16
Das Oasis war die einzige Bar der Station. Halb Kantine, halb Cocktaillounge befand sie sich in einer abgelegenen Ecke von Blau mit Ausblick auf die weite, trostlose Ödnis des Sudd. Und doch waren die Fenster zum Sumpf, wie Logan bei seinem Eintreten bemerkte, mit Bambusrollos verhängt, als wollte jemand die Tatsache verbergen, dass sie sich mitten im Nichts befanden.
Die Bar war dunkel, nur indirekt beleuchtet in blauviolettem Neon, und nahezu verlassen. Logan war nicht überrascht. In der Folge des Generatorunglücks war die Stimmung an Bord der Station eher bedrückt. Es gab keine Bridge-Spiele an diesem Abend, keine fröhlichen Unterhaltungen in der Messe. Die meisten Leute hatten sich in ihre Quartiere zurückgezogen, als wollten sie alleine verarbeiten, was geschehen war.
Logan empfand das genaue Gegenteil. Die überwältigende Präsenz von etwas abgrundtief Bösem, die er gespürt hatte, als der Generator in Flammen aufgegangen war, hatte ihn erschreckt und nervös gemacht. Sein leeres Labor, sein stilles Zimmer – das waren im Moment die letzten Orte, wo er sein wollte.
Er ging zur Theke und setzte sich auf einen Hocker. Aus unsichtbaren Lautsprechern spielte Charlie Parker. Der Barmann, ein junger Bursche mit kurzem schwarzem Haar und einem Sergeant-Pepper-Schnurrbart, kam zu ihm.
«Was darf’s sein?», erkundigte er sich und legte eine frische Cocktailserviette vor Logan.
«Haben Sie Lagavulin?»
Der Barmann lächelte und deutete auf eine beeindruckende Batterie von Single-Malt-Scotches vor dem großen Wandspiegel hinter sich.
«Großartig. Ich nehme einen, ohne alles.»
Der Barmann schenkte einen großzügigen Whiskey in ein Glas und stellte es auf die Serviette. Logan nahm einen Schluck, bewunderte das Gewicht des schweren, dickwandigen Glases und genoss den torfigen Geschmack des Scotch. Er nahm einen zweiten Schluck, während er darauf wartete, dass die Erinnerung an das Feuer und den Gestank von verbranntem Fleisch ein wenig schwächer wurde. Rogers hatte Verbrennungen dritten Grades erlitten, mehr als fünfundzwanzig Prozent seiner Körperoberfläche waren betroffen. Er war selbstverständlich sofort evakuiert worden, doch die nächste Verbrennungsklinik war Hunderte von Kilometern entfernt, und seine Aussichten auf Heilung waren nicht gut.
«Spendieren Sie mir einen Drink?»
Er hob den Kopf und sah, dass Christina Romero die Bar betreten hatte und nun im Begriff stand, neben ihm auf einem Hocker Platz zu nehmen.
«Wenn ich darf.»
«Ich bin eine andere Frau als die, die Sie vorhin rausgeworfen hat. Ich bin ein Upgrade. Christina Romero Version zwei Punkt null.»
Logan kicherte. «Okay, in diesem Fall – mit Vergnügen. Was möchten Sie?»
Sie wandte sich an den Barmann. «Einen Daiquiri, bitte.»
«Frozen Daiquiri?», fragte der Barmann.
Christina erschauerte. «Nein, nein. Geschüttelt, ohne Eis.»
«Alles klar.»
«Sollen wir uns an einen Tisch setzen?», fragte Logan. Christina Romero nickte, und er ging voraus an einen Tisch in der Nähe der Fenster.
«Ich möchte Ihnen etwas sagen», sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatten. «Es tut mir leid, dass ich so gemein war. Die Leute sagen immer, ich sei arrogant, aber normalerweise lasse ich das nicht so heraus wie vorhin in meinem Büro. Ich schätze, es liegt daran, dass Sie ziemlich berühmt sind und alles, und ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich beeindruckt war. Ich hab’s übertrieben, ziemlich heftig sogar.»
Logan winkte ab. «Vergessen wir’s einfach.»
«Ich will mich nicht herausreden. Es ist nur – der Stress, wissen Sie? Ich meine, niemand redet darüber, aber wir haben in den zwei Wochen seit Beginn der Grabung absolut nichts gefunden. Ich habe ein paar Riesen-Arschlöcher im Nacken sitzen. Und dann diese … diese merkwürdigen Zwischenfälle. Leute sehen Dinge, Apparate und Equipment fallen aus. Und jetzt das Feuer und was mit Rogers passiert ist …» Sie schüttelte den Kopf. «Nach einer Weile zerrt es an den Nerven, und nicht zu knapp. Trotzdem hätte ich es nicht an Ihnen auslassen dürfen.»
«Schon okay. Sie können ja den Deckel übernehmen.»
Sie lachte auf. «Die Getränke sind gratis.»
«Umso besser.» Sie saßen schweigend da und nippten an ihren Drinks.
«Wollten Sie schon immer Ägyptologin werden?», fragte Logan. «Ich wollte selbst auch mal einer werden, als Junge, nachdem ich Die Mumie gesehen hatte. Aber als ich feststellte, wie schwierig es war, Hieroglyphen zu lesen, verlor ich das Interesse.»
«Meine Großmutter war Archäologin – aber das haben Sie ja irgendwie schon gewusst. Sie hat bei allen möglichen Grabungen mitgearbeitet, überall von New Hampshire bis nach Ninive. Ich habe sie immer bewundert. Ich schätze, das ist ein Grund. Aber was mich wirklich fasziniert und nicht mehr losgelassen hat, das war Tutanchamun.»
Logan sah sie an. «Tutanchamun?»
«Jep. Ich bin in South Bend aufgewachsen. Als die Tutanchamun-Ausstellung in das Field Museum kam, fuhr meine ganze Familie nach Chicago, um sie zu sehen. O mein Gott. Meine Eltern mussten mich wegzerren. Ich meine, die Totenmaske, die goldenen Skarabäen, die Schatzhalle … ich war erst im vierten Schuljahr, und es verfolgte mich monatelang! Danach las ich jedes Buch über Ägypten und Archäologie, das ich in die Finger bekam. Götter, Gräber und Gelehrte, Carters und Carnarvons Fünf Jahre Forschung in Theben, was auch immer. Ich habe es nie bereut.»
Sie wurde lebhafter, während sie erzählte, bis ihre grünen Augen vor Begeisterung glitzerten. Sie war keine ausgesprochene Schönheit, doch sie hatte eine Ausstrahlung, eine innere Elektrizität und eine erfrischende Offenheit, die Logan anziehend fand.
Sie leerte ihr Glas mit einem mächtigen Schluck. «Sie sind dran.»
«Ich? Oh, ich fing in meinem ersten Studienjahr an der Dartmouth an, mich für Geschichte zu interessieren.»
«Weichen Sie nicht aus. Sie wissen genau, wovon ich rede.»
Logan lachte. Es war nichts, worüber er normalerweise redete. Auf der anderen Seite war sie zu ihm gekommen und hatte sich bei ihm entschuldigt. «Ich schätze, alles fing damit an, dass ich eine Nacht in einem verwunschenen Haus verbrachte.»
Sie signalisierte dem Barmann, einen neuen Drink zu bringen. «Sie nehmen mich nicht auf den Arm, oder?»
«Nein. Ich war zwölf. Meine Eltern waren über das Wochenende weggefahren, und mein älterer Bruder sollte auf mich aufpassen.» Logan schüttelte den Kopf. «Er hat auf mich aufgepasst, und wie. Er brachte mich dazu, die Nacht im alten Hackety House zu verbringen.»
«Das alte verwunschene Hackety House.»
«Ganz genau. Es hatte seit Jahren leer gestanden, doch die einheimischen Kinder behaupteten steif und fest, dass dort eine Hexe wohnte. Die Leute redeten über seltsame Lichter um Mitternacht und darüber, dass Hunde einen großen Bogen um das Grundstück machten. Mein Bruder wusste, wie stur ich war und dass ich keiner Herausforderung widerstehen konnte. Also nahm ich meinen Schlafsack und eine Taschenlampe und ein paar Taschenbücher, die mein Bruder mir geschenkt hatte, und trottete die Straße hinunter bis zu dem verlassenen Haus. Ich stieg durch ein offenes Fenster im Erdgeschoss ein.»
Er hielt inne, während er sich erinnerte. «Zuerst schien es eine Brise zu sein, mehr nicht. Ich hatte den Schlafsack im einstigen Wohnzimmer ausgelegt, aber dann wurde es dunkel. Und ich hörte Geräusche. Knarrende Dielen. Stöhnen. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich in den Büchern las, die mein Bruder mir gegeben hatte, aber es waren ausnahmslos Gespenstergeschichten – wie passend –, und ich legte sie beiseite. In diesem Moment hörte ich es.»
«Was?»
«Schritte. Schritte aus dem Keller, die die Treppe heraufkamen.»
Der Cocktail kam, und Christina Romero umklammerte ihn mit beiden Händen. «Erzählen Sie weiter.»
«Ich wollte weglaufen, doch ich war wie versteinert. Ich konnte nicht einmal mehr aufstehen. Ich schaffte es mit Mühe und Not, meine Taschenlampe einzuschalten, und das war alles. Ich hörte, wie sich die Schritte langsam durch die Küche bewegten. Und dann erschien eine Gestalt in der Tür.»
Er trank einen Schluck von seinem Scotch. «Ich werde diesen Anblick niemals vergessen. Was ich im Licht der Taschenlampe sah. Eine Krone, weißes, unbändiges Haar, das wild in alle Richtungen abstand, die Augen leere Höhlen. Ich dachte, mein Herz müsste jeden Moment explodieren. Sie setzte sich in Bewegung, kam auf mich zu. Und ich, ich fing an zu schreien. Ich hätte mir fast in die Hosen gemacht. Sie streckte eine verschrumpelte Hand nach mir aus, und ich wusste, ich würde sterben. Sie würde mich verhexen, und ich würde verschrumpeln und sterben, auf der Stelle.»
Er hielt inne.
«Und weiter?», drängte Christina Romero.
«Ich starb nicht. Sie nahm meine Hand und hielt sie in der ihren. Und plötzlich … begriff ich. Es ist schwierig zu erklären, aber mir wurde bewusst, dass sie keine Hexe war. Sie war nur eine alte Frau, einsam und verängstigt, die sich im Keller versteckte und von Leitungswasser und Konserven lebte. Es war, als könnte ich … als könnte ich ihre Angst vor der Welt da draußen spüren, ihre elende Existenz in dem kalten, dunklen Keller und ihren Schmerz darüber, dass sie alles und jeden verloren hatte, der ihr jemals etwas bedeutet hatte.»
Er leerte sein Glas. «Das war alles. Sie zog sich in die Dunkelheit zurück. Ich rollte meinen Schlafsack zusammen und ging nach Hause. Als meine Eltern nach Hause kamen, erzählte ich ihnen, was geschehen war. Mein Bruder bekam einen ganzen Monat Stubenarrest, und die Cops überprüften Hackety House. Die alte Frau war, wie sich herausstellte, Vera Hackety, eine geistig behinderte Frau, deren Familie sich stets um sie gekümmert hatte, bis ihr letzter lebender Angehöriger achtzehn Monate zuvor gestorben war. Seit diesem Zeitpunkt hatte sie allein im Keller gehaust.»
Er sah Christina Romero an. «Aber es passierte etwas Merkwürdiges. Etwas an dieser Begegnung hatte mich verändert. Ich entwickelte eine Faszination für Gespenster, verwunschene Häuser und verfluchte Schätze. Bigfoot, den Yeti, was man sich nur vorstellen kann. Und eines der Bücher – die Gespenstergeschichten, die mein Bruder mir so fürsorglich mitgegeben hatte, um mir noch mehr Angst zu machen –, stellte sich als ein Werk von E. und H. Heron heraus, Flaxman Low, Okkulter Psychologe. Es war eine Anthologie von Geschichten über einen Detektiv mit übernatürlicher Begabung.»
«Ein Detektiv mit übernatürlicher Begabung», wiederholte Christina Romero.
«Ganz recht. Eine Art Sherlock Holmes im Reich der Gespenster. Ich verschlang das Buch, und ich war noch nicht ganz fertig, als ich schon wusste, was ich für den Rest meines Lebens tun wollte. Wie Sie sich denken können, ist es normalerweise kein Vollzeitjob … deswegen die Professur an der Yale.»
«Aber wie haben Sie Ihre … Ihre Fähigkeiten entwickelt?», fragte Christina Romero. «Ich meine, es gibt schließlich keine Diplomkurse in Enigmatologie, oder?»
«Das nicht. Aber es gibt eine Menge Abhandlungen über das Thema. An dieser Stelle kommt es gelegen, wenn man sich in mittelalterlicher Geschichte auskennt.»
«Sie meinen so etwas wie den Malleus Maleficarum?»
«Den Hexenhammer, genau. Und noch sehr viele andere Bücher, zum Teil sehr viel älter und maßgeblicher.» Er zuckte die Schultern. «Im Übrigen ist es wie bei allem anderen auch – Probieren geht über Studieren.»
Der skeptische Ausdruck schlich sich zurück in Christina Romeros Gesicht. «Abhandlungen. Erzählen Sie mir nicht, Sie glauben an all diese Geschichten über Geister und Astrologie und den Stein der Weisen?»
«Das sind lediglich westeuropäische Beispiele, die Sie da erwähnen. Jede Kultur hat ihren eigenen Apparat an übernatürlichen Geschichten. Ich habe mehr oder weniger alle studiert, die irgendwie dokumentiert sind, und einige darüber hinaus. Ich habe die Elemente analysiert, die alle gemein haben.» Er hielt inne. «Was ich glaube, ist, dass es über die natürliche, sicht- und erfahrbare Welt hinaus elementare Kräfte gibt – einige gut, andere böse –, die stets als Gegenpol zu uns selbst existiert haben und existieren werden.»
«Wie beispielsweise ein Fluch über dem Grab einer Mumie», sagte Christina Romero. Sie deutete auf Logans Glas. «Wie viele davon hatten Sie schon, bevor ich gekommen bin?»
«Stellen Sie sich Atome vor oder dunkle Materie. Wir können sie nicht sehen, aber wir wissen, dass sie da sind. Warum kann es dann nicht auch Geistwesen geben – oder Kreaturen, denen wir einfach noch nicht begegnet sind? Oder, wenn wir schon dabei sind, Mächte, die zu zähmen wir bisher einfach noch nicht gelernt haben?»
Der skeptische Gesichtsausdruck von Christina Romero vertiefte sich.
Logan zögerte für einen Moment. Dann streckte er die Hand aus, nahm den Strohhalm aus Christina Romeros Daiquiri und legte ihn auf die weiße Tischdecke zwischen sich und sie. Er legte die Hände auf beide Seiten des Halms, die Handflächen nach unten, die Finger leicht gespreizt. Er atmete leicht ein und langsam wieder aus.
Zuerst geschah nichts. Dann erzitterte der Strohhalm leicht. Und dann, nach einem weiteren, heftigeren Erzittern, erhob er sich für eine Sekunde in die Luft, schwebte zitternd zwei Zentimeter über der Tischdecke, bevor er wieder zurückfiel, einmal herumrollte und schließlich wieder still lag, als wäre nichts geschehen.
«Guter Gott!», entfuhr es Christina Romero. Sie musterte den Strohhalm, dann richtete sie ihn behutsam auf, als könnte sie sich die Finger daran brechen. «Wie haben Sie das gemacht? Das war ein verdammt guter Zaubertrick!»
«Mit dem richtigen Training könnten Sie das vermutlich auch», erwiderte Logan. «Allerdings nicht, solange Sie glauben, es wäre ein Trick.»
Sie nahm den Halm und musterte ihn zweifelnd, dann legte sie ihn zurück auf den Tisch, bevor sie nachdenklich einen langen Schluck von ihrem Daiquiri nahm. «Noch eine letzte Frage», sagte sie. «In meinem Büro – alles, was Sie über mich gesagt haben, entspricht der Wahrheit. Bis hin zu der Tatsache, dass ich das jüngste Kind meiner Eltern bin. Woher wussten Sie so viel über mich?»
«Ich bin ein Empath», sagte Logan.
«Ein Empath? Was ist das?»
«Jemand mit der Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen zu absorbieren. Als ich Ihre Hand geschüttelt habe, empfing ich eine Reihe von sehr starken Erinnerungen, Ansichten, Gedanken, Sorgen, Wünschen – eine wahre Flut. Sie sind nicht selektiv – ich habe keinerlei Kontrolle über die Impressionen, die ich empfange. Ich weiß nur, sobald ich mit einer anderen Person in körperlichen Kontakt komme, empfange ich Eindrücke, manchmal mehr, manchmal weniger.»
«Empathie …», sagte die Ägyptologin. «Klingt in meinen Ohren genauso abgedreht und wirr wie Aromatherapie und Kristalle.»
Logan zuckte die Schultern. «Dann verraten Sie mir doch, woher ich das alles wusste.»
«Dafür habe ich keine Erklärung.» Sie sah ihn an. «Wie sind Sie zum Empath geworden?»
«Es ist vererbt. Es gibt einen biologischen und einen spirituellen Aspekt. Manchmal schläft es lebenslang in den Betroffenen, ohne jemals aufzuwachen. Häufig wird es durch eine traumatische Erfahrung geweckt. In meinem Fall, glaube ich, war es die Berührung von Vera Hackety.» Er spielte mit seinem leeren Glas. «Ich kann Ihnen nur eines mit Bestimmtheit sagen: Es hat sich als ganz entscheidend für meine Arbeit erwiesen.»
Sie lächelte. «Levitation, Gedankenlesen … Können Sie auch die Zukunft vorhersagen?»
Logan nickte. «Was halten Sie hiervon: Ich sage voraus, dass wir nichts mehr zu essen kriegen, wenn wir nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten in der Messe auftauchen.»
Christina warf einen Blick auf ihre Uhr. Dann lachte sie auf. «Das ist die Art von Hellsehen, die selbst ich verstehe. Gehen wir, Svengali.»
Als sie sich vom Tisch erhoben, nahm sie den Cocktail-Strohhalm und schob ihn in ihre Jeanstasche.