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Als Logan in den Konferenzraum A zu einer Nachbesprechung ihrer Expedition gerufen wurde, nahm er an, dass die Gruppe so groß sein würde wie bei der ersten Konferenz, der er beigewohnt hatte, als es um den Generatorbrand gegangen war. Stattdessen jedoch fand er den großen Raum nahezu leer vor, bis auf Fenwick March mit einem seiner Assistenten, Christina Romero, Ethan Rush, Frank Valentino und ein oder zwei anderen, die er nicht kannte.
Er blickte sich in der kleinen Gruppe um, während er überlegte, ob er seine Entdeckung in diesem Rahmen publik machen konnte.
Stone betrat den Raum, dicht gefolgt von seiner persönlichen Assistentin. Sie schloss die Tür, während er an den beiden Stuhlreihen vorbei nach vorne zum Podest ging und sich vor das Whiteboard aufstellte.
«Fangen wir an», sagte er ohne Umschweife. «Bitte halten Sie Ihre Berichte kurz und bleiben Sie beim Thema. Fenwick, wenn Sie bitte anfangen würden?»
Der Archäologe raffte ein paar Blätter zusammen, räusperte sich und blickte auf. «Wir haben bereits damit angefangen, ein Inventar zu erstellen, basierend auf der Videoanalyse von Kammer eins. Unser Epigraphiker hat damit begonnen, die Inschriften aufzuzeichnen. Und sobald Dr. Rush sein Okay gegeben hat, schicken wir den Vermesser nach unten, damit er einen genauen Plan der Kammer und ihres Inhalts anfertigen kann.»
Stone nickte.
«Unsere Kunsthistorikerin hat die Malereien analysiert. Ihrer Meinung nach – basierend lediglich auf den Videobildern – gehören sie zu den ältesten bekannten ägyptischen Grabgemälden und sind ungefähr so alt wie die im Bemalten Grab Nummer Einhundert in Hierakonpolis.»
«Sehr gut», sagte Stone.
«Die Artefakte mögen bei erster Sichtprüfung und in Anbetracht ihres Alters in exzellentem Zustand sein, doch es gibt eine ganze Reihe von Objekten, die durchaus von vorsichtiger Stabilisierung und Restauration profitieren könnten. Die Schwarzrandgefäße und einige der Perlenamulette beispielsweise. Wann können wir mit dem Prozess des Kennzeichnens und Bergens anfangen?»
Bei dieser Frage funkelte ihn Christina Romero verärgert an.
«Immer der Reihe nach, Fenwick», entgegnete Stone. «Die Kammer muss vermessen, kartiert und statisch gesichert werden. Erst dann beschäftigen wir uns mit den Artefakten.»
«Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass die Zeit allmählich knapp wird?», sagte March.
«Nein, das müssen Sie nicht. Das ist der Grund, aus dem wir mit größtmöglicher Geschwindigkeit weitermachen. Aber wir werden nichts überstürzen und weder das Grab noch unsere Gesundheit mit überhasteten Aktionen in Gefahr bringen.» Stone wandte sich an Christina Romero. «Tina?»
Christina Romero rührte sich. «Es ist noch ein wenig früh, um detaillierte Angaben machen zu können. Und ich muss selbstverständlich zuerst noch die Schriftrollen und die Tafeln eingehender untersuchen. Nur so viel – was wir bisher gefunden haben, ergibt alles andere als ein klares Bild.»
Stone runzelte die Stirn. «Inwiefern?»
«Nun ja …» Christina zögerte. «Einige der Inschriften erscheinen ein wenig krude – wie in großer Hast hingeworfen.»
«Wir haben es hier mit der archaischen Periode zu tun», erinnerte March naserümpfend. «Die erste Dynastie. Die darstellenden Künste steckten noch in den Kinderschuhen.»
Christina zuckte unbeeindruckt die Schultern. «Wie dem auch sei, viele der Gegenstände und Inschriften sind einzigartig in der ägyptischen Geschichte. Sie sprechen von Göttern, Praktiken, Ritualen und Überzeugungen, die in starkem Gegensatz zum konventionellen Wissen stehen, das in späteren Perioden herrschte – der Zwischenzeit und dem Neuen Königreich.»
«Ich verstehe nicht», sagte Stone.
«Es ist schwierig zu beschreiben, weil alles so neu und unvertraut ist und ich gerade erst angefangen habe, es zu analysieren. Aber es ist beinahe, als ob …» Sie zögerte erneut. «Als ich die Inschriften zum ersten Mal las, die Namen der angerufenen Götter, die Geschlechter, die Abfolge der Rituale und so weiter, da hatte ich das Gefühl, als würde … als würde Narmer in nicht unerheblichem Maße von dem abweichen, was wir als Tradition begreifen. Aber dann dämmerte mir, dass das natürlich vollkommen unmöglich ist. Narmer war der Erste. Dieses Grab ist eindeutig das älteste Grab eines ägyptischen Pharaonen, das wir je gefunden haben. Also muss ich annehmen, dass es genau umgekehrt ist: Der Transfer von Narmers Wissen und Praktiken an die nachfolgenden Generationen war fehlerhaft. Es war, als hätten die Nachfahren Narmers nichts verstanden, als hätten sie ihn nachgeäfft, ohne wirklich zu begreifen, wozu die Rituale dienten. Verstehen Sie, es gibt gewisse Dinge bei den ägyptischen Ritualen, die wir bis heute nicht völlig verstanden haben, die in sich selbst widersprüchlich zu sein scheinen. Es ist durchaus möglich, dass wir, wenn wir sie im Licht der Funde des Originals, Narmers Grab, erneut analysieren, die Unterschiede feststellen und artikulieren können. Ich weiß mehr, sobald ich alles eingehend untersucht habe. Aber eines kann ich jetzt schon sagen: Diese Entdeckung wird die Ägyptologie auf den Kopf stellen.»
Stone rieb sich das Kinn. «Faszinierend. Irgendwelche Ideen, was die … die Wächterstatue angeht?»
«Zuerst dachte ich, es wäre ein Bildnis von Ammut, dem Verschlingenden Monster, das – zumindest in späteren ägyptischen Glaubenssystemen – die unwürdigen Seelen zum Totenfresser schickt. Doch dann wurde mir klar, dass seine Erscheinungsform nicht dazu passte. Es ist nur eine Vermutung, doch ich glaube, dass es sich möglicherweise um eine sehr primitive, rohe Darstellung des Gottes handelt, der in der Epoche des Mittleren Königreichs als Apophis bekannt war. In späteren Jahren wurde er als riesige Schlange oder auch als Krokodil dargestellt. Das wäre stimmig mit der Gestalt, die wir gesehen haben. Apophis war der Gott der Dunkelheit, des Chaos, der Fresser der Seelen, die Personifizierung des Bösen. Eine gute Wahl für einen Babysitter.» Sie hielt inne. «Wir haben es möglicherweise mit einer sehr frühen Version dieses Gottes zu tun, bevor Ammut und Apophis sich zu individuellen Entitäten entwickelten.»
Logan sah, wie Rush ihm einen Blick zuwarf. Der Totenfresser, dachte Logan. Das war die Gottheit, die Jennifer ebenfalls erwähnt hatte. Wie kann sie davon gewusst haben?, überlegte er. Es sei denn, eine Stimme aus einer sehr fernen Vergangenheit hat aus ihr gesprochen? Der Arzt sah müde aus, was Logan nicht überraschte. Jennifer hatte beinahe zwei Stunden gebraucht, um nach dem Übergang wieder aufzuwachen.
«Natürlich wissen wir noch nicht genau, wie dieser Gott in Narmers Theogonie passt, oder was er in dieser frühen Periode repräsentierte», fuhr Christina Romero fort.
«Was ist mit dem Hauptgemälde in der Kammer?», wollte Stone wissen. «Dem Bild, das eine Art Bestrafung darzustellen scheint?»
«Ich weiß leider nicht mehr als gestern. Es ist mir vollkommen fremd. Ich habe so etwas noch nie gesehen.»
«Und das zweite Tor?»
«Nach dem, was ich nach erster Sichtprüfung sagen kann, ist das königliche Siegel das gleiche wie beim ersten Tor.»
«Danke sehr.» Stone wandte sich an Rush. «Ethan? Was haben Sie?»
Rush richtete sich auf und räusperte sich. «Meine Analyse der Atmosphäre, vom Staub auf den Oberflächen und dem Mörtel ist abgeschlossen. Alles scheint mehr oder weniger inert zu sein. Es gibt eine relativ hohe Konzentration an Schimmelsporen und Pollen, aber nichts, worüber wir uns Gedanken machen müssten, solange wir die Einwirkzeit beschränken. Kein Problem bei sorgfältiger Reinigung nach dem Besuch der Grabstätte. Ich habe keine Hinweise auf gefährliche Bakterien, Viren oder Pilze gefunden. Bis der Dekontaminationsprozess abgeschlossen ist, empfehle ich N-95-Respiratoren zur Filterung der Atemluft sowie Latexhandschuhe, wobei ich davon ausgehe, dass dies ohnehin als Standard-Sicherheitsprozedur vorgesehen ist.»
«Gift?», fragte Stone.
«Negativ, nach meinen bisherigen Tests.»
Stone nickte zufrieden, dann wandte er sich an die beiden Forscher, die Logan bisher noch nicht kannte. «Bodenradar?»
Ein dürrer, nervös dreinblickender junger Mann schob seine Brille zurecht und setzte sich auf. «Das Bodenradar zeigt in der zweiten Kammer eine sehr große Masse – ein einzelnes Objekt, wie es scheint – von etwa vier Metern Länge und zwei Metern Höhe. Davor stehen vier kleinere, identische Objekte.»
Ein kurzes Schweigen.
«Der Sarkophag», murmelte March schließlich.
«Und die vier zugehörigen Kanopenkrüge», ergänzte Christina.
«Möglich.» Stone runzelte die Stirn. «Aber … in der zweiten Kammer, nicht in der dritten?»
«Es scheint noch eine Reihe weiterer Objekte zu geben», sagte der junge Mann. «Allerdings macht es das Hintergrundrauschen schwierig, sie effektiv zu unterscheiden.»
«Sehr schön.» Stone überlegte für einen Moment. «Wir verbringen den Rest des Tages damit, die erste Kammer zu dekontaminieren, zu sichern und den Inhalt zu stabilisieren. Morgen früh werden wir dann das zweite Tor öffnen. Wenn einer von Ihnen in der Zwischenzeit eine ungewöhnliche Entdeckung macht, möchte ich umgehend informiert werden.»
Er sah Logan an. «Apropos – möchten Sie vielleicht noch etwas hinzufügen, Jeremy?»
«Ja. Gestern Abend habe ich mit Fontaine gesprochen. Er hatte gemeldet, dass sich eines der elektronischen Geräte in seinem Verantwortungsbereich eigenartig verhält – es schaltet sich zu unerwarteten Zeiten scheinbar von alleine ein, arbeitet eine Weile und schaltet sich wieder aus.»
Christina pfiff leise die Titelmelodie von Twilight Zone.
«Bei dem fraglichen Gerät handelt es sich um eines der Satelliten-Telefone. Als ich erfuhr, dass sich beide von Fontaine geschilderten Zwischenfälle gegen ein Uhr dreißig morgens ereignet hatten, bat ich ihn, den Flash-Speicher des Telefons zu kontrollieren.»
«Und?», fragte Stone.
«Das interne Log zeigt insgesamt vier unautorisierte Satellitenverbindungen, jede um exakt ein Uhr vierunddreißig Ortszeit. Es handelt sich um verschlüsselte E-Mails, die an einen Internet-Remailing-Dienst geschickt wurden und damit nicht nachverfolgt werden können.»
Die Anwesenden schwiegen schockiert.
Stone war aschfahl geworden. «Wie ist das möglich?», fragte er. «Niemand hat Zugang zu den Satelliten-Telefonen. Sie können nur von den Kommunikationstechnikern benutzt werden.»
«Eine eingehendere Untersuchung des fraglichen Gerätes ergab, dass es mit Hilfe einer selbstgebauten Platine manipuliert wurde. Fontaine untersucht die Platine zurzeit mit einem Oszilloskop und einem Signalgenerator, aber ihre Funktion scheint darin zu bestehen, drahtlose Textnachrichten aus dem Netzwerk der Station zu empfangen, zu speichern und sie zu später Stunde an den Satelliten zu senden, wenn die Kommunikationszentrale nicht besetzt ist. Der Satellit leitet die Sendung an den Remailing-Dienst weiter.»
Für weitere Sekunden herrschte betroffenes Schweigen. Logan entging nicht, dass die Anwesenden sich gegenseitig unbehaglich musterten.
«Wer weiß davon?», fragte Stone.
«Fontaine, ich und jetzt die hier im Raum Versammelten.»
Stone erhob den Zeigefinger. «Niemand redet darüber. Ist das klar? Niemand außer uns darf davon erfahren.» Er schüttelte den Kopf. «Gütiger Gott. Ein Spion.»
«Oder ein Saboteur», sagte Christina Romero.
«Oder beides», flüsterte Logan.