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Wieder ging Stone als Erster hinein. Er wartete kaum ab, bis die Arbeiter die Prüfung der Stabilität beendet hatten. Seine Bewegungen waren hastig, geradezu brüsk, als hätten die jüngsten Ereignisse – und die unerbittlich tickende Uhr – in ihm ein Gefühl von unziemlicher Eile geweckt. Er duckte sich an den Arbeitern vorbei durch die schmale Öffnung und verschwand hinter der Wand des dritten Tors. Für einen Moment herrschte absolute Stille – der einzige Hinweis, dass sich jemand in der dritten Kammer aufhielt, war der reflektierte Lichtschein von Stones Taschenlampe, der hier und dort durch die Dunkelheit zuckte. Dann hörte Logan, wie Stone sich räusperte.
«Tina? Ethan? Jeremy? Frank?», rief er mit eigenartig gepresster Stimme. «Bitte kommen Sie.»
Logan folgte den anderen durch die Lücke in der Wand und in die dritte und letzte Kammer. Im ersten Moment dachte er, seine Taschenlampe wäre kaputt – sie schien überhaupt kein Licht mehr abzugeben. Dann erkannte er den Grund dafür. Die gesamte Kammer, Boden, Wände und Decke, war mit einem schwarzen stumpfen Material ausgekleidet, allem Anschein nach Onyx, das kein Licht reflektierte. Der Stein schien die Strahlen ihrer Taschenlampen förmlich aufzusaugen, und die Kammer war so dunkel, dass ihr Inhalt kaum zu erkennen war.
«Mein Gott!», sagte Christina Romero erschauernd. «Das ist ja richtig unheimlich!»
«Ich hoffe, Sie haben noch professionellere Aussagen zu bieten, Tina», sagte Stone.
«Kowinsky!», rief Valentino durch den Spalt nach hinten in die zweite Kammer. «Schaffen Sie eine von den Natriumdampflampen herbei!»
Für kurze Zeit verstummten alle, während sie die Kammer untersuchten. Verglichen mit den beiden opulenten Kammern davor, war sie bemerkenswert leer. An der linken Wand stand ein einzelner, mit Blattgold überzogener Tisch. Darauf lagen ein Dutzend Papyri, sorgfältig aufgerollt und ordentlich nebeneinandergereiht. Im hinteren Bereich der Kammer stand etwas, das aussah wie ein Bett, relativ schmal und einst wohl von einem Laken und einem Kissen bedeckt, die leider beide zu Staub zerfallen waren. Auf der dem Tisch gegenüberliegenden Seite standen drei kleine Kisten an der Wand – allem Anschein nach aus massivem Gold –, zusammen mit einer einzelnen Urne.
Doch was die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, war der Artefakt im Zentrum der Kammer. Es war eine große Truhe aus schwarzem Stein, möglicherweise ebenfalls Onyx, auf einem phantastisch gearbeiteten Sockel aus dunklem, schwerem Holz. Die Ränder waren gesäumt mit Streifen aus Gold. An den Seiten befanden sich verschiedene bildhafte Darstellungen, die sie schon in der ersten Kammer gesehen hatten – der rechteckige Artefakt mit dem eisernen Stab darauf, das schalenförmige Objekt mit den goldenen lamettaartigen Fäden. Diesmal jedoch waren die Bilder aus einer Vielzahl bunter Edelsteine erschaffen, eingelassen in die Oberfläche der Truhe. Auf dem Deckel befand sich ein kunstvoller Serech.
«Tina?», fragte Stone und deutete auf den Serech. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. «Das ist das Symbol von Narmers Namen, richtig?»
Christina Romero nickte zögernd. «Ja, ich glaube schon. Ja.»
Stone drehte sich zu ihr um. «Sie glauben schon?»
Sie hatte ihre Videokamera abgesetzt – es war zu dunkel in der Kammer zum Filmen – und betrachtete die Truhe eingehender. «Die Glyphen sind die richtigen, kein Zweifel. Aber diese Kratzer hier, durch den Kopf des Welses hindurch … ich weiß nicht. Höchst ungewöhnlich. Andererseits ist alles ungewöhnlich. Dieses Gebilde auf der Rückseite, das aussieht wie eine Pritsche, die Schreine in der zweiten Kammer, die eigenartige Leere in diesem Raum hier …» Sie stockte erneut. «Es ist beinahe so, als wäre dieses Grab ein Probedurchgang für Narmers wirklichen Tod gewesen, für seine Passage in die nächste Welt, das Gebiet von Sechet-iaru.»
«Haben Sie so etwas schon einmal gesehen? Irgendetwas von alledem?», fragte Stone.
«Nein.» Sie blickte sich in der düsteren Kammer um, die Stirn in ratlose Falten gelegt. «Es ist beinahe, als ob … aber nein, nein, das ist unmöglich.» Sie starrte auf die Truhe. «Wenn ich doch nur einen genaueren Blick darauf werfen könnte.»
«Kowinsky!», bellte Valentino. «Was ist mit dem verdammten Licht?»
«Nicht genügend Platz, um die Scheinwerfer durch die Öffnung zu kriegen, Sir!», kam die Stimme von Kowinsky aus der zweiten Kammer.
«Vielleicht möchten Sie einen Blick auf die Schriftrollen werfen», sagte Stone an Christina Romero gewandt. «Möglicherweise werfen sie Licht auf unsere Fragen.»
Christina Romero nickte und ging zu dem Tisch mit den Papyri.
Nun trat Stone, gefolgt von Ethan Rush, zu den kleinen goldenen Kisten an der rechten Wand. Stone ging in die Hocke und begann vorsichtig und mit latexgeschützten Händen, den Deckel der ersten Kiste anzuheben.
Logan beobachtete ihn dabei. Er hatte die Hände vor die Brust geschlagen wegen der Kälte und fühlte sich zunehmend unwohl. Seit sie die Kammer betreten hatten, war er sich der bösartigen Präsenz bewusst gewesen. Sie wusste, dass sie hier waren, das stand für Logan außer Zweifel, doch das überwältigende Böse, das er schon mehrere Male gespürt hatte, schien sich diesmal zurückzuhalten, wenigstens einstweilen. Es war beinahe, als beobachtete es die Wissenschaftler, als wartete es … als wartete es auf den richtigen Augenblick. Logan griff in seinen Seesack und nahm den Ionenzähler hervor. Er schwenkte das Instrument langsam im Kreis. Die Luft hier in der dritten Kammer war signifikant stärker ionisiert als in den vorhergehenden Kammern. Er konnte nicht einschätzen, was das bedeutete.
Stone hatte unterdessen den Deckel entfernt. Er griff in die Kiste und nahm behutsam ein eigenartiges Gebilde hervor: ein Stück Metall, sehr dünn ausgehämmert. «Sieht aus wie reines Kupfer», sagte er. «Es gibt mindestens noch ein halbes Dutzend davon hier drin.»
Er wandte sich der nächsten Kiste zu, entfernte den Deckel, spähte hinein und zog dann etwas hervor, das im schwachen Licht der Taschenlampen beinahe wie ein Bajonett aussah, braun und sehr stark korrodiert. «Scheint Eisen zu sein», stellte er fest.
«Falls ja, dann ist es wahrscheinlich Meteoriteneisen», sagte Christina Romero, die sich von den Schriftrollen abgewandt hatte. «Und es wäre ein paar hundert Jahre früheres Eisenvorkommen, als wir es bisher bei den alten Ägyptern nachgewiesen haben.»
Doch Stone war bereits zum dritten Behälter übergegangen. Er öffnete ihn, schob die Hand hinein, zog sie wieder heraus. In der hohlen Hand hielt er Dutzende faserdünner Fäden aus reinem Gold, ineinander verdreht wie ein Knäuel aus Lametta.
«Was zum Teufel ist denn das?», murmelte er.
Christina Romero trat zu der Urne aus Schwarzrand-Keramik. Behutsam leuchtete sie mit der Taschenlampe in das offene Gefäß. «Leer», stellte sie fest. Dann hob sie das Gefäß an ihre Nase und schnüffelte misstrauisch. «Eigenartig. Es riecht säuerlich. Wie … wie Essig.»
Stone kam zu ihr, nahm ihr das Gefäß aus den Händen und schnüffelte ebenfalls. «Sie haben recht», sagte er und gab ihr die Amphore zurück.
«Kupferbänder, Eisendorne, Goldfasern …», murmelte Logan. «Was hat das alles zu bedeuten?»
«Ich weiß es nicht», sagte Stone. «Aber das dort wird all Ihre Fragen beantworten – und noch viel mehr.» Er deutete auf die onyxfarbene Truhe, die genau in der Mitte des Raumes stand. «Das dort wird uns alle berühmt machen – und dafür sorgen, dass ich als der größte Archäologe aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingehe.»
«Sie glauben …» Rush verstummte. «Sie glauben, dass in dieser Truhe die ägyptische Doppelkrone verborgen ist?»
«Ich weiß, dass sie dort drinnen ist. Es ist die einzige Erklärung. Es ist das letzte Geheimnis in der letzten Kammer von Narmers Grab.» Stone wandte sich an Valentino. «Frank? Ihre Männer sollen mir zur Hand gehen.»
Langsam kam die Gruppe näher und drängte sich in einem schweigenden Kreis um den schwarzen Sarg. Alle besessen von dem gleichen Gedanken.