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Als Logan diesmal zur Schleusenplattform am Boden des Umbilicus hinunterstieg, waren so viele Leute da, dass er kaum Platz fand. Er zählte zehn Personen, einschließlich Christina Romero, Ethan Rush, Porter Stone, Frank Valentino, dazu zwei von Marchs Assistenten, zwei Arbeiter und zwei Sicherheitsleute. Logan nickte den Versammelten zu. Einige von ihnen – Rush, Stone, die Assistenten von March – wirkten sichtlich mitgenommen und geschockt. Die Stimmung war ernst und angespannt, und es war nicht viel zu spüren von der nervenaufreibenden Erwartung, die er bei seinem ersten Abstieg hinunter zu Narmers Grab bemerkt hatte.
Logan konnte nachvollziehen, dass Rush geschockt war – Jennifer lag immer noch im Koma; sie war in eine Art hypnotische Trance gefallen, aus der sie nicht ohne weiteres wieder aufgeweckt werden konnte –, doch warum die anderen genauso mitgenommen aussahen wie Ethan Rush, konnte Logan sich nicht erklären.
«Wo ist Dr. March?», fragte er und sah sich um. Niemand antwortete.
«Sind wir so weit?», fragte Stone stattdessen. Vereinzelt nickten Leute oder murmelten ihre Zustimmung.
«Dann wollen wir anfangen.» Während er sprach, nahm er Logan beim Arm und ging mit ihm ein Stück weit voraus und in die erste Grabkammer. Als sie außer Hörweite waren, beugte er sich zu Logan hinüber. «March ist tot», murmelte er.
Logan starrte ihn schockiert an. «Tot?»
Stone nickte. Er hatte die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass nur ein dünner Strich zu sehen war. «Er hat sich vergangene Nacht unbefugten Zutritt zum archäologischen Labor verschafft und Narmers Mumie beschädigt. Er hat die Bandagen zerschnitten und die Artefakte geplündert, die in den Bandagen versteckt waren. Es gab eine kleine Explosion und ein Feuer …»
«Eine Explosion?», fragte Logan ungläubig.
«Zwei unterschiedliche Chemikalien, die in den Schichten der Bandagen verborgen waren. Voneinander getrennt sind sie harmlos, hat man mir gesagt. Zusammengemischt verhalten sie sich wie eine antike Version von Napalm.»
«Sie meinen, eine Sprengbrandfalle? Was für Chemikalien? Wie konnte sie nach so langer Zeit noch funktionsfähig sein?»
«Meine Leute sind noch bei der Analyse, aber es sieht so aus, als wären die beiden Komponenten für sich genommen äußerst stabil. Ein Kaliumsalz, wie es scheint, und eine primitive Form von Glykol oder Glycerol als Antagonist.»
Stone sah zu den anderen, die sich langsam näherten. «Hören Sie, Jeremy – bis jetzt wissen nur ein paar Leute davon. Wir wollen, dass es so bleibt – wegen der Stimmung und … aus anderen Gründen.»
«Haben Sie irgendeine Idee, warum er das getan hat?», fragte Logan. «Sicher nicht allein aus Habgier oder dergleichen.»
«Es ist zu früh, um etwas zu sagen. Aber möglicherweise ist es genau das, deprimierend einfach. Ich habe eine Reihe von Nachforschungen in den Staaten in Auftrag gegeben. Wie es scheint, hat March im Verlauf des letzten Jahres hohe Schulden angehäuft und weit über seine Verhältnisse gelebt. Vielleicht stand er auch in Diensten eines meiner Rivalen und versuchte, unsere Arbeiter durch eine Inszenierung von Narmers Fluch zu verscheuchen. Oder er wollte sich lediglich die Taschen mit so viel Gold und Edelsteinen vollmachen wie nur irgend möglich.» Stone stieß einen Seufzer aus. «Ich hätte ihn erneut überprüfen lassen müssen, wie jeden anderen auch. Aber ich habe schon so oft mit ihm zusammengearbeitet – ich habe ihm wohl einfach vertraut.»
Logan nickte in Richtung der tieferen Teile des Grabes. «Sind Sie sicher, dass Sie das nicht verschieben wollen?»
Ein weiteres, entschiedeneres Kopfschütteln. «Wir können nichts verschieben. Der verdammte Damm ist so weit vor dem Plan, dass wir jeden Tag mit einer offiziellen Delegation rechnen müssen, die uns zum Abbruch zwingt, und wir sind viel zu weit fortgeschritten mit unserer Arbeit, als dass wir verstecken könnten, was wir hier tun. Wir müssen an Grabgütern bergen, so viel wir nur können, und von hier verschwinden, bevor es zu spät ist.»
Wir müssen an Grabgütern bergen, so viel wir können. Logan sah zu Christina Romero rüber. Es schien, dass Marchs Sammelwut selbst jetzt noch auf Stone abfärbte. Die Ägyptologin würde von Porter Stones Worten mit Sicherheit wenig halten.
Während sich die anderen um sie versammelten, ließ Logan den Blick über die erste Grabkammer schweifen. Seine Augen blieben auf dem schweren, stark verzierten Himmelbett haften, das nun zerstört im Raum stand. Es gab noch immer dunkle Blutflecken an der Stelle, wo der unglückselige Robert Carmody vorzeitig das Zeitliche gesegnet hatte. Die massiven goldenen Bolzen, die den schweren Baldachin gehalten hatten, waren absichtlich gelockert worden – war auch das Marchs Werk gewesen? Hatte er Vorbereitungen getroffen, um die Bolzen später schnell entfernen zu können?
Die Hand, die meine sterbliche Hülle berührt, wird in unauslöschlichem Feuer brennen. Narmers Worte, Narmers Fluch. Und wieder einmal schien er Wirklichkeit geworden zu sein. Ironie des Schicksals, dachte Logan – falls March tatsächlich Narmers Fluch ein wenig aufpoliert hatte, um die Mannschaft zu erschrecken, so hatte dieser Plan sich letzten Endes gegen ihn selbst gerichtet.
Schweigend durchquerte die Gruppe die erste Kammer und das offene Tor zur zweiten. Auch die zweite Kammer war nahezu vollkommen leer – die einzigen verbliebenen Gegenstände waren die beiden Schreine, die aus dem vulkanischen Stein der Höhle herausgearbeitet worden waren, und der riesige Sarkophag aus blauem Granit mitten in der Kammer. Logan sah erneut Christina Romero an. Ihr Gesichtsausdruck war gefasst und unlesbar.
Rush kam heran, und Logan drehte sich zu ihm um. «Wie geht es Jennifer?»
Der Arzt sah aus, als hätte er seit einer geraumen Weile nicht mehr geschlafen. «Wir haben sie in die Krankenstation verlegt. Ihre Organe arbeiten einwandfrei, und sie ist stabil. Ich kann nicht sagen, warum sie das Bewusstsein bisher noch nicht wiedererlangt hat.»
«Meinst du, es könnte eine Reaktion auf den Stress des letzten Übergangs sein? Eine Art hysterischer Katatonie?»
«Das bezweifle ich ernsthaft. Sie hat bis jetzt noch nie Anzeichen von Hysterie gezeigt.»
Logan blickte sich um. «Ich nehme an, du bist derjenige, der March für tot erklärt hat?»
Rush wurde noch ein wenig blasser. «Mein Gott. Was für eine Geschichte.»
Stone war zu der goldenen Mauer am Ende der zweiten Kammer vorgedrungen. Sie sah genauso aus wie die anderen Mauern, bis auf die großen Siegel entlang einer Seite sowie die Goldauflage. Logan trat näher und konnte eine Wandmalerei erkennen: Ein riesiges, grinsendes Gesicht, halb Schakal, halb Mensch, das sie beunruhigenderweise direkt anstarrte – in krassem Gegensatz zu den üblichen Profilen in ägyptischen Bildern und Reliefs. Der Rest der blattgoldüberzogenen Wand war, wie Logan jetzt erst bemerkte, über und über mit wunderschönen, kunstvoll gehauenen Hieroglyphen bedeckt.
«Tina?», wandte sich Stone an Christina Romero. «Können Sie erkennen, was diese Hieroglyphen uns sagen wollen?»
Christina näherte sich der Wand. «Es ist der letzte Teil des Fluchs, immer und immer wieder wiederholt», sagte sie nach kurzer Inspektion. «‹Sollte jemand die Kühnheit besitzen, das dritte Tor zu passieren, dann wird der schwarze Gott aus der tiefsten Unterwelt ihn ergreifen, und er wird seine Glieder über das Antlitz der Erde zerstreuen. Und ich, Narmer der Unsterbliche, werde ihn und die Seinen foltern, bei Tag und bei Nacht, im Wachen und im Schlaf, bis Wahnsinn und Tod zu seinem ewigen Tempel geworden sind.›»
Für einen Moment senkte sich Stille auf die kleine Gesellschaft herab.
«Und dieses Bild?», fragte Stone. «Dieses Gottesgesicht?»
«Ich habe so etwas noch nie gesehen», gestand Christina Romero.
«Was ist mit den Siegeln?»
«Es sind königliche Siegel, genau wie die anderen, die wir bisher gesehen haben, nur viel größer und kunstvoller. Serechs mit Echos der Flüche, eingewebt in die primitiven Symbole von Narmers Namen.»
Super-Siegel, dachte Logan bei sich.
«Das Bodenradar hat völlig anormale Werte für den Raum hinter der Wand ausgespuckt», sagte Stone. «Nach den Messungen scheint überhaupt nichts dort drin zu sein – was natürlich nicht sein kann.» Er starrte die Wand für einen Moment gedankenverloren an. Dann riss er sich zusammen. «Also schön», sagte er und drehte sich zu Rush um. «Fangen Sie an, Ethan.»
Die Gruppe wartete geduldig, während Rush ein kleines Testloch in die Wand bohrte, seine Instrumente einführte, die Luft in der dritte Kammer analysierte und schließlich für sicher erklärte. Dann trat Stone zu den Siegeln und durchtrennte behutsam zuerst die obere Nekropolenplombe und dann das untere, königliche Siegel, während sich neben ihm Christina Romero mit einer Kiste für die Artefakte in Bereitschaft hielt. Als er beide Siegel behutsam von der Blattgoldunterlage wegbog, ertönte ein lautes Klick, gefolgt von einem seufzenden, knirschenden Geräusch, und zu Logans Überraschung schwang die gesamte Wand wie eine Tür auf Angeln ein Stück weit nach innen und hielt kurz darauf wieder an. Die Gruppe wich wie auf ein Kommando hin zurück, und verschiedentlich wurde verblüfftes Ächzen laut. Doch als nichts weiter geschah, trat Stone erneut einen Schritt vor – ein wenig behutsamer diesmal – und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Dunkelheit von Kammer drei.
Nach einem Moment drehte er sich zu den Arbeitern um.
«Stabilisieren Sie den Eingang», ordnete er an. «Sobald Sie fertig sind, gehen wir rein.»