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Logan wusste nicht, ob er für eine Stunde oder für einen Tag ohne Bewusstsein gewesen war. Doch als er die Augen öffnete und versuchte, sich aufzurichten und wieder klar zu werden, erkannte er, dass es nicht mehr als ein paar Sekunden gewesen sein konnten. In der Kammer riefen und rannten alle durcheinander. Ein paar winzige Notlichter hatten sich eingeschaltet und tauchten die Kammer in einen düsteren purpurroten Schein. Rush beugte sich über ihn, massierte seine Handgelenke und versuchte, ihn auf die Beine zu ziehen.
«Komm, Jeremy», sagte er. «Wir müssen von hier verschwinden.»
Die Grabkammer füllte sich allmählich mit erstickendem, beißendem Qualm. In der Luft hing ein eigenartiger Gestank: eine Kombination aus brennendem Gummi, Ozon und – unheilverkündendem Methan.
«Was ist denn los?», rief einer der Arbeiter in abgehacktem, hysterischem Ton. Er hatte eine tiefe Schnittwunde auf der Stirn, die heftig blutete. «Was passiert denn nur?»
Was passiert? Die Worte von Narmers Fluch kamen Logan in den Sinn. Ein jeder Mann, der es wagt, mein Grab zu betreten, wird von einem schnellen und sicheren Ende ereilt. Die Hand, die meine sterbliche Hülle berührt, wird in unauslöschlichem Feuer brennen. Doch sollte jemand die Kühnheit besitzen, das dritte Tor zu passieren, dann wird der schwarze Gott aus der tiefsten Unterwelt ihn ergreifen, und er wird seine Glieder über das Antlitz der Erde zerstreuen.
Es ist Narmers Königin, dachte er. Neithotep. Sie versucht, ihre Unsterblichkeit zu schützen, indem sie ihr Grab – das Grab, das sie ihrem Mann gestohlen hat – ein weiteres Mal verschüttet. Sie tötet alle, die versuchen, es zu entweihen – oder sich die Krone anzueignen. Es ist die Königin – mit ein wenig Hilfe von Jennifer.
Ethan Rush war immer noch bei ihm und drängte Logan aufzustehen. Mühsam erhob er sich auf die Beine. Die Welt ringsum schwankte bedenklich, bis er sich ganz aufgerichtet hatte. Rush sah ihm genau in die Augen, grunzte etwas, wandte sich um und führte ihn aus der Kammer.
Sie ließen den marmorschwarzen Albtraum der dritten Kammer hinter sich, passierten die ganz mit Gold ausgekleidete zweite Kammer und erreichten schließlich den größeren Raum der ersten. Das gesamte Team hatte sich um die Schleuse herum versammelt, die nach draußen auf die Plattform und in den Umbilicus führte. Hier gab es keine Notbeleuchtung; mehrere Leute hatten ihre Taschenlampen hervorgezogen, und die Lichtkegel zuckten durch die Luft, die vor Qualm immer dicker wurde. Zahlreiche Funkgeräte waren in Betrieb und erfüllten den Hintergrund mit einem stetigen elektronischen Rauschen. Logan entdeckte die hagere Gestalt von Stone auf der Schleusenplattform, wo er einen nach dem anderen den schrägen Tunnel des Umbilicus hinaufdirigierte. Einer der Sicherheitsleute drängte Stone, selbst zu klettern, und nach einem Moment des Zögerns gab Stone nach und stellte sich in die Schlange. Ihm folgten zwei Techniker. Einer der Arbeiter, Kowinsky, geriet offensichtlich in Panik. Er drängte sich nach vorn und begann nach oben zu klettern, ohne auf die wütenden Rufe von Valentino zu achten, der ganz hinten stand und die anderen vor sich herschob.
Dann bewegte sich die Schlange nach vorn, und Logan duckte sich durch die massive Schleusentür und an dem fein geschliffenen Granit vorbei, der den Eingang von Narmers Grab bildete. Er erreichte das dicke Metallgitter der Schleusenplattform. Christina Romero war direkt vor ihm. Sie drehte sich zu ihm um, lächelte schwach und fing an zu klettern.
Schließlich war Logan an der Reihe. Er packte die erste Runge, sah nach oben, wollte den ersten Schritt machen – und erstarrte.
Der gelbe Umbilicusschlauch war ein einziges Chaos. Die massigen Kabel, die durch die gesamte Länge nach unten verlaufen waren, hatten sich gelöst und hingen in schlaffen Schlaufen kreuz und quer in der Röhre wie Eingeweide. Das Verstärkungsgerüst aus dicken Balken war an mehreren Stellen zerfetzt und die überlappenden hexagonalen Ringe nur noch ein Labyrinth aus wertlosem Bauholz. Die Leute vor ihm waren gezwungen, sich mühsam einen Weg durch die Trümmer zu bahnen. Personal oben im Bereitschaftsraum hatte Seile in den Schlund geworfen, doch im Gewirr von Kabeln und zerfetztem Holz waren sie kaum hilfreich.
Weit oben, am Ende des Umbilicus, meinte Logan den Schlund zu erkennen, aber er sah schwarz und verzerrt aus, und die Einfassung hatte sich aufgeschält wie von der Wucht einer starken Explosion. Doch die Entfernung war zu groß und die Luft zu sehr von Rauch und Qualm erfüllt, als dass er sich hätte sicher sein können.
Nicht der Schlund, sondern der Umbilicus selbst war es, der Logan erstarren ließ. Die gelbe Haut, bis vor wenigen Augenblicken noch so glatt und ebenmäßig, war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt von einbeulenden Wölbungen und Falten. An den Stellen, wo die Verstärkungsstreben zusammengebrochen waren, wölbten sich die Wände furchterregend auf das halbe Dutzend Leute herab, die wie Bergsteiger einer hinter dem anderen der Oberfläche entgegenkletterten. Das massive Gewicht des Sudd drückte von allen Seiten auf den Schlauch, suchte sich seinen Weg hinein, suchte nach einem Eingang, sei er auch noch so klein …
Logan spürte eine Berührung an der Schulter. «Los, Mann», hörte er Valentinos Stimme hinter sich. «Klettern Sie weiter! Sbrigati!»
Christina Romero war jetzt mehrere Stufen über ihm. Logan zwang sich, nur auf die Rungen zu sehen und zu klettern. Er weigerte sich resolut, noch einmal nach oben zu blicken, und konzentrierte sich ganz darauf, eine Hand über die andere und einen Fuß über den anderen zu setzen, links, rechts, links, rechts. Unter sich sah er aus dem Augenwinkel einen weiteren Techniker auf der untersten Sprosse. Auch er fing an zu klettern …
Und dann spürte er Christina Romeros Fuß an seiner Schläfe. Ohne nachzudenken, hob er den Kopf, um zu sehen, was die Ursache für die Verzögerung war.
Von oben hörte er Keuchen und Flüche.
Er sah an Christina vorbei, und sein Mut sank. Vielleicht sechs Meter über ihm wurde einer der Holzbalken – von der Explosion in zwei Teile zerrissen, die Ränder messerscharf gezackt – gegen eine Einbeulung in der Umbilicuswand gedrückt. Noch während Logan in entsetzter Faszination hinstarrte, näherte sich das gelbe Gummigewebe den scharfen Rändern des Balkens und berührte sie schließlich. Ein Riss entstand, zuerst winzig, dann schnell größer werdend, als der umgebende Sudd die Schwachstelle fand und ausnutzte.
«Nein!», stöhnte Kowinsky über ihm, der Arbeiter, der in Panik geraten war. «O Gott, nein!»
Und dann gab die Umbilicus-Wand nach, das Gewebe riss mit einem eigenartigen Geräusch, das halb Seufzen, halb Kreischen war. Im nächsten Moment erbrach sich der Sudd in den Schlauch wie eine Eruption aus nassem, stinkendem Treibsand. Wie Wasser, das durch einen langen Gartenschlauch lief, kam er ihnen entgegen. Unter dem unwiderstehlichen Druck begann sich der Umbilicus zu zerlegen, von oben nach unten, eine lange schwarze Naht, die mit alarmierender Geschwindigkeit aufriss, als der faulige Schlick sich seinen Weg bahnte und nach unten strömte. Schreie und Kreischen von den Kletterern weiter oben – eine wilde Kakophonie aus Bestürzung, Entsetzen, Angst.
Logan tat das Einzige, was ihm in diesem Moment einfiel. Instinktiv und ohne nachzudenken griff er nach oben, legte die Hände um Christina Romeros Füße, dann ließ er die Leiter los und glitt mit Christina zusammen an dem Techniker vorbei nach unten. Sie landeten schwer auf dem Boden neben der Schleusenplattform.
Sie stemmte sich gegen ihn. «Was machen Sie denn!», schrie sie ihn an.
«Christina!», brüllte er über ihre Proteste hinweg. «Schließen Sie die Augen!»
Es folgte ein lautes Rauschen, ein eigenartiger Tremor wie von einem Erdbeben, ein kalter Hauch von Jauchegrubengeruch, und dann sahen und hörten sie nichts mehr und waren eingehüllt in zähe, klebrige, erstickende Schwärze.