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Als Logan im Labor der Krankenabteilung eintraf, zog Ethan Rush soeben ein grünes Leichentuch über Robert Carmodys zerschmetterten Leichnam. Er richtete sich auf, drehte sich zu Logan um und schüttelte den Kopf.
«Ich habe noch nie einen so gründlich zerstörten Körper gesehen», sagte er.
«Sie haben die vorläufigen Untersuchungen abgeschlossen», sagte Logan. «Die goldenen Bolzen, die das Himmelbett zusammengehalten haben, wurden allem Anschein nach absichtlich gelockert.»
Rush runzelte die Stirn. «Gelockert? Du meinst, es war Sabotage?»
«Vielleicht. Oder vielleicht als Vorbereitung für einen Diebstahl. Sie bestehen immerhin aus massivem Gold, und jeder einzelne ist so groß wie ein Schienennagel.»
Rush schwieg einen Moment. «Wie ist die Stimmung draußen?», fragte er dann.
«Durchwachsen, wie zu erwarten. Schock. Trauer. Nervosität. Die Gerüchte von Narmers Fluch machen wieder die Runde.»
Rush nickte abwesend. Er sah blass aus und hatte dunkle Ringe um die Augen. Logan rief sich ins Gedächtnis, was der Arzt ihm im Flugzeug gesagt hatte. Ich hatte eine Ausbildung als Notarzt und Unfallspezialist, aber irgendwie konnte ich mich nicht an den Tod gewöhnen. Ich konnte mit natürlichen Todesursachen umgehen, kein Problem, mit Krebs und Lungenentzündung und Nierenversagen und allem. Aber plötzlicher, gewaltsamer Tod … Er fragte sich, ob es der richtige Moment war, um mit Rush zu reden. Aber wahrscheinlich gab es keinen passenden.
«Hast du kurz Zeit?», fragte er leise.
Rush sah ihn an. «Sicher. Lass mich nur das hier gerade fertig machen und ein paar Notizen niederschreiben. Du kannst in meinem Büro warten, wenn du magst.»
Zehn Minuten später kam Rush ins Büro. Er schien gefasster, und die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. «Tut mir leid, dass du warten musstest, Jeremy», sagte er, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. «Was gibt es denn?»
«Ich habe mit Jennifer gesprochen», sagte Logan.
Rush richtete sich auf. «Tatsächlich? Hat sie dir von ihrer Nahtod-Erfahrung erzählt?»
«Wir haben sie praktisch zusammen nacherlebt.»
Rush sah ihn verblüfft an. «Sie hat im CTS nie darüber reden wollen, keinerlei Einzelheiten. Es war ziemlich peinlich, angesichts meiner Position.»
«Ich denke, sie brauchte jemanden, der vollkommen objektiv zuhört», sagte Logan. «Jemanden, der Erfahrungen mit dem … mit dem Ungewöhnlichen hat.»
Rush nickte. «Und? Was kannst du mir erzählen?»
«Ich schätze, ich sollte ihre Erlaubnis einholen, bevor ich mit irgendjemandem darüber rede – auch mit dir. Ich kann dir so viel verraten – der erste Teil ihrer Erfahrungen stimmt mit dem überein, was allgemein bekannt ist. Doch der zweite Teil … war genau das Gegenteil.» Logan stockte. «Es war grauenhaft. Furchteinflößend. Kein Wunder, dass sie mit niemandem darüber reden will – geschweige denn, sich damit auseinandersetzen.»
«Furchteinflößend? Tatsächlich? Ich nahm an, dass es einen unangenehmen Aspekt gab angesichts ihrer Unwilligkeit, sich damit auseinanderzusetzen, doch ich hatte keine Ahnung …» Er brach ab und schwieg. «Arme Jen.»
Da ist noch etwas, dachte Logan. Ich kann nicht sagen, warum – aber Jennifers Beschreibung ihrer Nahtod-Erfahrung, das Grauen am Ende, es erinnert mich stark an König Narmers Fluch, dachte Logan, doch das sprach er nicht laut aus. Er konnte nicht einmal genau erklären, warum – es war ein Gefühl, das nicht verschwinden wollte, wie ein Korn zwischen den Zähnen. Und es änderte auch nichts, wenn er darüber redete. Aber vielleicht … vielleicht gab es einen anderen Weg zu helfen.
Er räusperte sich. «Ich empfehle dringend, Jennifer keine weiteren Sitzungen mehr zuzumuten. Sie werfen sie aus dem Gleichgewicht und verursachen möglicherweise bleibende seelische Schäden.»
«Das habe ich Stone gegenüber ebenfalls angedeutet», sagte Rush. «Er ist einverstanden, die Zahl der zukünftigen Sitzungen auf eine oder zwei weitere zu begrenzen. Er möchte, dass ich sie nach dem dritten Tor frage und dem, was dahinter liegt. Und was genau sie mit ihren Worten gemeint hat, ‹Das, was das Leben zu den Toten befördert … und den Tod zu den Lebenden.›»
«Ich halte das für eine ganz schlechte Idee», sagte Logan. «Und die beiden Sitzungen, die ich erlebt habe, haben keinerlei nützliche Erkenntnisse gebracht.»
«Um ehrlich zu sein, die letzte Sitzung schon. Christina Romero hat einige ihrer Äußerungen genauer untersucht – und sie glaubt, sie können ein neues Licht auf antike ägyptische Texte werfen.»
«Du hast mich gebeten, mit Jennifer zu reden, und ich gebe dir meine Empfehlung.» Logan nahm eine DVD-Hülle aus der Tasche, legte sie auf den Schreibtisch und deutete mit dem Finger darauf. «Hier sind die Daten von deinem Center, die du mir gegeben hast. Ich habe sie mir angesehen.»
«Und?»
«Und ich möchte, dass du mir eine Frage beantwortest – bitte antworte ehrlich. Hat sich Jennifer anders verhalten seit ihrer Nahtod-Erfahrung? Erscheint ihre Persönlichkeit auf irgendeine Weise verändert?»
Rush sah Logan an und schwieg.
«Ich bin kein Experte in diesen Dingen, aber basierend auf dem, was ich in diesen Dateien gelesen habe und was du mir bereits erzählt hast über die veränderte Beziehung zu deiner Frau sowie dem, was sie selbst gesagt hat, denke ich, dass nicht nur Jennifers Nahtod-Erfahrung ganz anders verlaufen ist als die anderer Personen, sondern ich nehme auch an, dass sie sich anders verhält als alle anderen Personen, die du in deinem Center studiert hast.»
Für einen langen Moment schwieg Rush. Dann stieß er einen schweren Seufzer aus. «Hör zu, ich wollte es mir selbst nicht eingestehen – aber du hast recht. Es hat sich mehr als nur unsere Beziehung verändert.»
«Kannst du die Veränderungen genauer schildern?»
«Sie sind sehr subtil. Manchmal denke ich, es liegt mehr an mir als an ihr, und dass ich Dinge sehe, die nicht da sind. Aber sie wirkt so … entrückt. Unbeteiligt. Sie war immer so warm und spontan. Heutzutage ist davon fast nichts mehr übrig.»
«Was nicht unbedingt etwas mit ihrer Nahtod-Erfahrung zu tun haben muss», warf Logan ein. «Es könnten auch die äußeren Anzeichen einer Depression sein.»
«Jennifer hatte noch nie einen Hang zur Depression. Und es ist auch nicht nur das. Sie …» Rush zögerte. «Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Sie scheint weniger moralisch zu sein als früher. Ein dummes Beispiel: Sie hat sich immer gerne rührselige Filme angesehen. Ein klein wenig Melodrama, und sie hat geweint wie ein Baby. Damit ist es vorbei. An einem der ersten Abende hier auf der Station gab es in der Messe auf der Leinwand Dark Victory – Opfer einer großen Liebe. Selbst einige der härtesten Arbeiter konnten am Ende die Tränen nicht zurückhalten. Doch Jennifer sah den ganzen Film von vorne bis hinten mit ungerührter Miene an. Es war, als würden die Emotionen … nun ja, als wären sie nicht mehr da. Als prallte alles von ihr ab.»
Als Logan antwortete, tat er dies langsam und sehr nachdenklich. «Wusstest du, Ethan, dass es Kulturen auf unserer Welt gibt, die glauben, dass eine Person – unter den richtigen Umständen – von ihrem inneren Geist getrennt werden kann?»
«Inneren Geist?», fragte Rush.
«Ich meine die nicht greifbare Lebenskraft, die uns mit dieser Welt und der nächsten verbindet. Die Byzantiner, die Inka, gewisse amerikanische Indianerstämme, Rosenkreuzer aus der Zeit der Aufklärung – sie alle hatten die verschiedensten Glaubensansätze diesbezüglich. Und es gibt noch viele, viele andere.»
Rush sah ihn schweigend an.
«Gegen Ende ihrer Nahtod-Erfahrung spürte Jennifer einen furchtbaren Sog. Es fühlte sich an, ich versuche es mit ihren eigenen Worten zu beschreiben, ‹wie ein Sog tief in ihr selbst, als würde ihre Seele aus ihr herausgesaugt …›»
«Was genau willst du damit sagen?»
«Ich will gar nichts sagen, Ethan. Ich spekuliere nur. Wäre es möglich, dass deine Frau so lange klinisch tot war, dass sie … nun ja, dass sie einen integralen Teil ihres menschlichen Geistes verloren hat?»
Rush lachte auf. «Ihres Geistes? Jeremy, das ist verrückt.»
«Tatsächlich? Ich habe jedenfalls vor, der Sache weiter nachzugehen. Man könnte argumentieren, dass ein solches Phänomen die Notwendigkeit eines der Rituale der katholischen Kirche erklärt.»
«Ach? Und welches Ritual wäre das?»
«Der Exorzismus.»
Plötzlich herrschte eisige Stille in Rushs Büro.
«Was … was willst du damit sagen?», fragte Rush nach einer Minute. «Dass Narmer nicht nur durch Jennifer spricht? Dass er bei diesen Übergängen Besitz von ihr ergreift?»
«Ich weiß nicht, was während dieser Übergänge passiert, Ethan», erwiderte Logan. «Ich glaube nicht, dass irgendjemand das wissen kann. Ich weiß nur, dass es gefährlich sein könnte.»
Rush stieß einen lauten Seufzer aus. «Nur ein einziger letzter Übergang, okay? Um nach dem dritten Tor zu fragen. Danach werde ich mich weigern, weitere Übergänge zu genehmigen.»