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Logan war erst einmal in Kairo gewesen. Damals hatte er als Doktorand die Bewegungen der friesischen Soldaten im Verlauf des Fünften Kreuzzugs erforscht. Als sie nun vom Cairo International Airport über die Schnellstraße in Richtung Zentrum fuhren, gewann er den Eindruck, als wären die gleichen Fahrzeuge, die er schon vor zwanzig Jahren gesehen hatte, immer noch auf den Straßen. Uralte Fiats und Mercedes Benz voller Beulen und mit defekten Scheinwerfern rangelten hektisch um ihre Position und schufen sich ihre eigenen improvisierten Fahrbahnen – und das mit neunzig Stundenkilometern. Sie überholten altersschwache, rostige und überfüllte Busse; Menschentrauben hingen an den Seiten, wo sich vermutlich die Ein- und Ausstiege befanden. Hin und wieder erhaschte Logan einen Blick auf eine neue europäische Limousine, auf Hochglanz poliert und nahezu ausnahmslos schwarz, doch abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen wirkte der gesamte Verkehr auf der Schnellstraße wie ein einziger fiebriger Anachronismus, eine Zeitkapsel aus einer früheren Epoche.
Logan und Rush saßen im Fond des Wagens und ließen den Anblick schweigend auf sich wirken. Logans Gepäck war an Bord des Flugzeugs geblieben. Ihr einheimischer Fahrer hatte seinen alten Renault geschickt durch das Labyrinth von Zubringerstraßen gesteuert und brachte sie nun ins Zentrum von Kairo. Logan sah Block auf Block nahezu identischer Betonbauten, senffarben gestrichen und ein halbes Dutzend Stockwerke hoch. Auf Balkonen trocknete Kleidung, über Schaufenstern spannten sich Markisen mit einer verwirrenden Vielfalt von Werbung. Auf den Flachdächern wimmelte es von Satellitenschüsseln, und zwischen den einzelnen Gebäuden spannten sich unzählige Kabel. Über allem hing eine schwach orangefarbene Dunstglocke. Die Sonne brannte erbarmungslos, die Hitze war unerträglich. Logan lehnte sich aus dem weit offenen Fenster und hechelte in der dieselschwangeren Luft.
«Vierzehn Millionen Menschen», sagte Ethan Rush mit einem Seitenblick auf Logan. «Zusammengepfercht auf einer Fläche von fünfhundert Quadratkilometern Stadt.»
«Wenn Ägypten nicht unser Ziel ist, was machen wir dann hier?»
«Nur ein kurzer Zwischenstopp. Wir sind noch vor Mittag wieder in der Luft.»
Als sie sich dem Stadtzentrum näherten und schließlich von der Schnellstraße abfuhren, wurde der Verkehr noch dichter. Bei jeder Annäherung an eine Kreuzung fühlte sich Logan an die Zufahrt zum Lincoln Tunnel erinnert, wenn Dutzende von Fahrzeugen sich auf ein oder zwei Spuren drängten. Fußgänger nutzten das Gedrängel aus und strömten kreuz und quer über die Straßen, manchmal nur um Millimeter von den Wagen verfehlt. Erstaunlicherweise kam es trotzdem zu keinen schwereren Unfällen.
In der Innenstadt waren die Gebäude nicht größer, doch die Architektur war abwechslungsreicher und erinnerte Logan an das Pariser Rive Gauche. Sicherheitskräfte traten zunehmend in Erscheinung: Schwarz uniformierte Polizisten standen in Wachhäuschen an Straßenkreuzungen, vor Hotels und Kaufhäusern blockierten massive Betonsperren die Eingänge, um Autobomben zu verhindern. Sie passierten die amerikanische Botschaft, eine Festung mit schweren Kaliber .50 Maschinengewehren auf den Türmen.
Einige Minuten später hielt der Wagen abrupt am Bürgersteig an. «Wir sind da», sagte Rush und öffnete seine Tür.
«Wo genau?», fragte Logan.
«Beim Ägyptischen Museum.» Rush stieg aus.
Logan folgte ihm, wobei er sorgfältig darauf achtete, das Gedränge zu meiden und die Fahrzeuge, die so nah an ihm vorbeifuhren, dass ihr Luftzug am Stoff seines Hemds zerrte. Er blickte hinauf zu der beeindrucken Rosenquarz-Fassade auf der anderen Seite der Plaza. Er hatte das Museum schon einmal während seines Forschungsaufenthalts besucht. Das aufgeregte Kitzeln, das er erstmalig an Bord des Flugzeugs verspürt hatte, wurde stärker.
Sie überquerten die Plaza und wehrten Talisman- und Souvenirverkäufer ab, die ihnen Leucht-Pyramiden und batteriebetriebene Kamele feilboten. Salven von Hochgeschwindigkeitsarabisch prasselten von allen Seiten auf Logan ein. Sie passierten eine Gruppe von Wachleuten, die den Haupteingang flankierten. Unmittelbar vor dem Eintreten hörte Logan, wie die elektronisch verstärkte Stimme eines Muezzin in der Moschee am Tahrir-Platz die Gläubigen zum Gebet rief und dabei den Lärm der Touristen und des Verkehrs mühelos übertönte. Während Logan innehielt, um zu lauschen, nahm ein anderer Muezzin in einer weiter entfernten Moschee den Ruf auf, dann ein dritter, ein vierter, und der Singsang entfernte sich dopplerartig weiter und weiter, bis er über der ganzen Stadt zu schweben schien.
Er spürte, wie ihn jemand am Ellbogen berührte. Es war Rush. Logan wandte sich um und betrat das Gebäude.
Der klassische Bau war selbst um diese frühe Stunde bereits überfüllt, auch wenn die verschwitzten Menschenmassen die steinernen Galerien bis jetzt noch nicht aufgewärmt hatten. Nach dem grellen Sonnenschein draußen wirkte das Innere des Museums außerordentlich dunkel. Logan und Rush durchquerten das Erdgeschoss und passierten zahllose Statuen und Steintafeln. Logan bemerkte, dass zahlreiche Ausstellungsstücke statt hermetisch versiegelt völlig ungeschützt präsentiert wurden. Trotz Dutzender Warntafeln, die den Gebrauch von Kameras untersagten und ausdrücklich verboten, die Artefakte anzufassen, trugen diese Spuren von zahlreichen Berührungen.
Sie gingen durch die letzte der Galerien und stiegen eine breite Treppe zur ersten Etage hinauf. Hier stand ein Sarkophag neben dem nächsten, ausgerichtet auf steinernen Sockeln wie Wächter der Schattenwelt. Entlang der Wände waren Vitrinenschränke aufgereiht mit Grabbeigaben aus Gold und Fayence. Die Schränke waren mit einfachen Drähten und Plomben aus Blei gesichert.
«Hättest du was dagegen, wenn ich mir für einen Moment die Grabbeigaben von Ramses III. ansehe?», fragte Logan und deutete auf eine Tür. «Ich glaube, sie liegen in dieser Richtung. Ich habe erst kürzlich im Journal of Antiquarian Studys von einem bestimmten Kanopenkrug aus Alabaster gelesen, den man dazu verwenden konnte, eine …»
Doch Rush unterbrach ihn, lächelte bedauernd, deutete auf seine Uhr und drängte Logan weiter.
Sie erreichten eine weitere Treppe, schmaler diesmal, ohne Brüstung, und erreichten die nächste Etage. Hier oben war es um einiges stiller, die Galerien mehr den Sammlungen für Gelehrte gewidmet: Stelen mit Inschriften, verwitterte, zerfallende Fragmente von Papyri. Die Beleuchtung war trüb und die Steinwände schmutzig. Einmal blieb Rush stehen, um sich auf einem winzigen, handgezeichneten Plan zu orientieren, den er aus der Tasche zog.
Logan spähte neugierig durch halb offene Türen. Er sah Berge von Papyri in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Rollen waren übereinandergestapelt wie Weinflaschen im Gewölbe eines Sommeliers. Ein anderer Raum enthielt eine Sammlung von Masken alter ägyptischer Götter: Seth, Osiris, Thot. Logan fühlte sich geradezu erdrückt von der schieren Masse an Artefakten und unvergleichlichen Schätzen, vom Gewicht so vieler Antiquitäten auf allen Seiten.
Sie umrundeten eine Ecke, schließlich blieb Rush vor einer geschlossenen Holztür stehen. Auf der Tür stand in verblichenen, kaum noch lesbaren goldenen Lettern Archive III: Tanis-Sehel-Fayum. Rush bedachte Logan mit einem kurzen Blick, dann sah er rasch über die Schulter den Gang hinauf und hinunter, bevor er die Tür öffnete und Logan bedeutete einzutreten.
Im Raum dahinter war es noch dunkler als im Gang draußen. Eine Reihe von kleinen Fenstern direkt unter der hohen Decke ließ schmale Streifen von Sonnenlicht herein, stark gefiltert durch Dreck, der sich im Verlauf zahlloser Jahre ungehindert auf den Scheiben angesammelt hatte. Eine andere Beleuchtung gab es nicht.
Alle vier Wände waren vollgestellt mit Bücherschränken, angefüllt bis zum Bersten mit antiken Dokumenten, gebundenen Manuskripten, in Leder eingeschlagenen Notizbüchern und dicken Bündeln von Papyri, zusammengebunden mit vertrocknetem Leder und anscheinend ohne erkennbare Ordnung abgelegt.
Während Rush hinter sich die Tür schloss, trat Logan in den Raum hinein. Es roch stark nach Wachs und verwitterndem Papier. Das hier war ganz genau die Sorte von Raum, in der er sich wohl und in seinem Element fühlte, ein Archiv der fernen Vergangenheit, ein Ort, an dem Geheimnisse und Rätsel und seltsame Chroniken verwahrt wurden und geduldig darauf warteten, wiederentdeckt und ans Tageslicht zurückgeholt zu werden. Logan hatte mehr als genug Zeit in derartigen Räumen verbracht – und doch beschränkten sich seine Kenntnisse mehr oder weniger auf mittelalterliche Abteien und die Krypten von Kathedralen sowie die nicht öffentlich zugänglichen Sammlungen von Universitätsbibliotheken. Die Artefakte hier in diesem Raum – die Geschichten und Berichte und die tote Sprache, in der die meisten davon verfasst waren –, sie waren viel, viel älter.
In der Mitte des Raums stand ein langer und schmaler Tisch, umgeben von einem halben Dutzend Stühlen. Der Raum hatte so dunkel und still gelegen, dass Logan angenommen hatte, sie wären allein. Doch jetzt, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er einen Mann in arabischer Kleidung, der mit dem Rücken zu ihnen über eine antike Schriftrolle gebeugt am Tisch saß. Er hatte sich bei ihrem Eintreten nicht gerührt und rührte sich auch jetzt nicht. Offensichtlich war er vollkommen versunken in das, was er dort las.
Rush trat an Logans Seite. Er räusperte sich leise.
Noch immer rührte sich die Gestalt nicht. Schließlich drehte sie sich leicht in ihre Richtung. Der alte Mann – es war für Logan klar, dass es sich um einen älteren Gelehrten handeln musste – bemühte sich nicht, Augenkontakt zu ihnen herzustellen; stattdessen gab er mit einem leichten Nicken zu erkennen, dass er die Neuankömmlinge bemerkt hatte.
Er trug einen formellen, wenngleich recht fadenscheinigen grauen Thawb, dazu verblichene Baumwollhosen und ein Gewand mit Kapuze, die die einfache, schwarz-weiß gemusterte Ghutra um seine Stirn halb verbarg. Neben ihm stand eine winzige Tasse mit türkischem Kaffee auf einem abgewetzten Untersetzer aus Ton.
Logan verspürte einen unerklärlichen Anflug von Verärgerung wegen der Anwesenheit des Fremden. Rush war zweifellos hergekommen, um ein vertrauliches Dokument zu studieren – wie sollten sie ihre Angelegenheiten vor einem älteren Gelehrten verbergen, selbst wenn er so überheblich war, dass er sie kaum gegrüßt hatte?
Doch dann schob der Alte zu Logans Überraschung seinen Stuhl zurück und erhob sich behutsam, um sich zu ihnen umzudrehen. Er trug eine alte Lesebrille mit einem gesprungenen Glas, und sein zerfurchtes Gesicht war größtenteils unter dem Schatten der Kapuze verborgen. Er stand reglos da und musterte die Neuankömmlinge. Die Augen hinter der alten Brille waren nicht zu erkennen.
«Bitte entschuldigen Sie unsere Verspätung», sagte Rush.
Der Mann nickte. «Schon gut. Diese Schriftrolle wurde gerade richtig interessant.»
Logan starrte verwirrt von einem zum anderen. Der Fremde vor ihnen hatte in perfektem Englisch gesprochen – amerikanischem Englisch, um genau zu sein, mit einem leichten Bostoner Akzent.
Jetzt schlug er langsam und bedächtig seine Kapuze zurück und enthüllte einen üppigen Schopf schlohweißer Haare, sorgsam unter die Ghutra gekämmt. Er setzte die Brille ab, faltete sie und schob sie in eine Tasche seines Gewands. Der Mann musterte Logan. Selbst im schwachen Licht des Archivs war nicht zu übersehen, dass die Augen so blau waren wie das Wasser im Schwimmbad am ersten Tag der Sommerferien.
Plötzlich fiel es Logan wie Schuppen von den Augen.
Der Mann, den er vor sich sah, war niemand anderes als Porter Stone.