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Christina Romero nickte. Sie packte ihre Taschenlampe, machte einen Schritt vor und leuchtete in die Finsternis des Mauerdurchbruchs.
Fast im gleichen Moment stolperte sie rückwärts. «Heilige Scheiße!», ächzte sie. Die übrige Gruppe stieß ein kollektives Japsen aus.
Hinter der Mauer, nur wenige Zentimeter von der Öffnung entfernt, stand eine furchteinflößende Statue aus Kalkstein, eine über zwei Meter hohe Kreatur mit dem Kopf einer Schlange, dem Körper eines Löwen und den Armen eines Menschen. Sie hockte sprungbereit und mit angespannten Muskeln da, als wollte sie sich im nächsten Moment durch die Öffnung auf die Menschen dahinter stürzen. Sie war in erstaunlich lebensechten Farben bemalt, die selbst in der Dunkelheit und nach fünftausend Jahren noch immer kräftig leuchteten. Die Augen waren eingelegte Karneolen, die im Licht der zahlreichen Taschenlampen bedrohlich gelb glänzten.
«Wow!», sagte Christina, als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. «Was für ein Wächter.»
Sie trat erneut vor und ließ das Licht ihrer Lampe über die furchteinflößende Gestalt gleiten. Am Fuß der Statue lag ein menschliches Skelett. Die ramponierten Überreste der einst prachtvollen Kleidung hingen noch an den Knochen.
«Ein Nekropolenwächter», murmelte Christina Romero über Funk.
Sehr vorsichtig schob sie sich an der Statue vorbei und tiefer in die Kammer hinein. Jeder Schritt wirbelte winzige Staubwölkchen auf.
Nach einer kurzen Pause folgte Stone, dann March, dann Rush mit seinen Analyse-Instrumenten. Die Arbeiter blieben auf der Plattform. Logan war der Letzte, der das Grab betrat. Er passierte das Siegel, schob sich um die Wächterstatue und das Skelett zu ihren Füßen und betrat die eigentliche Grabkammer.
Sie war nicht besonders groß, vielleicht fünf Meter tief und drei breit, am hinteren Ende ein wenig schmaler. Im aufgewirbelten Staub tanzten die Lichtkegel der Taschenlampen. Die Wände waren von oben bis unten mit türkisfarbenen Fliesen ausgekleidet, wohl eine Art Fayence, dachte Logan. Primitive Hieroglyphen und Malereien schmückten sämtliche Oberflächen. Die Luft war bemerkenswert kühl und trocken.
Die Grabkammer war angefüllt mit sauber aufgereihten Gaben: kunstvoll geschnitzten und bemalten Stühlen, einem massiven Himmelbett aus vergoldetem Holz, zahlreichen Uschebti, wunderschönen Töpferarbeiten, einer offenen, vergoldeten Kiste voller Amulette, Perlen und Edelsteine. Christina Romero bewegte sich langsam durch den Raum und filmte alles mit ihrer Videokamera. March folgte ihr ebenso langsam, während er einzelne Objekte behutsam mit handschuhgeschütztem Finger untersuchte. Rush überwachte seinen tragbaren Analysator. Stone blieb etwas zurück, wie um alles in Ruhe auf sich wirken zu lassen. Wenn überhaupt Unterhaltungen stattfanden, dann in leisem, beinahe ehrfürchtigem Ton. Es war, als hätten sie es erst jetzt begriffen: Wir sind in König Narmers Grab.
Logan stand neben Stone und verfolgte das Geschehen. Obwohl er darauf gedrängt hatte, die Gruppe zu begleiten, hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet – davor, dass die Bösartigkeit, die er schon früher gespürt hatte, hier unten noch stärker sein könnte. Doch stattdessen spürte er – nichts. Nein, das war nicht ganz richtig – er spürte eine Präsenz, doch es war beinahe so, als würde das Grab selbst sie beobachten, als wartete es auf etwas, auf den richtigen Augenblick vielleicht …
March legte eine Hand in einer beinahe liebkosenden Geste an die türkisfarbene Wand. «Diese Lavaröhre wurde aus Effusivgestein gebildet, aus Magma, und das Gestein war ursprünglich scharfkantig und spitz. Jetzt ist es unglaublich glatt, wie Glas. Wie viele Arbeitsstunden für das Polieren erforderlich gewesen sein müssen, bei den damaligen Werkzeugen!»
Tina war vor einer langen Reihe perfekt geformter Gefäße aus rötlichem Ton mit dunklem Rand stehen geblieben. «Diese Schwarzrandgefäße waren um die Zeit der Vereinigung weit verbreitet», sagte sie. «Sie werden uns sicher für die Datierung nützlich sein.»
«Ich nehme beim nächsten Abstieg Proben für Thermolumineszenztests», sagte March.
Einige Sekunden herrschte Schweigen, während die Gruppe begierig die Eindrücke in sich aufnahm.
«Ich sehe keinen Sarkophag», sagte Logan schließlich.
«In dieser äußeren Kammer sind in der Regel Haushaltsgegenstände und vielleicht einige weitere Utensilien untergebracht, die der Herrscher in seinem nächsten Leben benötigen könnte», erklärte Stone. «Der Sarkophag befindet sich tiefer in der Grabanlage, höchstwahrscheinlich in der letzten Kammer, hinter dem dritten Tor. Diese Kammer ist es wohl auch, deren Reinhaltung und Schutz die größte Sorge des Pharaos galt.»
Christina Romero kniete vor einer großen Truhe aus bemaltem Holz mit vergoldeten Kanten nieder. Mit langsamen, behutsamen Bewegungen wischte sie den fünftausend Jahre alten Staub von ihrem Deckel, entriegelte ihn und hob ihn vorsichtig an. Das Licht der Taschenlampe enthüllte mehrere Dutzend Papyrusrollen, eng gewickelt, offenbar in tadellosem, unbeschädigtem Zustand, dazu zwei Stapel Tafeln mit eingeritzten Inschriften.
«Mein Gott», hauchte sie atemlos. «Überlegen Sie nur, welche Geschichte sie enthalten!»
Stone war zu dem vergoldeten Himmelbett getreten. Es war wunderschön gearbeitet und schimmerte in einem beinahe überirdischen Glanz im Licht der Taschenlampen und Handscheinwerfer. Die zahlreichen kunstvoll bearbeiteten Teile der Konstruktion wurden von massiven Bolzen zusammengehalten, die aussahen wie aus purem Gold. «Sehen Sie sich den Baldachin an», sagte er und zeigte nach oben. «Dieses vergoldete Stück Holz wiegt sicher eine halbe Tonne. Alles ist perfekt erhalten. Als wäre es gestern erst hergestellt worden.»
«Das ist eigenartig», sagte March in diesem Moment. Er betrachtete eines der gemalten Bilder an den Wänden. Es war eine Darstellung zweier merkwürdig geformter Objekte. Eines war rechteckig, eine Art Box mit einem Stab darauf, umgeben von einem kupferfarbenen Kamm oder Banner. Das andere war ein weißer, schalenartiger Artefakt mit langen goldenen Strähnen, die von den Rändern wegführten. Die beiden Objekte waren umgeben von einem wahren Gewitter aus Hieroglyphen.
«Was halten Sie davon?», fragte Stone.
Christina schüttelte den Kopf. «Es ist einzigartig. Ich habe so etwas noch nie gesehen, nicht einmal etwas annähernd Vergleichbares. Sieht aus wie Werkzeuge, irgendwelche Geräte, auch wenn ich keine Ahnung habe, welchem Zweck sie gedient haben könnten.»
«Und die Glyphen, die sie umgeben?»
Eine Pause entstand, während Christina Romero die Hieroglyphen nacheinander im Schein ihrer Taschenlampe untersuchte. «Scheint sich um Warnungen zu handeln und um Verwünschungen oder Flüche.» Sie zögerte. «Ich muss sie im Labor genauer analysieren, schätze ich.» Sie trat zurück und schwenkte mit ihrer Kamera über die beiden Bilder.
«Uns mögen sie einzigartig erscheinen», sagte Logan, «aber in diesem Raum sind sie es nicht.» Er deutete auf ein Wandrelief ganz in der Nähe, das größte Relief in der Kammer. Es zeigte eine sitzende männliche Gestalt in Seitenansicht, den linken Fuß vorgesetzt, wie es üblich war in altägyptischer Kunst. Die Gestalt war edel gekleidet und eindeutig eine Person von hohem Rang. Und doch waren – bizarrerweise – die gleichen Objekte auf ihrem Kopf platziert wie auf der anderen Wandmalerei, die Schale unten und die Box mit dem Stab darüber. Die Gestalt war umgeben von Menschen, allem Anschein nach Priestern.
«Ich will verdammt sein», murmelte March.
«Was stellen diese Objekte Ihrer Meinung nach dar?», fragte Stone. «Kronen sind es jedenfalls nicht.»
«Vielleicht eine Art Bestrafung?», vermutete Logan.
«Ja, aber sehen Sie sich das hier an.» Christina Romero deutete auf ein geprägtes Detail unterhalb des großen Reliefs. «Es ist ein Serech – was bedeutet, dass die Gestalt auf dem Bild königlich ist.»
«Ist es der Serech von Narmer?», fragte Stone.
«Ja. Aber er wurde verändert. Entstellt, irgendwie», sagte Christina.
Langsam bewegte sich die Gruppe zur rückwärtigen Wand. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten auf der Oberfläche hin und her: eine weitere Mauer aus poliertem Granit, die einzelnen Brocken mit Mörtel eingesetzt. Auch hier fanden sich eine Nekropolenplombe und ein königliches Siegel, und auch hier waren beide intakt und unberührt. Im Gegensatz zum ersten Tor jedoch war dieses hier eingefasst in etwas, das aussah wie massives Gold.
«Das zweite Tor», flüsterte March beinahe ehrfürchtig.
Sie starrten es schweigend an, bevor Stone die Stille durchbrach.
«Wir kehren zur Station zurück und analysieren unsere Funde. Währenddessen schicken wir ein Team von Ingenieuren nach unten, das diese Kammer untersucht und sich überzeugt, dass die Struktur solide und intakt ist. Und danach …» Er hielt für einen Moment inne. Als er fortfuhr, bebte seine Stimme unmerklich. «Und danach machen wir weiter.»