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Fünf Personen befanden sich in der Maschine: Eine Zwei-Mann-Crew, dazu Logan, Rush und ein Mitarbeiter von CTS, der zwei Laptops und mehrere Ordner voller Laborergebnisse im Gepäck hatte. Nachdem der Jet gestartet war, entschuldigte sich Ethan Rush bei Logan und ging nach hinten, um sich mit seinem Mitarbeiter zu besprechen. Logan angelte die neueste Ausgabe von Nature aus seinem Seesack und blätterte sie durch, auf der Suche nach neuen Entdeckungen – oder Anomalien –, die vielleicht von beruflichem Interesse für ihn sein konnten. Dann wurde er schläfrig, legte das Magazin zur Seite und schloss die Augen. Er wollte nur fünf oder zehn Minuten dösen, doch als er erwachte, war es draußen dunkel, und Logan verspürte den desorientierten Schleier eines langen, tiefen Schlafes. Rush beobachtete ihn von seinem Platz gegenüber.
«Wo sind wir?», fragte Logan.
«Im Landeanflug auf Heathrow.» Er nickte in Richtung seines Mitarbeiters, der immer noch hinten saß. «Sorry deswegen – ich weiß wie du nicht genau, wie lange ich weg sein werde, und es gibt ein paar Dinge zu regeln, die nicht auf meine Rückkehr warten können.»
«Kein Problem.» Logan spähte aus dem Fenster auf die Lichter von London, die unter ihnen ausgebreitet lagen wie ein gigantischer gelb gesprenkelter Teppich. «Ist London das Ziel unserer Reise?»
Rush schüttelte den Kopf und lächelte. «Weißt du, ich fand es ziemlich merkwürdig, dass du, ohne zu fragen, in das Flugzeug gestiegen bist. Ich dachte, du würdest zumindest zweimal hingucken.»
«In meinem Job ist man sehr viel unterwegs. Ich habe immer einen Reisepass dabei.»
«Ja, das habe ich in einem Artikel über dich gelesen. Deswegen habe ich dich auch nicht extra gebeten, einen mitzubringen.»
«In den vergangenen sechs Monaten war ich ständig in anderen Ländern. Sri Lanka, Irland, Monaco, Peru, Atlantic City …»
«Atlantic City ist kein anderes Land», sagte Rush lachend.
«Hat sich aber so angefühlt.»
Sie landeten und rollten zu einem privaten Hangar, wo der CTS-Mitarbeiter mit den beiden Laptops und den Ordnern ausstieg, um einen Linienflug zurück nach New York zu nehmen. Rush und Logan aßen eine Kleinigkeit zu Abend, während der Jet betankt wurde. Als sie erneut in der Luft waren, setzte sich Rush neben Logan, auf dem Schoß eine schwarze Ledertasche.
«Ich werde dir jetzt ein Bild zeigen», sagte er. «Ich glaube, danach wirst du die Notwendigkeit der Geheimhaltung verstehen.» Er öffnete die Tasche und kramte ein wenig darin, dann zog er eine Ausgabe von Fortune hervor und hielt sie Logan hin.
Auf dem Titelblatt war ein Porträt eines Mannes Mitte fünfzig zu sehen. Das dichte, vorzeitig schneeweiß gewordene Haar war in der Mitte gescheitelt – eine eigenartig anachronistische Frisur, die Logan an einen Internatsschüler einer teuren Privatschule aus der viktorianischen Epoche erinnerte, Eton oder Harrow oder Rugby. Er sah dünn aus, was durch die starke Hintergrundbeleuchtung noch betont wurde, und die weichen, beinahe weiblichen Züge seines Gesichts standen in scharfem Kontrast zu der ungewöhnlich verwitterten Haut, gegerbt von zu viel Sonne oder Wind oder beidem. Obwohl der Mann auf dem Foto nicht lächelte, lag ein amüsiertes Glitzern in seinen blauen Augen, als würde er über einen heimlichen Scherz schmunzeln, den mit der Welt zu teilen er nicht die geringste Neigung verspürte.
Logan erkannte den Mann wieder – und wie Rush versprochen hatte, wurde die Heimlichtuerei plötzlich verständlich. Das Gesicht war das von H. Porter Stone, ohne jeden Zweifel der berühmteste – und mit weitem Abstand reichste – Schatzsucher der Welt. Auch wenn die Bezeichnung ihm wahrscheinlich nicht gerecht wurde – Stone war studierter Archäologe und hatte an der UCLA unterrichtet, bevor er die beiden Schiffe der Spanischen Armada entdeckt hatte, gesunken 1648 in internationalen Gewässern.
Die Schiffe – überreich beladen mit Gold und Silber und Juwelen und auf dem Rückweg von den Kolonien nach Spanien – machten Stone nicht nur auf einen Schlag steinreich, sondern auch berühmt, um nicht zu sagen berüchtigt. Dieser Ruhm wuchs noch mit den nachfolgenden Entdeckungen: einem Mausoleum und Schatzhaus der Inka, verborgen in einem Berggipfel dreißig Kilometer von Machu Picchu entfernt, einem riesigen Versteck von Specksteinfiguren – Vögeln, Tieren, Menschen – unter einem Hügelkomplex in den urzeitlichen Ruinen von Alt-Simbabwe. Weitere Funde hatten sich in schneller Folge angeschlossen. Welche antike Zivilisation wird er als Nächstes beklauen?, lautete die Bildunterschrift.
«Das ist es also?», fragte Logan ungläubig. «Wir gehen auf Schatzsuche? Eine archäologische Grabung?»
Rush nickte. «Genau genommen ein wenig von beidem. Stones jüngstes Projekt.»
«Und was ist es?»
«Du wirst nicht mehr lange im Dunkeln tappen.» Rush öffnete die Tasche erneut und schob das Magazin unter einen dünnen Stapel Papiere. Logan warf nur einen flüchtigen Blick darauf, doch er bemerkte, dass die Blätter mit Schriftzeichen vollgeschrieben waren, die aussahen wie Hieroglyphen.
Rush schloss die Tasche. «Ich kann dir so viel verraten: Es ist seine bisher größte Expedition. Und die geheimste. Zusätzlich zu der üblichen Erfordernis, im Verborgenen zu operieren, gibt es diesmal gewisse … unübliche logistische Probleme.»
Logan nickte. Er war nicht weiter überrascht. Stones Expeditionen waren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Sie zogen eine Menge Aufmerksamkeit an, sowohl von Seiten der Presse als auch von neugierigen Geschäftsleuten. In der Folge hatte sich Stone völlig zurückgezogen; er leitete seine Expeditionen nicht mehr selbst, sondern dirigierte sie aus der Ferne, nicht selten von der anderen Seite der Welt. «Ich muss dich fragen: Was hast du für Aktien in dieser Sache? Es kann nichts mit deinem Center zu tun haben – Stone interessiert sich doch nur für endgültige Tote. Lange Zeit tote Tote.»
«Ich bin quasi der leitende Arzt der Expedition. Aber ich habe auch andere, persönlichere Gründe.» Rush zögerte. «Hör mal, ich will mich wirklich nicht zieren oder so, aber es gibt ein paar Dinge, die kannst du erst begreifen, wenn du vor Ort bist. Ich kann dir so viel verraten: Es gibt gewisse, eigenartige Aspekte bei dieser Grabung, die sich erst in der letzten Woche ergeben haben. An dieser Stelle kommst du ins Spiel.»
«Okay. Dann habe ich hier eine Frage, die du vielleicht ausnahmsweise beantworten kannst. Heute Morgen in deinem Büro hast du erwähnt, dass du Narkosearzt warst, bevor du das Center gegründet hast. Wenn dem so war, wieso hattest du Schichtdienst in der Notaufnahme an dem Tag, an dem deine Frau eingeliefert wurde? Das hättest du als Anästhesist doch normalerweise seit Jahren hinter dir gehabt.»
Das Lächeln auf Rushs Gesicht erlosch. «Das ist eine Frage, die ich mir damals ständig anhören musste. Vor Jennifers Nahtod-Erfahrung, meine ich. Ich gab immer schnippische Antworten. Tatsache ist, ich hatte ursprünglich eine Ausbildung als Notarzt und Unfallspezialist, aber irgendwie konnte ich mich nicht an den Tod gewöhnen.» Er schüttelte den Kopf. «Ironie des Schicksals, oder? Oh, ich konnte mit natürlichen Todesursachen umgehen, kein Problem, mit Krebs und Lungenentzündung und Nierenversagen und allem. Aber plötzlicher, gewaltsamer Tod …»
«Für einen Notarzt ein ziemlicher Mühlstein», sagte Logan.
«Du sagst es. Die Angst vor dem plötzlichen Tod – oder der Konfrontation damit – war der Grund, aus dem ich das Fach gewechselt hatte und Anästhesist wurde statt Notarzt. Doch meine Angst verfolgte mich. Wegzulaufen half nicht weiter – ich musste imstande sein, dem Tod ins Auge zu sehen. Also machte ich alle zwei Wochen Dienst in der Unfallstation, um quasi in Kontakt zu bleiben, die Hand im Spiel zu behalten. Eine Art Buße.»
«Wie Mithradates», sagte Logan.
«Wer?»
«Mithridates VI., König von Pontos. Er lebte in ständiger Angst davor, vergiftet zu werden. Also versuchte er, sich zu immunisieren, indem er tagein, tagaus subletale Dosen einnahm, bis er tatsächlich immun wurde.»
«Gift nehmen, um immun zu werden», sinnierte Rush. «Klingt tatsächlich nach dem, was ich getan habe. Nun ja, nach dem Erlebnis mit meiner Frau gab ich das Praktizieren vollkommen auf und gründete die Klinik. Ich hörte auf, meine Angst vor dem Tod zu bekämpfen. Stattdessen zog ich einen positiven Nutzen daraus: Ich begann mit dem Studium derer, die der Umarmung des Todes entkommen konnten.»
«Warum eigens eine eigene Klinik gründen? Ich meine, soweit ich weiß, gibt es bereits eine Reihe von Organisationen, die sich mit Nahtod-Erfahrungen befassen. Es gibt ganze Studiengänge, die nichts anderes untersuchen.»
«Das ist richtig. Doch keine dieser Organisationen ist so groß und zentralisiert und konzentriert wie CTS. Abgesehen davon sind die Wege, die wir bei unseren Studien beschreiten, einzigartig.»
Rush erhob sich, und Logan drehte sich zum Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Der Himmel war klar, und ein kurzes Studium der Sternbilder verriet ihm, dass sie nach Osten flogen. Doch wohin genau? Porter Stone hatte Expeditionen in jede Ecke der Welt geführt: Peru, Tibet, Kambodscha, Marokko … Der Mann hatte, was die Zeitungen und Nachrichtensendungen gerne die «Midas-Gabe» nannten. Es schien, als verwandelte sich alles, was er in Angriff nahm, in reines Gold.
Logan dachte an die Aktentasche und die Blätter voller Hieroglyphen. Dann schloss er die Augen.
Als er wieder erwachte, war es Morgen. Er streckte sich, rührte sich in seinem Sitz und spähte aus dem Fenster. Unter sich konnte er einen breiten, braunen Fluss erkennen mit einem schmalen Streifen Grün entlang der Ufer. Dahinter lag Wüste, nichts als Wüste. Logan erstarrte. Dort am Horizont erhob sich eine unverwechselbare, monolithische Silhouette – eine Pyramide.
«Ich wusste es», flüsterte er.
Rush saß ihm gegenüber. Als er Logan hörte, hob er den Kopf.
«Wir sind in Ägypten», sagte Logan.
Rush nickte.
Trotz eines sorgfältig kultivierten Stoizismus spürte Logan, wie ihn ein aufgeregtes Erschauern ergriff. «Ich wollte schon immer mal in Ägypten arbeiten!»
Rush seufzte halb amüsiert, halb bedauernd. «Ich muss dich enttäuschen, Jeremy. So einfach ist es nicht. Ägypten ist noch nicht das endgültige Ziel unserer Reise.»