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Logan saß am Schreibtisch in seinem kleinen Büro in Sektion Braun und starrte auf den Bildschirm seines Laptops, ohne wirklich etwas zu sehen. Es war sehr spät – zwei Stunden nach Mitternacht –, doch er fühlte sich immer noch zu rastlos, um zu schlafen.
In seiner beruflichen Karriere als Enigmatologe hatte Logan manch ungewöhnliches und gelegentlich auch gefährliches Abenteuer erlebt. Er war auf der Suche nach dem Yeti in den Himalaya gestiegen, er war in einer Glocke zum Grund schottischer Lochs getaucht, und für jedes halbe Dutzend Geister oder spektraler Entitäten hatte es eine gegeben, die er nicht mit Wissenschaft hatte erklären können. Er hatte drei Exorzismen beigewohnt. Doch nichts, absolut gar nichts von alledem hatte in ihm auch nur annähernd die Nervosität und Beunruhigung geweckt wie die unsichtbare Präsenz, die er an diesem Abend im Zimmer von Jennifer Rush an ihrem Bett gespürt hatte.
Er rührte sich auf seinem Stuhl, nahm eine Mitschrift des Übergangs zur Hand und las:
[Start um 21:04:30]
Q: Mit wem spreche ich?
Q: Mit wem spreche ich?
A: «Nut» oder «Seth» (unverständlich)
Q: Mit wem spreche ich jetzt?
A: Stimme … von … Horus.
Q: Was kannst du mir über das Siegel sagen? Das erste Tor?
A: Das … erste … Tor …
Q: Ja. Was sollen wir …
A: Ungläubige! Ihr Feinde von Ra! Verlasst sofort diesen Ort, oder Er, Dessen Gesicht Nach Hinten Gewandt Ist, wird euer Blut aussaugen und die Milch aus den Mündern eurer Kinder nehmen. Die Fundamente eurer Häuser werden einstürzen, und ihr werdet einen endlosen Tod in der Großen Dunkelheit sterben!»
[Ende um 21:07:15]
Die Fundamente eurer Häuser werden einstürzen. Das klang nach einem Teil von Narmers Fluch, wie Christina Romero ihn für Logan übersetzt hatte. Logan fragte sich, wie viel Jennifer Rush über diesen Fluch wusste – falls überhaupt.
Er legte die Mitschrift nieder. Da war noch etwas. Er versuchte sich zu erinnern, was Christina zu ihm gesagt hatte.
An’kavasht – Der Dessen Gesicht Nach Hinten Gewandt Ist. Ein Gott der Albträume und des Bösen, der Draußen, in der endlosen Nacht wohnte.
Draußen. In der endlosen Nacht. Im Sudd.
Im Verlauf der vergangenen Tage hatte Logan Recherchen angestellt zu den Flüchen des alten Ägypten – mit Hilfe eines speziellen Computers in Stones Vorzimmer, der über eine Satellitenverbindung zum Internet verfügte. Diese Flüche hatten eine lange und farbenfrohe Geschichte, die weit mehr umfasste als alles, was der Boulevard-Journalismus über Tutanchamun und Howard Carter je geschrieben hatte. Logan hatte schon früher mit Flüchen zu tun gehabt, in Gibraltar, in Estland, in New Orleans. In jedem dieser Fälle hatte es einen Gegenspruch gegeben, eine Maßnahme, die die Verwünschung abmilderte oder ablenkte. Nicht so bei den Gräbern der alten Ägypter. Trotz aller Nachforschungen und aller Lektüre hatte Logan nur eine Möglichkeit gefunden, um den Flüchen der Pharaonen zu entgehen: Man musste sich in sicherer Entfernung der Gräber halten.
Auf irgendeine unwiderstehliche Weise kehrten seine Gedanken immer wieder zu Jennifer Rush zurück, zu der beinahe verzweifelten Art und Weise, wie sie seinen Unterarm gepackt hatte, zu dem Ausdruck in ihren Augen, als sie ihn um Hilfe angefleht hatte. Es war, als wären ihm Schuppen von den Augen gefallen, als hätte er sie und ihre schreckliche Verwundbarkeit zum allerersten Mal gesehen.
Ich dachte, es könnte Jennifer vielleicht guttun, hatte Rush gesagt. Sie hätte eine Gelegenheit, ihre Gabe auf eine positive Weise zu nutzen. Wie konnte er das, was er bei seiner Frau beobachtet hatte, als etwas Positives betrachten?
Es klopfte. Logan hob den Kopf und sah – wie als Antwort auf seine Überlegungen – Ethan Rush in der Tür stehen.
«Komm rein», sagte er.
Rush betrat Logans Büro. Er nickte ihm zu, jedoch respektvoll, beinahe wie ein Schuljunge, der weiß, dass er etwas angestellt hat. Er setzte sich in den Stuhl vor Logans Schreibtisch.
«Und?», fragte er nach einer kurzen Weile.
«Ich denke, du solltest deiner Frau zukünftige Übergänge ersparen.»
Rush lächelte schwach, dann zuckte er die Schultern, als wollte er andeuten, dass diese Entscheidung nicht in seiner Macht lag. «Ich bin auch nicht glücklich darüber, Jeremy. Aber Stone ist ein harter Kerl, und niemand sagt ungestraft nein zu ihm. Außerdem war Jennifer von Anfang an bereit mitzumachen.»
«Und du hast so etwas noch nie erlebt? Im Verlauf deiner Studien am CTS?»
«Nichts in dieser Größenordnung. Und nichts aus einer so großen zeitlichen Distanz. Wie ich dir bereits sagte, die meisten Erfahrungen, mit denen wir zu tun haben, handeln von kürzlich verstorbenen Freunden oder Angehörigen, die in der Nähe der Übergangsstelle gewohnt hatten. Andererseits hat Jennifer natürlich eine einzigartige Gabe.» Rush schüttelte den Kopf.
«Du erwähnst die zeitliche Distanz. Du glaubst also, dass, wer auch immer durch Jennifer spricht, ein Zeitgenosse der Erbauer des Grabes sein könnte?»
«Ich weiß es nicht.» Rush schien die Frage verunsichert zu haben – oder vielleicht auch der Gedanke, der dahintersteckte. «Es scheint unglaublich. Aber welche andere spirituelle Kraft könnte sich an einer so abgelegenen Stelle der Welt zeigen?» Er hielt inne. «Was meinst du dazu?»
Logan schwieg eine Weile, dann blickte er Rush an. «Zu Anfang, als ich dachte, deine Frau würde Narmer heraufbeschwören, fand ich das alles geradezu drollig. Jetzt tut es mir leid, dass ich Witze darüber gemacht habe. Wie dem auch sei, wer immer durch Jennifer gesprochen hat, ich glaube nicht, dass es Narmer war. Verstehst du, die alten Ägypter glaubten, dass die Seele nach dem Tod bis in alle Ewigkeit weiterbesteht. Solange man die richtigen geheimen Rituale kennt und all die Dinge mit in sein Grab nimmt, die man braucht für ein neues irdisches Leben, so lange finden die Seele – ba – und ihr schützender Geist – ka – gemeinsam den Weg in die nächste Welt.» Er überlegte kurz. «Narmer wird wahrscheinlich genau das getan haben. Er wird weitergezogen sein in die nächste Welt. Also ist möglicherweise, wer auch immer durch deine Frau spricht, jemand anderes, ein rastloser Geist, entwurzelt in der Geisterwelt und zugleich irgendwie an diesen Ort gefesselt.»
«Aber eine so alte Seele …» Rush hielt kurz inne, bevor er fortfuhr. «Wie ist so etwas möglich? Ich meine, gerade ich mit meinen Erlebnissen im Center bin wohl noch am ehesten geneigt, daran zu glauben. Ich hätte Jennifer nicht den ganzen Weg hierher gebracht, hätte ich geglaubt, dass es unmöglich ist. Unsere eigenen Studien haben gezeigt, dass die theoretische Möglichkeit besteht. Aber wie …» Er verstummte ratlos.
«Es gibt verschiedene Theorien, die als Erklärung dienen können», sagte Logan. «Beispielsweise glauben manche, dass etwas, wenn es sehr böse ist, in der Geisterwelt verharren kann, lange nachdem die sterbliche Hülle vergangen ist. Je größer das Böse, desto länger wirkt sein Einfluss – nicht unähnlich der Halbwertszeit von radioaktivem Material. Deine Frau mit ihren einzigartigen Sinnen könnte durchaus als eine Art Anziehungspunkt für eine solche Entität dienen. Denk an eine Wetterfahne oder vielleicht besser an einen unwilligen passiven Blitzableiter. Ein Blitzableiter unternimmt von sich aus überhaupt nichts – er zieht einfach an, das ist alles.»
«Aber wen oder was zieht sie an?», fragte Rush.
«Wer weiß? Vielleicht ist es einer der toten Priester? Oder jemand, der zurückgelassen wurde, um das Grab zu bewachen? Oder vielleicht ist es jemand, der erst vor hundert Jahren gestorben ist und nicht vor fünftausend?»
«Aber während ihres ersten Übergangs hat sie eine Reihe von sehr spezifischen Angaben bezüglich der Stelle gemacht, wo sich das Grab befindet.»
«Das hast du bereits erwähnt, ja.» Logan dachte nach. «Ich würde die Mitschriften gerne ansehen», sagte er. «Wenn das möglich ist.»
«Ich will sehen, was ich tun kann.»
«Ich würde auch gerne die CTS-Aufzeichnungen anschauen.»
Rush sah ihn überrascht an. «Welche Aufzeichnungen?»
«Was immer du mir geben kannst. Fallstudien, Arztberichte, Befragungen der Testpersonen.»
«Warum ist das wichtig?»
«Du hast mich um Hilfe gebeten. Je mehr ich von deiner Arbeit verstehe – davon, was Jennifer und die anderen durchgemacht haben –, desto besser werde ich dir helfen können.»
Rush dachte für eine Sekunde nach, dann nickte er langsam. «Also schön. Ich werde eine DVD für dich brennen. Sonst noch etwas?»
«Ja. Was ist so wichtig an diesem ersten Tor?»
«Das erste Tor?» Rush schien der unerwartete Themawechsel aus dem Konzept zu bringen. «Es ist der versiegelte Eingang zum Grab. Stone hatte nach einem Tipp gefragt, wie er das Siegel brechen kann, ohne sich und uns zu gefährden.»
«Das Siegel brechen», wiederholte Logan. «Er hat Angst vor einer Falle.»
Rush nickte. «Narmer hat unglaubliche Mühen auf sich genommen, um sein Grab zu sichern», sagte er. «Ich habe nicht den Eindruck, als würde er uns an diesem Punkt plötzlich kampflos die Schlüssel übergeben.»