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Amanda Richards betrat das Labor für forensische Archäologie und schaltete mit einem Fingerschnippen die Deckenbeleuchtung ein. Für einen Moment stand sie im Eingang und betrachtete die Regale mit Instrumenten und Geräten, die sorgfältig geschrubbten Labortische und Arbeitsflächen. Dann trat sie zu einem Tisch in einer Ecke. Der Raum roch schwach nach Formaldehyd und anderen chemischen Konservierungsmitteln und – schaurigerweise – nach Schwefel.
Sie setzte sich, nahm einen Ordner unter dem Arm hervor, legte ihn vor sich auf den Tisch und schlug ihn auf. Für eine Weile studierte sie die Dokumente darin: Röntgenfluoreszenzanalyse, die unvermeidlichen CT-Aufnahmen, Radiographien sowie eine kurze zusammenfassende Stellungnahme von Christina Romero, alles zum gleichen Thema: die Mumie von König Narmer.
Sie klappte den Ordner wieder zu und saß für einen Moment still da, während sie im Geist eine Checkliste durchging. Dann erhob sie sich und begann, die benötigten Werkzeuge zusammenzusuchen: Skalpelle, Leinenzwirn in Archivqualität, Pinzetten, Zangen, Teflonnadeln, Glasfaser-Tabletts, Stücke von antiken Leinenbandagen, die zu stark verwittert oder zu sehr beschädigt waren, um einer forensischen Untersuchung würdig zu sein. Als sie alles beisammenhatte, ging sie damit zum Kühlfach an der Wand, packte den Handgriff und zog behutsam die mumifizierten Überreste von König Narmer hervor.
Das Kühlfach war ähnlich aufgebaut wie die Fächer im Lagerraum, wo Fenwick March den Tod gefunden hatte bei seinem Versuch, Narmers Mumie auszuplündern – mit einem Unterschied: Dieses Fach war mit einer Inert-Atmosphäre aus Stickstoff ausgestattet. Da March die Mumie so rücksichtslos beschädigt und die Bandagen aufgeschnitten sowie das Mikroklima darunter gestört hatte, musste jeder nur denkbare Versuch unternommen werden, um weitere Verwesung oder Zersetzung zu unterbinden. Genau das war der Grund für Richards’ Anwesenheit: So gut es ging die Schäden zu beheben, die March verursacht hatte, und die Mumie für den Transport zu Porter Stones Laborkomplex in der Nähe von London vorzubereiten, wo eine umfassendere und behutsamere Restauration möglich war.
Sie klappte das Stützbein unter der Lade heraus und justierte es. Dann streifte sie Latex-Handschuhe und eine chirurgische Maske über und machte sich an eine sorgfältige Untersuchung der Mumie. Bereits früher am Tag hatten Techniker die beiden Komponenten in den Bandagen der Mumie, die die antike Falle bildeten, unter einem chemischen Rauchabzug entfernt. Nichtsdestotrotz behandelte Richards die Mumie mit der allergrößten Vorsicht.
Sie notierte die Beschädigungen an den bandagierten Händen, am Kopf und – am ausgeprägtesten – im Bereich der Brust. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass Fenwick March – einer der berühmtesten Archäologen auf der Welt – so etwas getan haben sollte. Nicht nur, dass er die Mumie geplündert hatte, sondern auch die geradezu unprofessionelle und höchst primitive Art und Weise, wie er es getan hatte. Die tödliche Verlockung eines antiken Schatzes. March hatte diese Schätze sein ganzes Leben lang studiert, hatte sie gekannt wie kein Zweiter – doch der Fund Narmers war offensichtlich zu viel für ihn gewesen. Es war der Tropfen, der eine entscheidende Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Und offenbar dazu geführt hatte, dass bei March eine Sicherung durchgebrannt war.
Amanda schwenkte eine UV-Lampe über die Mumie. Es mochte gefühllos sein, so zu denken, doch ein Teil von ihr war erleichtert darüber, dass March aus dem Weg war. Für seine Untergebenen war er ein Tyrann gewesen, hatte sich in alles eingemischt und darauf bestanden, dass die Dinge auf seine Weise gemacht wurden und nicht anders, hatte sich aufgeplustert und schikaniert und lamentiert. Es war das zweite Mal gewesen, dass Amanda Richards mit March gearbeitet hatte, und diesmal hatte er sich noch viel schlimmer aufgeführt als beim ersten Mal. Vielleicht passte es ja doch zu seinem Charakter, dass er die Mumie ausgeplündert hatte. Sie zuckte die Schultern. Sie wusste nur eines mit Sicherheit: Wenn er es nicht getan hätte, dann hätte wahrscheinlich jemand anderes versucht, die Mumie zu plündern, und March hätte jetzt hinter ihr gestanden und ihr über die Schulter geblickt, finster dreingeblickt, jede ihrer Bewegungen kommentiert und ihr gesagt, was sie alles falsch machte.
So jedoch konnte sie unbehelligt im stillen forensischen Labor arbeiten.
Sie führte die UV-Lampe langsam über die Mumie. Überreste von Fett fluoreszierten unter dem Lichtschein in blassem Gold. Dunkle Flecken überall in den oberen Schichten der Bandagen, die March in seiner Gier nach Gold und Juwelen aufgerissen hatte, zeigten an, wo die Techniker das klebrige Glycerol mit einer inerten Komponente stabilisiert und damit wirkungslos gemacht hatten.
Amanda Richards schaltete die Lampe aus und schob sie beiseite. Die Brust der Mumie war der am schlimmsten zugerichtete Bereich, und hier würde sie mit ihren Restaurationsarbeiten anfangen.
Sie rollte eine starke chirurgische Lampe herbei, richtete den Lichtkegel auf die Brust der Mumie und untersuchte die Beschädigungen mit einer Juwelierslupe. March hatte die Bandagen mit einem Skalpell einfach durchtrennt und zahlreiche Schichten freigelegt wie geologische Strata. Der anepigraphische Skarabäus war entfernt worden, doch zahlreiche andere, kleinere Schätze und Kostbarkeiten lugten noch unter den Bandagen hervor: Perlen, Fayence-Amulette, goldene Anhänger und die übrigen Gegenstände, die den «magischen Schild» bildeten, der Narmer auf seiner Reise in die nächste Welt beschützen sollte.
Sie schüttelte den Kopf und gab einen leisen missbilligenden Laut von sich. March hatte die Bandagen auf Narmers Brust derart zerstückelt, dass sie noch mehr davon abwickeln musste, bevor sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen.
Mit Hilfe einer Pinzette zog sie vorsichtig die Ränder der Bandagen beiseite und legte die tieferen Schichten frei, zerzaust und zerfetzt durch die Explosion von Narmers Personenfalle. Sie legte die Pinzette beiseite, nahm ein Skalpell zur Hand und schnitt zuerst eine, dann eine zweite Bandage auf, befreite sie aus dem Gewirr und zog sie beiseite. Sie hasste es, das tun zu müssen, doch es gab keine andere Möglichkeit, die Beschädigungen zu reparieren. Amanda Richards packte das Skalpell fester und durchtrennte eine weitere Schicht. Jetzt war Narmers Haut freigelegt, bedeckt nur noch von einem dünnen Gewand und einem goldenen Brustpanzer, der sich etwas zur Seite verschoben hatte, wahrscheinlich aufgrund der chemischen Reaktion. Das war gar nicht gut – es bestand die Gefahr, dass er an den falschen Stellen auf den Körper drückte und den Leichnam womöglich noch stärker beschädigte. Sie musste den Panzer wieder mittig auf Narmers Brust platzieren. Anschließend konnte sie die Stücke mit dem Zwirn zusammennähen und an den Stellen, wo der ursprüngliche Verband zerstört oder verwittert war, den bereitliegenden antiken Stoff verwenden. Am Kopf und an den Händen würde die Arbeit um einiges schneller vonstattengehen, und in drei, spätestens vier Stunden würde die Mumie stabilisiert sein und bereit für den Abtransport nach England.
Sie legte das Skalpell nieder und tastete behutsam durch die Lagen von zerschnittenen Bandagen hindurch nach dem goldenen Brustpanzer. Das umgebende Gewebe war, wie sie zufrieden feststellte, angesichts seines unglaublichen Alters in ausgezeichnetem Zustand. Grau und ausgetrocknet und ohne jede Spur von Verflüssigung. Der Brustpanzer allerdings war schwierig zu justieren, und sie war gezwungen, mit vermehrter Kraft zu zerren. Schließlich bewegte er sich und löste sich mit einem trockenen Schmatzen von Narmers Körper.
Amanda Richards hob ihn behutsam an, um ihn zurechtzurücken, doch dann hielt sie abrupt inne, wie erstarrt vor Schreck und Entsetzen.
Nachdem der Brustpanzer aus seiner ursprünglichen Position entfernt war, lag Narmers Brust nackt und ungeschützt vor ihr. Und dort, im erbarmungslos kalten Fluoreszenzlicht des Labors, sah sie etwas, das faltig, verschrumpelt, vertrocknet und trotzdem unverkennbar eine weibliche Brust war.