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Christina Romero folgte Porter Stone die schräge Leiter in den Umbilicus hinunter. Sie trug keine Atemmaske, sondern lediglich einen N-95, wie von Rush empfohlen, und die Luft roch leicht nach verrottender Vegetation. Während sie tiefer stieg, wurde es kühler, und als sie auf der Luftschleusenplattform ankam, hatte sie eine Gänsehaut auf den Armen.
Der Wachposten auf der Plattform begrüßte sie mit einem Nicken. Nach Logans Entdeckung der unautorisierten Sendungen hatte Stone – schon per se besessen von Geheimhaltung – die üblichen Wachen verdoppelt. Zusätzlich zu dem rund um die Uhr besetzten Posten oben beim Schlund gab es jetzt noch einen weiteren Wachposten hier unten auf der Plattform. Außerdem waren flächendeckend Videokameras installiert worden, die von Cory Landau und den anderen Technikern oben in der Einsatzzentrale überwacht wurden.
Tina lächelte grimmig in sich hinein. Trotz Stones Flüchen, Drohungen und Forderungen nach absoluter Vertraulichkeit hatte die Kunde von einem Saboteur – oder Spion oder Verräter – längst in der ganzen Station die Runde gemacht. Es war schon ironisch: Selbstverständlich reagierten alle mit konsternierter Betroffenheit, aber es war auch ein Gefühl von Erleichterung zu spüren. Christina hatte sich ebenfalls gefragt, ob der Saboteur in ihrer Mitte nicht auch hinter den anderen unerklärlichen Vorgängen an Bord der Station steckte.
Über ihr klapperte es laut, und dann kam Fenwick March zu ihnen hinunter. Ihm folgten zwei von Valentinos Arbeitern. Jeder der beiden trug Teile von einem Edelstahl-Hebezug unter dem Arm.
Stone sah die Gruppenmitglieder reihum an. «Okay», sagte er schließlich durch seine Maske hindurch. «Legen wir los.»
Der Wachposten nahm eine batteriebetriebene Winsch auf, und die Gruppe näherte sich dem Eingang zum Grab. Tina bemerkte, dass der Rest der Granitmauer mittlerweile sorgfältig entfernt worden und dass das erste Tor jetzt vollständig offen war. Sie machte ihre Videokamera startklar und begann zu filmen. Es war erst ihr zweiter Trip nach unten. March war inzwischen mehrere Male und Stone zweimal unten gewesen, um das Entsiegeln des zweiten Tors zu überwachen.
Als sie die erste Kammer betrat, fielen ihr zuerst die horizontalen Stützen auf, die zur Stabilisierung und Sicherheit von einer Wand zur anderen angebracht worden waren. Die Wächterstatue des Apophis war mit einer Plane zugedeckt worden, was Christina mit einem Gefühl von Erleichterung zur Kenntnis nahm – die Gestalt hatte so lebensecht ausgesehen, so gewalttätig, dass sie sich beinahe davor gefürchtet hatte, ihr wieder zu begegnen, auch wenn ihre unermessliche kunsthistorische Bedeutung sie natürlich faszinierte.
Die Kammer erstrahlte im hellen Licht der Hochdruck-Natriumdampflampen, und Christina war erneut überrascht von der Schönheit und dem bemerkenswert guten Zustand der Artefakte. Allerdings bemerkte sie zu ihrer Verärgerung auch, dass nicht wenige der interessantesten und bedeutendsten Gegenstände bereits entfernt und durch vorläufige Archiv-Etiketten ersetzt worden waren, ohne jeden Zweifel das Werk von Fenwick March, diesem Bastard. Er konnte all die kostbaren Antiquitäten nicht schnell genug in seine dreckigen Finger kriegen, wie immer. Wäre es nach March gegangen, er hätte jede Grabungsstätte vollständig ausgeräumt und nichts zurückgelassen, was daran erinnerte, wie es einst ausgesehen hatte. Ihre eigene Philosophie war das genaue Gegenteil: untersuchen, stabilisieren, analysieren, beschreiben, dokumentieren – und anschließend, nachdem alles erfasst war, alles genau an dem Ort lassen, wo es gefunden worden war.
Die Rückwand der Grabkammer war mit einer großen Plastikplane verhängt. Dahinter lag absolute Dunkelheit. Das zweite Tor war, wie sie wusste, bereits vollständig abgetragen worden, auch wenn bisher noch niemand die zweite Kammer betreten hatte. Sie würden die Ersten sein, die das taten.
Wortlos nickte Stone den beiden Arbeitern zu. Sie kamen herbei, entfernten mit großer Behutsamkeit die Plane, falteten sie zusammen und legten sie beiseite. Ein schwarzes Rechteck aus leerem Raum kam darunter zum Vorschein.
Stone trat an die Schwelle zur zweiten Kammer. Tina folgte ihm, mit March dicht auf den Fersen. Hier, direkt am Eingang, konnte sie vage Umrisse im Innern erkennen. Ihr Mund wurde trocken.
«Bringen Sie eine von den Lampen her», befahl Stone.
Einer der Arbeiter rollte den starken Scheinwerfer herbei. Plötzlich war der Raum in gleißende Helligkeit getaucht.
Es war, als hätte jemand die Sonne eingeschaltet. Es war so hell, dass Tina sich abwenden musste.
«Mein Gott», sagte Stone mit seltsam erstickter Stimme. Einmal mehr war seine sorgfältig kultivierte Lässigkeit unter dem Eindruck von Narmers Grab von ihm abgefallen.
Nachdem Christinas Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, war sie imstande, die Einzelheiten der zweiten Kammer zu erfassen. Sie hob die Videokamera und begann zu filmen. Jede Oberfläche – Decke, Wände, selbst der Boden – war, wie es aussah, bedeckt mit massivem Gold. Daher die gleißende Helligkeit. Obwohl der Raum nur unbedeutend kleiner war als die erste Kammer, enthielt er sehr viel weniger Objekte. Es handelte sich in der Tat um vier Kanopenkrüge aus Kalkstein, welche die Eingeweide des mumifizierten Königs enthielten. Vor jedem der Gefäße stand ein kleiner Kasten, anscheinend ebenfalls aus massivem Gold. Eine Wand zierte eine große Malerei, die den Sieg Narmers über den König von Oberägypten zeigte. Ein weiteres Gemälde zeigte den Pharao auf einem Podium liegend, bereits tot in seinem Grab und in der Obhut eines Totenpriesters. An zwei gegenüberliegenden Wänden der Kammer standen zwei Schreine, jeder versehen mit einem Serech von Narmer in einem versunkenen Relief, mit seinem Krönungsnamen niswt-biti, König von Ober- und Unterägypten.
Es war eigenartig, dachte Christina – die Ägyptologen konnten die Zeichen zwar lesen, doch die richtige Aussprache blieb ein ungelöstes Rätsel. Die meisten Vorkommen der Phrase zeigten die phonetische Reihe nzw, wie beispielsweise auch die Pyramidentexte, doch hier war das feminine t erhalten geblieben. Seltsam. Andererseits war so vieles seltsam, was sie über Narmer und sein Grab herausgefunden hatte. Hier unten wirkte einiges überraschend modern, für das Alte Ägypten jedenfalls. Die Grabkammern, die königlichen Siegel, die Grabbeigaben, die Hieroglyphen-Botschaften, die so stark an das Buch der Toten erinnerten – sie waren aus der Zeit des Mittleren und des Neuen Königreichs, nicht aus der archaischen Periode, der ersten Dynastie der frühesten Pharaonen. Beinahe hatte es den Anschein, als wäre Narmer seiner Zeit viele Jahrhunderte voraus gewesen und als wären sein Wissen, seine Praktiken, seine Erkenntnisse und seine Erleuchtungen mit ihm gestorben und erst tausend Jahre später wiederauferstanden, als die Pyramidenbauer die Geschicke des Landes lenkten …
Sie vertrieb die wirren Gedanken mit einem unwilligen Kopfschütteln und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das, was sie im Display der Videokamera sah. Auf den beiden gegenüberliegenden Schreinen lagen zahlreiche Opfergaben: Amulette, wunderschön bearbeitete Feuersteinmesser, Figuren aus Alabaster, Elfenbein und Ebenholz. Doch das bemerkenswerteste Objekt im ganzen Raum war zweifelsohne das in der Mitte der Kammer: ein riesiger Sarkophag aus einem höchst seltenen blassblauen Granit, unbemalt und – auch das höchst ungewöhnlich – perfekt erhalten, in viel besserem Zustand beispielsweise als die gesprungene Außenhülle von König Tutanchamuns Sarg. Der Granit war behauen worden und nun von einem filigranen und detailreichen Relief geziert. Am Kopf des Sarkophags stand die riesige Statue eines Falken – die Flügel weit ausgebreitet, die stilisierten Füße wie Hände ausgestoßen in Richtung fünf und sieben Uhr –, der zeremoniell Wache hielt über den Leichnam des Königs.
Die anderen aus der Gruppe waren die ganze Zeit über still gewesen, als hätte es ihnen die Sprache verschlagen angesichts so viel Pracht. Jetzt trat Stone einen Schritt vor. Er ging ein wenig steif, als hätte er Holzbeine. Er unternahm eine kurze Inspektion der Kammer, dann näherte er sich den vier goldenen Kästchen.
«Diese Kästchen vor den Kanopenkrügen», sagte er abwesend, mehr zu sich selbst als zu den anderen. «Von etwas Derartigem habe ich noch nie gehört.»
Er kniete vor dem am nächsten stehenden nieder, untersuchte es behutsam, berührte es hier und da mit einer latexgeschützten Hand. Dann hob er unendlich behutsam den Deckel. Tina hielt den Atem an. Im Innern der Box funkelte und glänzte eine verschwenderische Pracht von Edelsteinen, Opale, Jade, Diamanten, Smaragde, Perlen, Rubine, Saphire, Katzenaugen … ein Schatz von geradezu obszöner Opulenz.
«Gütiger Gott …», murmelte March.
Tina hatte die Videokamera abgesetzt, um einen genaueren Blick auf die Preziosen zu werfen. «Die Hälfte von diesem Zeug war bei den alten Ägyptern nicht mal bekannt!», sagte sie «Zumindest nicht in dieser frühen Epoche.»
«Narmer muss über Handelsrouten verfügt haben, die nach dem Ende seiner Herrschaft einfach zusammengebrochen sind», mutmaßte Stone mit leiser Stimme.
Christina befeuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge. Die Pracht war so überwältigend, dass es völlig unmöglich schien, das alles jemals begreifen zu können.
Stone blickte sie an. «Was ist mit diesen beiden Schreinen?», fragte er. «Eine solche Anordnung habe ich noch nie gesehen.»
«Ich muss sie mir genauer ansehen», wich sie aus. «Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie vielleicht eine doppelte Funktion haben. Sie dienen nicht nur als Schrein, sondern sie haben zugleich eine symbolische Bedeutung. Sie stehen für die größte Prüfung, die Narmer auf seiner Reise durch die Unterwelt bestehen musste – die Halle der zwei Wahrheiten. Vorausgesetzt, dieses Glaubenssystem war zu dieser frühen Zeit bereits entwickelt. Jedenfalls wirken sie auf mich tatsächlich einzigartig – ihr doppelter Zweck ist in den folgenden Dynastien mit ziemlicher Sicherheit verlorengegangen.»
«Symbolisch, sagen Sie?», wiederholte Stone.
«Als wären sie benutzt worden für eine Art Simulation der Halle der Zwei Wahrheiten. Ein Trockenversuch, sozusagen.»
«Aber das ist beispiellos …!», warf March ein.
Christina breitete die Arme aus und zeigte um sich, als wollte sie erwidern: Gilt das nicht für alles hier?
Die Arbeiter waren inzwischen damit beschäftigt, den Hebezug aus Edelstahl zusammenzubauen. Der Wachmann befestigte die batteriebetriebene Winsch, und dann, auf ein Nicken von Stone hin, aktivierte er den Motor. Ein Brüllen erfüllte die Luft, das sogleich wieder zu einem dumpfen Grummeln abebbte. Die Arbeiter befestigten die Haken des Hebezugs an den Ecken des Sarkophagdeckels und hoben in Schneckengeschwindigkeit den Deckel vom Sarkophag. Sie schwangen die schwere Steinplatte beiseite und setzten sie behutsam auf dem Boden ab.
Der Wachmann schaltete den Motor ab, und alle, selbst die Arbeiter, traten näher heran. Das Innere des Sarkophags war bedeckt von einem Schleier aus unbestimmtem Material, gewebt zu einem komplexen Muster. Als Stone behutsam die Hand ausstreckte und den Schleier berührte, zerfiel das dünne Gebilde zu feinem grauem Staub.
Ein leises, bestürztes Murmeln ging durch die Gruppe, das jedoch augenblicklich einem überraschtem Ächzen wich. Durch den Staub hindurch war im Innern des großen Steinbehälters ein Sarg sichtbar geworden, ein Sarg aus massivem Gold. Der obere Deckel, bestreut mit Lotusblüten, zeigte das kunstvolle Bildnis eines prachtvoll gewandeten Königs.
Ohne ein Wort hoben Stone und March den Sargdeckel an den Griffen hoch und legten ihn beiseite. Im Innern lag eine Mumie, dick eingehüllt in weiße Wickelbandagen. Auf dem Gesicht lag eine goldene Totenmaske, die das gebieterische, beinahe furchteinflößende Gesicht des Gottkönigs zeigte.
Ein leichter Geruch nach Staub und Verwesung stieg von der Mumie auf, doch Christina bemerkte nichts von alledem. Sie beugte sich weiter vor, während sie ununterbrochen und mit klopfendem Herzen filmte.
«Narmer», flüsterte Stone.