27
Die Krankenstation war ruhig, als Logan eintrat. Die Deckenbeleuchtung war gedämpft, und eine einzelne Schwester verrichtete Dienst am Empfang. Von irgendwo weit hinten war das leise Surren medizinischer Apparaturen zu hören.
Ethan Rush kam um eine Ecke, in eine Unterhaltung mit einer Schwester vertieft. Als er Logan sah, blieb er stehen. «Jeremy. Bist du hier, um mit Perlmutter zu reden? Er hat ziemlich starke Schmerzen, und wir mussten ihn betäuben …»
«Es geht nicht um Perlmutter», sagte Logan.
Rush wandte sich zu der Schwester. «Wir reden später weiter.» Dann bedeutete er Logan, ihm zu folgen. «Gehen wir in mein Büro.»
Sie betraten Rushs Büro, eine steril wirkende Zelle hinter der Schwesternstation. Rush winkte Logan zu einem Stuhl, schenkte sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich selbst. Er sah todmüde aus.
«Was hast du auf dem Herzen, Jeremy?», fragte er.
«Ich weiß, warum deine Frau hier ist», erwiderte Logan.
Als Rush nicht antwortete, fuhr er fort. «Sie versucht, mit den Toten Kontakt aufzunehmen, habe ich recht? Sie versucht Narmers Geist heraufzubeschwören.»
Rush sagte immer noch nichts.
«Jetzt ergibt alles einen Sinn», fuhr Logan fort. «Du hast selbst gesagt, dass viele Menschen, die Nahtod-Erfahrungen hinter sich haben, paranormale Fähigkeiten entwickeln. Einige von ihnen reden angeblich mit den Toten. Du hast außerdem gesagt, die spezielle Fähigkeit deiner Frau wäre Retrokognition. Das heißt, sie verfügt über Kenntnisse von vergangenen Ereignissen und Personen, die über normales Verstehen oder gewöhnliche Schlussfolgerungen hinausreichen.»
Er stand auf und nahm sich ebenfalls einen Kaffee. «Eine sehr seltene Form von Parapsychologie, aber sie ist dokumentiert. Im Jahr 1901 besuchten zwei englische Gelehrte Versailles, Anny Moberly und Eleanor Jourdain. Sie spazierten durch den Park auf der Suche nach Petit Trianon, dem Schloss von Marie Antoinette. Unterwegs begegneten sie merkwürdig gekleideten Gestalten einschließlich Lakaien, die sich in antikem Französisch unterhielten, sowie einer jungen Frau, die auf einem Hocker saß und zeichnete. Moberly und Jourdain spürten eine eigenartig düstere Stimmung, die sich erst wieder legte, als sie ihre Suche aufgaben und den Park verließen. Später gelangten beide Frauen zu der Überzeugung, dass sie durch irgendeine Form der Telepathie in die Erinnerungen von Marie Antoinette selbst eingetreten waren und dass die zeichnende Frau auf dem Hocker die Königin persönlich gewesen sein musste. In den darauffolgenden Jahren stellten Moberly und Jourdain ausführliche Forschungen an, die sie schließlich im Jahr 1911 veröffentlichten, in einem Buch mit dem Titel An Adventure. Das ich im Übrigen nur empfehlen kann.»
Er setzte sich wieder und trank einen Schluck von seinem Kaffee.
Endlich rührte sich Rush auf seinem Stuhl. «Du kennst die Art und Weise, wie Porter Stone seine Projekte angeht. Er hat lieber zehn Spezialisten im Gepäck, alle mit unterschiedlichen Disziplinen, die ihn das Zehnfache kosten, als dass er einen Generalisten mit beinahe den gleichen Fähigkeiten anheuert. Ein winziges Detail kann zwischen Erfolg und Fehlschlag entscheiden.» Er zögerte, blickte zur Seite. «Zu Anfang der Expedition war der genaue Ort des Grabes die größte Sorge. Stone war überzeugt, dass es sich hier irgendwo befinden musste. Doch die exakte Stelle war nicht bekannt, und er stand – steht unter Zeitdruck. Jeder, der ihm irgendwie helfen konnte, das Grab zu finden, wurde eingeladen. Jeder.»
Rush schüttelte den Kopf. «Irgendwie erfuhr er vom Center und von der … der Begabung meiner Frau. Frag mich nicht, wie – wir reden hier über Porter Stone. Er sprach uns an. Zuerst weigerte ich mich rundweg. Der Sudd erschien mir als ein so feindseliger, desolater Ort … Ich musste mit, natürlich – außer mir war niemand imstande, ihre ‹Übergänge› zu steuern – und ich hatte viel zu viel Arbeit auf meinem Schreibtisch, um das in Betracht zu ziehen. Er bot uns mehr Geld an. Ich weigerte mich weiter – ich glaube, ich habe dir bereits erzählt, dass das Center mehr als genug wohlhabende Förderer besitzt, die allesamt Nahtod-Erfahrungen gemacht haben. An diesem Punkt bot er mir die Stelle als leitender Arzt der Expedition an, zusammen mit so viel Geld, dass es glatt vermessen gewesen wäre, bei meinem Nein zu bleiben. Außerdem dachte ich …» Er senkte die Stimme beinahe zu einem Flüstern. «Außerdem dachte ich, es würde Jennifer vielleicht guttun.»
«Guttun?», fragte Logan.
«Sie hätte eine Gelegenheit, etwas Positives aus ihrer Gabe zu ziehen. Ich bin nämlich nicht überzeugt, Jeremy, dass sie es als eine Gabe betrachtet.»
Logan dachte an seine Unterhaltung mit Jennifer Rush, an die heimliche Betrübnis, die er gespürt hatte, an den immer noch rätselhaften Ansturm empathischer Emotionen, als er ihr die Hand geschüttelt hatte. Nein, in der Tat, keine Gabe, dachte er. Vor vielen Jahren hatte er einen sehr begabten Telepathen gekannt. Der Mann war zunehmend depressiv geworden und hatte sich am Ende das Leben genommen. Die Ärzte hatten ihn als geistesgestört bezeichnet und die Stimmen in seinem Kopf einer fortschreitenden Schizophrenie zugeschrieben. Logan wusste es besser. Er kannte die Nachteile einer Begabung, die man nicht abschalten konnte, aus eigener Erfahrung. Und nun fühlte er sich wie ein Trottel, als er daran dachte, was er zu Jennifer Rush über ihre Fähigkeiten gesagt hatte.
«Zuerst wurde Jen hergebracht, um einfache Eindrücke wahrzunehmen», sagte Rush und unterbrach damit Logans Gedankengang. «Flüchtige Bilder oder Ausblicke auf vergangene Ereignisse, die helfen konnten, das Grab zu lokalisieren. Doch dann gelang es Fenwick March und Christina Romero, die Stelle genauer einzugrenzen, und der ursprüngliche Grund für Jennifers Anwesenheit wurde weniger wichtig. Abgesehen davon hatte sich an diesem Punkt …» Rush zögerte. «Abgesehen davon hatte sich an diesem Punkt bereits alles geändert.»
«Du meinst, sie hatte tatsächlichen Kontakt mit einer Entität aus der Vergangenheit», sagte Logan.
Im ersten Augenblick antwortete Rush nicht. Dann nickte er unmerklich.
Logan lief ein Schauer über den Rücken. Selbst er fand es unglaublich aufregend – und zugleich schwer zu glauben. Mein Gott, kann es tatsächlich sein? «Weiß Stone schon davon?», fragte er.
Rush nickte erneut. «Selbstverständlich.»
«Was sagt er dazu?»
«Es ist, wie ich dir bereits sagte – er tut alles, versucht alles, um zu kriegen, was er will. Und Jen hat ihre paranormalen Fähigkeiten schon mehrfach auf so überzeugende Weise präsentiert, dass er ihr glaubt.» Rush starrte Logan an. «Was ist mit dir? Was denkst du?»
Logan atmete tief durch. «Ich glaube – nein, ich weiß – weil ich es selbst gespürt habe –, dass starke Persönlichkeiten, oder ihre Lebensenergien, wenn du so willst, noch sehr lange an einem Ort verweilen können, nachdem der physische Körper längst gestorben ist. Je stärker – je gewalttätiger – die Persönlichkeit und ihr Wille waren, desto länger verharrt die Entität – und ein begabter Verstand kann sie spüren.»
Rush strich sich mit den Fingern durch die Haare. Er sah Logan an, sah weg, sah ihn wieder an. Diese ganze Entwicklung hat ihn aufgewühlt, dachte Logan. Das ist ganz und gar nicht das, was er erwartet hat.
«Wer weiß sonst noch davon?», fragte er.
«March und Christina Romero natürlich. Ein oder zwei andere vielleicht … vielleicht aber auch nicht. Du kennst Stone inzwischen. Und wir bewegen uns nicht gerade auf bekanntem Territorium.»
«Was denkt deine Frau darüber?»
«Es gefällt ihr nicht. Es ist fremdartig und anders und … und furchteinflößend, glaube ich.»
«Warum macht ihr dann weiter? Wenn sie hergebracht wurde, um das Grab zu finden – und es in jedem Augenblick so weit ist –, warum bleibt ihr dann noch hier?»
«Es ist Porter Stones ausdrücklicher Wunsch», antwortete Rush fast noch leiser. «Aus zwei Gründen, denke ich. Erstens haben wir das Grab bis jetzt noch nicht gefunden, und bei seiner Hosenträger-und-Gürtel-Mentalität wird er eine potenzielle Hilfe nicht gehen lassen, bevor er nicht ganz sicher weiß, dass er sie nicht mehr braucht.» Er verstummte.
«Das war erst ein Grund», bemerkte Logan.
Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, bevor Rush endlich antwortete. «Ihre Mission hier wurde geändert, nachdem wir gewisse … gewisse Informationen erhalten hatten.»
«Informationen?»
Rush antwortete nicht. Es war nicht nötig.
«Du meinst den Fluch», sagte Logan. Jetzt redete auch er beinahe im Flüsterton. «Das heißt, dass Narmer – oder wer immer es ist – etwas durch Jennifer gesagt hat? Was?»
Rush schüttelte den Kopf. «Frag mich nicht, bitte. Ich möchte lieber nicht darüber reden.»
Logan überlegte kurz. Das Gefühl von Erregung, von Jenseitigkeit war nicht schwächer geworden, eher im Gegenteil. Also ist Stone ebenfalls verunsichert wegen des Fluchs, dachte er. Es war die einzige Erklärung für die Änderung von Jennifer Rushs Mission, die ihm einfallen wollte. Stone weiß nicht, was ihn erwartet, wenn er das Grab erreicht hat. Er möchte so gut wie möglich vorbereitet sein, um mit jeder Eventualität fertigzuwerden, und er nimmt jede Hilfe an, die er kriegen kann – selbst wenn sie aus dem Jenseits kommt.
«Würdest du mit ihr reden?», fragte Rush unvermittelt. «Bitte.»
Für einen Moment meinte Logan, sich verhört zu haben. «Wie bitte?»
«Würdest du mit Jen über all das reden? Über ihre, äh, Übergänge und ihre Empfindungen und Eindrücke?»
«Warum ausgerechnet ich?», fragte Logan. «Ich kenne sie kaum. Ich bin ihr nur einmal begegnet, und das auch nur kurz.»
«Ich weiß. Sie hat mir davon erzählt.» Rush zögerte. «Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich glaube, sie würde dir vertrauen und sich dir womöglich sogar öffnen. Vielleicht ist es deine ungewöhnliche Arbeit, vielleicht ist es auch nur etwas an deiner Art – du hast einen guten Eindruck hinterlassen.» Er zögerte erneut. «Soll ich dir etwas sagen, Jeremy? Jen redet niemals über ihre Nahtod-Erfahrung. Sie hat noch nie darüber gesprochen. Jeder andere hört überhaupt nicht mehr auf damit, allen zu erzählen, was er erlebt hat. Jennifer hingegen – sie schweigt. Nicht einmal für die statistischen Sitzungen im Center macht sie eine Ausnahme. Oh, wir reden über die neue Gabe, über die sie seither verfügt, wir messen und katalogisieren ihre Fähigkeiten – aber sie spricht nie über das Erlebnis selbst. Ich hatte überlegt, ob … na ja, ob du nicht vielleicht einen Weg findest, mit ihr darüber zu reden.»
«Ich weiß nicht», sagte Logan. «Ich kann es ja versuchen.»
«Ich wünschte wirklich, du würdest es tun. Ich möchte sie nicht noch länger damit bedrängen.» Rush zupfte an seinem Kragen. «Ich mache gute Miene zum bösen Spiel, aber Tatsache ist, ich mache mir Sorgen um sie. Ich kann nicht behaupten, dass es zwischen uns seit ihrem Unfall so glatt gelaufen wäre, wie ich mir das gewünscht hätte, aber ich habe versucht, ihr viel Freiraum zu lassen. Ich kann nur sagen … ich kann nur sagen, wir hatten einmal eine Beziehung, die so eng war, wie man sich das bei zwei Menschen nur vorstellen kann.» Er hielt inne. «Wir lieben uns immer noch sehr, natürlich, aber sie hat, äh, Probleme, so mit der Welt zu interagieren wie früher. Und seit wir hier vor Ort sind … manchmal wacht sie mitten in der Nacht auf, schweißgebadet und am ganzen Leib zitternd. Wenn ich sie frage, was los ist, tut sie es als Albtraum ab. Und jetzt, mit diesen Übergängen, auf denen Stone beharrt …» Er senkte den Blick.
«Ich tue gerne alles, was in meiner Macht steht, um zu helfen», sagte Logan.
Rush sah nicht auf. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hob er mit einem tiefen Seufzer den Kopf und begegnete Logans Blick. Er drückte ihm stumm die Hand und lächelte dankbar.