneller, lauter und mächtiger.

Über den ungerichteten Zorn des Windes konnte Ferro nur Bayaz’ Stimme hören.

»Gott lächelt angesichts der Ergebnisse.«

 

Hundsmann stand auf und schüttelte seinen schmerzenden Kopf. Schmutz flog aus seinem Haar. Über seinen Arm lief Blut, Rot auf Weiß. Offenbar war die Welt doch nicht untergegangen.

Aber so, wie es aussah, war es ziemlich knapp gewesen.

Brücke und Torhaus waren verschwunden. Wo sie gestanden hatten, war nichts mehr außer einem Haufen geborstener Steine und eine gähnende Kluft, die in die Mauer hineingerissen worden war. Und sonst noch jede Menge Staub. Einige Leute waren noch dabei, sich gegenseitig umzubringen, aber wesentlich mehr wälzten sich am Boden, würgten und stöhnten oder schleppten sich durch die Trümmer; der Mut zu kämpfen hatte sie alle verlassen. Hundsmann wusste, wie ihnen zumute war.

Jemand kletterte über das viele Geröll, das jetzt an der Stelle lag, wo einmal der Burggraben gewesen war, und hielt auf die Bresche zu. Jemand mit verfilztem langem Haar und einem langen Schwert in der Hand.

Natürlich Neunfinger-Logen.

»Ach, Scheiße«, fluchte Hundsmann. Er hatte immer schon mal komische Ideen gehabt, dieser Logen, aber das jetzt war nicht einmal die schlimmste. Jemand folgte ihm über die Trümmerbrücke. Espe, die Axt in der Hand, den Schild am Arm, und sein dreckiges Gesicht zeigte eine so finstere Miene, wie ein Mann sie eben hat, wenn er eine dunkle Aufgabe erledigen will.

»Ach, Scheiße!«

Grimm zuckte die staubigen Achseln. »Wir gehen besser mal hinter ihnen her.«

»Joh.« Hundsmann zeigte mit dem Daumen auf Rotkapp, der sich gerade wieder aufrappelte und reichlich kleine Steinchen von seinem Mantel schüttelte. »Ruf ein paar Jungs zusammen.« Er deutete mit seiner Schwertklinge auf die Bresche. »Wir gehen in diese Richtung.«

Verdammt, er musste pissen, wie immer.

 

Jezal wich zurück, den schattenumlagerten Flur entlang. Er wagte kaum zu atmen und fühlte, wie der Schweiß auf seinen Handflächen, am Hals und in der kleinen Kuhle auf dem Rücken prickelte.

»Worauf warten sie?«, fragte jemand.

Über ihnen war ein leises Knarren zu hören. Jezal sah zu den schwarzen Dachbalken hinauf. »Haben Sie das gehört, da war gerade ...«

Eine Gestalt brach durch das Dach, wirbelte verschwommen weiß in den Gang hinunter und fällte einen der Ritter der Wacht. Ihre Füße hinterließen zwei große Dellen in seinem Brustpanzer, und Blut spritzte aus seinem Visier.

Sie lächelte Jezal an. »Ich überbringe die Grüße des Propheten Khalul.«

»Für die Union!«, brüllte ein anderer Ritter und griff an. Sein Schwert zischte ihr entgegen, aber nur einen Wimpernschlag später stand sie schon auf der anderen Seite des Ganges. Die Klinge schlug klappernd auf die Steinfliesen, ohne Schaden anzurichten, und der Mann machte einen Satz nach vorn. Sie packte ihn unter der Achsel, bog leicht die Knie und schleuderte ihn aufheulend durch die Decke. Putzbrocken regneten in den Gang, als sie einen zweiten Ritter am Hals packte und seinen Kopf mit so viel Gewalt gegen die Wand schlug, dass er im aufgebrochenen Mauerwerk stecken blieb; seine Beine, immer noch in ihrer Rüstung, hingen leblos herab. Uralte Degen fielen aus ihren Befestigungen und schlugen klappernd um seinen schlaffen Leichnam herum auf.

»Hier entlang!« Der Kronrichter zerrte Jezal betäubt und hilflos einer vergoldeten Flügeltür entgegen. Gorst hob seinen schweren Stiefel, trat hart dagegen und ließ sie zitternd aufspringen. Sie platzten in den Spiegelsaal. Die vielen Tische, die an Jezals Hochzeitstag dort gestanden hatten, waren längst wieder weggeräumt; vor ihnen lag, leer und weit, ein halber Morgen polierter Fliesen.

Er rannte zur gegenüberliegenden Tür hinüber, und seine lauten Schritte und sein keuchender, entsetzter Atem hallten durch den riesigen Saal. In den Spiegeln links und rechts und vor sich sah er sich leicht verzerrt selbst rennen. Ein lächerlicher Anblick. Ein Hanswurst-König, der durch seinen eigenen Palast floh, die Krone schief auf dem Kopf, das vernarbte Gesicht schweißüberströmt und schlaff vor Entsetzen und Erschöpfung. Er kam rutschend zum Stehen und wäre in seinem hastigen Bemühen anzuhalten um ein Haar auf den Hintern gefallen. Gorst krachte beinahe gegen seinen Rücken.

Eine der Zwillingsschwestern saß auf dem Boden neben der Tür, gegen die verspiegelte Wand gelehnt, und durch die Reflexion sah es so aus, als stütze sie sich auf ihre Schwester. Sie hob träge eine Hand, dunkelrot vor Blut, und winkte.

Jezal wandte sich ruckartig den Fenstern zu. Aber bevor er auch nur daran denken konnte, wieder loszurennen, zerbarst eins. In einem Schauer schimmernder Glasstücke sprang die andere Zwillingsschwester hindurch, überschlug sich mehrfach, kam dann elegant auf die Füße und hielt rutschend inne.

Mit einer Hand fuhr sie sich durch das goldene Haar, gähnte und leckte sich die Lippen. »Hattest du je das Gefühl, dass es immer die anderen sind, die den ganzen Spaß haben?«, fragte sie.